Man lebt nur zweimal – In Alessandro Aronadios Thriller „One life, maybe two“ im Berlinale Panorama

In jener Nacht fährt Matteo einen Zivilstreifenwagen an. Niemand ist verletzt. Bis die Zivilbeamten aussteigen und die beiden jungen Männer zusammenschlagen. Von nun an wächst der Hass in Matteo und der undurchsichtige Diskothekenbetreiber Ivan, den er auf der Wache kennen lernt, spürt diesen Hass. Dieser Zorn ist, was er von Matteo will und außerdem Matteo mit dessen neuer Freundin Sonia entzweien. Matteo ignoriert Ivans zwielichtiges Verhaltens. Der junge Mann wartet auf ein Ereignis, irgendetwas – und er findet es. Wäre der Unfall nicht passiert, wäre Matteos Bewerbung bei den Carabinieri angenommen worden. Stärker als seine Ablehnung der aggressiven Ausbildung wäre Matteos Faszination von der Gewalt gewesen. Seiner neuen Freundin Laetizia wäre ihm immer fremder geworden, während er wartet, das etwas geschieht. Alles wäre anders gewesen – vielleicht.

Schmetterlingseffekt nannte 1963 der Meterologen Edward N. Lorenz die Auswirkung, welche minimale Veränderungen auf komplexe, dynamische Systeme haben können. Doch in „One life, maybe two“ gibt es keine Schmetterlinge, nicht einmal in der Gärtnerei, in welcher Matteo arbeitet. Ein Fliege schwirrt in de Anfangsszene vor der Windschutzscheibe des Autos, mit welchem Matteo und Sandro fahren. „One life, maybe two“ ersetzt den Schmetterling als christliches Symbol der Auferstehung durch die Verwesung und den Teufel verkörpernde Fliege. Es gibt keine zweite Chance, nur eine weitere verlorenen Erste. Jenen unsichtbaren Zwang lässt Aronadios Filmtitel vorausahnen. „One life, maybe two“ – zwei Leben vielleicht. In ominöses rotes Licht sind die Szenen des ersten Handlungsstrangs getaucht. Immer brennender strahlt es, wird intensiver wie Matteos schwellende Wut. Der in eine rote Jacke gekleidete Ivan bietet Matteo eine Ventil für dessen Aggressionen, indem er sie zu seinem eigenen Vorteil zu kanalisieren versucht. Ivans Handeln spiegelt die Instrumentalisierung der Aggressionen der Polizeikadetten während ihrer Ausbildung. Der Rechtsstaat zieht zur sozialen Machtsicherung in großem Rahmen auf, was der kleine Gauner Ivan zu seiner Machtsicherung im Milieu der Halbkriminellen plant. Kalte Blautöne signalisieren in der Parallelhandlung Matteos zunehmende Gefühlskälte. Aronadio verkehrt das Gesetz des Thrillers, das Schicksal lasse sich nicht betrügen, in sein Gegenteil. Keine überirdische Macht treibt Matteo dem Abgrund entgegen, sondern seine eigene Orientierungslosigkeit führt ihn dort hin.

„One life, maybe two“ ist eine düstere Parabel auf Fatalismus und Passivität. Unterbewusst sucht Matteo nach jemandem, der ihn manipuliert. Er ist der geborenen Mitläufer. Welcher Seite er dabei folgt, spielt keine Rolle. Den „obskuren Genuss de Masse“ nennt er seinen blinde Folgsamkeit. Unter den verschiedenen Antlitzen jener Maske lauert in jedem der Leben das gleiche Gesicht. „Wir bewegen uns alle gleich, wir sehen alle gleich aus.“, beschreibt Matteo seine Erfahrungen in der Polizeiausbildung:“Meistens fühlt sich das unangenehm an. Aber manchmal macht es mich enthusiastisch.“ Aronadio vertraut seinem hintergründigen psychologischen Subplot nicht. Er will auch einen politischen Bezug auf die Gewaltverbrechen bei Massenveranstaltungen, welche Italien in den vergangenen Jahre erschütterten. Die zusätzliche Symbolik überfrachtet den Thriller. „One life, maybe two“ verliert an Eindringlichkeit, statt zu daran gewinnen. Im Zwiespalt von zu viel und zu wenig Material setzt Aronadio seinen Titel cineastisch um: „One life, maybe two“ – ein Film. Vielleicht auch zwei.

Titel: One life, maybe two

Berlinale Panorama

Land/ Jahr: Spanien 2010

Genre: Thriller

Regie: Alessandro Aronadio

Drehbuch: Alessandro Aronadio

Darsteller: Lorenzo Balducci, Isabella Ragonese, Ivan Franek, Riccardo Cicogna

Laufzeit: 88 Minuten

Bewertung: ***

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