Krimiwelt aktuell – Die Bestenliste von Welt, Arte und NordwestRadio für Dezember 2010

Daß allein das Stichwort „Russisch“ sowohl kriminelle Energie wie auch überströmende Herzlichkeit und Körperlichkeit bedeutet – nein, der Gefahr, daraus ein Rührstück und oberflächliche Völkerpsychologie zu machen, was diesen Dima angeht, entgeht le Carré absolut – ein siebtes Fazit! Daß uns aber diese so dickliche wie elegante Person berührt in seinen Freundschaftsausbrüchen und dieser besonderen Männerfreundschaft zwischen ihm und Perry – „Kein Schwuchteltennis!“ – das soll ja gerade so sein. Von daher hält dieser Roman genau das, was er verspricht!“ Damit stimmt die gesamte Frankfurter Redaktion des Weltexpress überein, wo der dicke, dunkelgold eingefärbte Band derzeit die Runde macht.

Die letztmonatlich plazierte Nummer 1 „Tage der Toten“ von Don Winslow aus dem Suhrkamp Verlag rutschte um einen Platz nach unten und David Peace hielt mit „Tokio, besetzte Stadt“, im Verlag Liebeskind erschienen, seinen dritten Rang. Das liegt daran, daß der im November Zweitplazierte Zoran Drvenkar mit „Du“ aus dem Ullstein Verlag auf den 5. Rang rutschte. Das können wir angesichts dieses fulminanten Reißers, der immer äußerst psychologisch stimmig den Schrecken auch noch einsehbar macht, zwar nicht verstehen, finden es aber angesichts der Erstplazierung von John le Carré auf Platz 1 nicht so schlimm, wenngleich das von den Verlagen her gedacht ist und nicht vom Autor. Zoran Drvenkar ist Spitze und im übrigen ist ein fünfter Platz in der KrimiBestenliste für die allerallermeisten mehr, als sie je erreichen können.

Kommt also í…ke Edwardson mit „Der letzte Winter“ aus, ja wie, ja was, schon wieder dem Ullstein Verlag. Spricht ja nicht gegen ihn, sondern für ihn, wenn so viele gute Kriminalautoren diesen Verlag bevorzugen. Der Schwede Edwardson ist auch kein Unbekannter, wahrlich nicht. Sein Erik Winter macht Göteborg sicherer. Und das jetzt schon zum zehnten Mal, wobei man sich an „Toter Mann“ noch gut erinnern kann, schon des Titelbildes wegen, wo gerne Bildvorlagen alter Meister verwendet werden. Diesmal ist dem Titel „Der letzte Winter“ angemessen eine atmosphärisch dichte und gleichzeitig unscharfe Aufnahme eines Mannes mit Hut beigegeben, von hinten auf eine Schloß – und oder Kirchenanlage blickend und einen aufstrebender Vogel wie eine Taube der Hoffnung auf der Linken.

Hoffnung brauchen sie auch, die sich im Alptraum wähnen, weil Böses geschieht und Erklärungen weit weg sind. Zuerst entdeckt Erik Winters Tochter bei dem Familienausflug am Meer einen Toten. In Göteborg sind gleich zwei Frauen umgebracht worden. Was das miteinander zu tun hat? Angeblich nichts. Aber die junge Polizistin Gerda Hoffner sieht einen Zusammenhang, den ihr Erik Winter abnimmt, weshalb beide nun das Geschehen weiterverfolgen, damit nichts mehr geschieht, was Mord sein kann. Aber als sie einen Schuldigen erwischt, sagt der: „Ich habe ni”¦nichts getan“, worauf es im Text weitergeht: „Niemand hat jemals etwas getan, dachte Gerda Hoffner und ließ den Blick über das Bett, die Nachttische und die Wände gleiten. Sie werden auf frischer Tat ertappt, aber sie haben nie etwas getan. Es war immer ein anderer, selbst wenn es keinen anderen gab”¦“

Auch darum liest man diesen schwedischen Autor gerne, weil seine Figuren Sachen vor sich hindenken, die das Tagesgeschehen kommentieren und eine leicht philosophische Note ins Geschäft bringen, die die Sparte „Leben und Tod“ doch sowieso hat, geht es doch um die Letzten Dinge, wo sich die Frage nach dem Wieesweitergeht genauso stellt, wie die, von wo aus man eigentlich sein Leben begonnen hatte. Das Woher und das Wohin sind existentielle Fragen, die Mord und Todschlag auf den Plan rufen, die aber angesichts einer durch immer mehr Technik und DNA-Analysen etc. auf den Plan gerufenen Verwissenschaftlichung des Genres Kriminalroman oft verloren gehen. Im „Der letzte Winter „ nicht.

Noch nicht gelesen haben wir von Solange Fasquelle „Trio infernal“ aus dem Liebeskind Verlag und direkt auf Platz 6. Das ist ein Roman aus dem Französischen, der als gleichnamiger Film bekannt wurde, in dem Michel Piccoli und Romy Schneider 1974 aufeinander trafen. Er basiert auf der Wirklichkeit, die nach dem Ersten Weltkrieg in Marseille spielt. Auch „Kahlschlag“ von Joe R. Lansdale, vom neuen Golkonda Verlag herausgegeben, auf Platz 8 ist uns noch unbekannt. Wir wissen nur, daß der Autor dort schon mehrere Bücher veröffentlicht hat und werden uns ein Bild machen. Auch Hakan Nesser, der bei btb „Die Perspektive des Gärtners“ veröffentlicht hat, kommt das nächste Mal dran.

Das ist aber eine gute Gelegenheit, auf den Nachklapp von Hakan Nesser zu verweisen, den er „Kim Novak badete nie im See von Genezareth“ Jahre später, also gerade jetzt, hinterherschickte: „Die Wahrheit über Kim Novak und den Mord an Berra Albertsson“, beide bei btb erschienen. Wer war denn der Täter? Das ist die Ausgangsfrage, die sich immer dann stellt, wenn man mehr als einen hat, der die Tat gesteht, oder für dessen Täterschaft sich Gründe finden lassen. Es ist ein intellektueller Spaß, den Nesser auf seinen erfolgreichen Krimi draufsetzt und in dem es neben den eigenwilligen Menschen immer auch um schwedisches Grün und schwedische Gewässer geht, die mal lieblich im Sonnenlicht, mal bedrohlich im Nebel erscheinen. Demnächst mehr also.

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1

1

(-)

John le Carré: Verräter wie wir

Aus dem Englischen von Sabine Roth

Ullstein, geb., 416 S., 24,95 €

Antigua/London/Paris/Schweiz: Warum sollten Perry und Freundin Gail dem von Feinden umstellten russischen Bankier Dima nicht unter die Arme greifen? Le Carré als Altmeister der Verführung: tragische Verstrickungskomödie um zornige Geheimdienstler, Romantiker jeden Alters und Finanzkrisen-Amoral. Superb!

2

2

(1)

Don Winslow: Tage der Toten

Aus dem Amerikanischen von Chris Hirte

Suhrkamp, PB, 689 S., 14,95 €

USA/Mexiko/Mittelamerika: Dreißig Jahre Drogenkrieg, Antikommunismus, Mord, Folter, Armut und imperiale Gewalt. Don Winslows Epos um US-Drogenfahnder Art Keller und seine keineswegs private Fehde mit den Barreras aus Guadalajara ist das „Krieg und Frieden“ unserer Tage. Epochal, grandios, erschütternd.

3

3

(3)

David Peace: Tokio, besetzte Stadt

Aus dem Englischen von Peter Torberg

Liebeskind, geb., 352 S., 22,00 €

Tokio 1948: Als Amtsarzt, vorgeblich im Auftrag der US-Besatzungsbehörden, impft er die Angestellten einer Bank: von 16 Vergifteten überleben 4. Nach Polizeifolter geständig verurteilt: Aquarellmaler Hirasawa. Peace auf neuem Weg: 12 Zeugen, 12 Wahrheiten über Kriegs- und Nachkriegsverbrechen, Biologische Waffen, Besatzung. Meisterhaft.

4

4

(-)

í…ke Edwardson: Der letzte Winter

Aus dem Schwedischen von Angelika Kutsch

Ullstein, geb., 512 S., 19,95 €

Göteborg/Nueva Andalucia: Ein toter Mann treibt an Kommissar Winters Strand, Männer wachen neben Leichen auf. Albträume, Mysterien. Winter und seine Leute: irritiert, versponnen, verstört, fixiert. Verweise führen in die Vergangenheit, Erklärungen erklären nichts. Sehr stark. Edwardson auf der Höhe seiner Kunst.

5

5

(2)

Zoran Drvenkar: DU

Ullstein, geb., 576 S., 19,95 €

Berlin/Norwegen: Du. So wird jeder im Roman angeredet: der Serienkiller, der Gangster, die fünf sechzehnjährigen Mädchen, die im Haus eines ihrer Väter auf ein Drogenreservoir stoßen, und der tote Vater selbst. So angesprochen, haben sie Teil am blutig-schrillen Kosmos des Erzählers. Très noir.

6

6

(-)

Solange Fasquelle: Trio infernal

Aus dem Französischen von Irène Kuhn und Ralf Stamm

Lilienfeld, geb., 192 S., 19,90 €

Marseille: Der 1.Weltkrieg ist vorbei. Anwalt Sarret und die deutschen Schwestern Schmidt beherrschen die Methode, Leichen in Geld zu verwandeln: Mord & Versicherungsbetrug. Fasquelles Tatsachenroman wurde 1974 mit Michel Piccoli und Romy Schneider verfilmt. Historisches Semifreddo, mit spitzem Finger serviert.

7

7

(9)

Oliver Bottini: Das verborgene Netz

Scherz, geb., 320 S., 14,95 €

Freiburg/Berlin: Nach dem Entzug darf Louise Boní¬ wieder arbeiten. Ein Routinefall im Halbdunkel eines Berliner Hotelflurs: Mann zusammengeschlagen, der Frau bedrohte. Im 5. Fall Boní¬s geht es um Licht und saubere Energie, die Allgegenwart der Spione und gierige Frauen. Leise Paranoia-Induktion.

8

8

(-)

Joe R. Lansdale: Kahlschlag

Aus dem Englischen von Katrin Mrugalla

Golkonda, PB, 368 S., 16,90 €

Ost-Texas: Mitten in der Großen Depression. Sunset erschießt ihren Mann. Sie will sich nicht mehr verprügeln lassen. Umsturz im Hinterwäldlerkaff Camp Rapture: Eine Frau als Constable, Nigger werden vom Gesetz geschützt, Männer gleichgestellt. Windungsreich, blutig, optimistisch, wüst. Ein Meisterwerk.

9

9

(-)

Hí¥kan Nesser: Die Perspektive des Gärtners

Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt

btb, geb., 320 S., 19,99 €

New York: Schriftsteller Erik und Winnie, Malerin, stecken im existenziellen Loch. Vor 17 Monaten wurde ihre 4jährige Tochter entführt. Danach: Nichts. Plötzlich glaubt Winnie, Sarah lebe noch. Und verschwindet auch. Erik zweifelt an allem: Frau, sich, Sinn. Nessers Roman der Neuen Welt: Es ist – ohne Zweifel – die alte.

10

10

(5)

Heinrich Steinfest: Batmans Schönheit

Piper, TB, 272 S., 8,95 €

Wien: Krimi und literarische Engelserscheinung, Apotheose eines Krebses namens Batman und – vorläufig – letzter Fall des einarmigen chinesischen Detektivs Cheng aus Wien. Cheng rettet Red. Und Red rettet ein Kind, heißt eigentlich Ernest Hemingway und ist ein sanfter Mann. Kryptosurrealistisches Mentaltraining.

Die „Bestenliste“ wird im Hörfunk immer am letzten Wochenende des Monats: Samstag, 27. November 2010 gegen 8.40 Uhr live; Sonntag, 28. November, 15.05 – 16.00 Uhr in der „Literaturzeit“ des NordwestRadio vorgestellt sowie in der Literarischen Welt am 28. November 2010. Das Beste vom Besten: Immerhin erscheinen übers Jahr verteilt über 800 Kriminalromane auf Deutsch. An jedem letzten Samstag im Monat geben Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Sie halten nach dem literarisch interessanten, thematisch ausgefallenen, besonderen Kriminalroman Ausschau. Die besten Zehn werden mit Bibliographie und Kurzbeschreibung hier veröffentlicht.

Die Jury hat sich verändert und setzt sich zusammen aus:

Tobias Gohlis, Hamburg, Kolumnist DIE ZEIT, Moderator und Jury-Sprecher der KrimiWelt Volker
Albers, Hamburg, Hamburger Abendblatt, Herausgeber „Schwarze Hefte“
Andreas Ammer, Berg, „Druckfrisch“, Dlf, BR
Sven Boedecker, Zürich, Sonntagszeitung
Fritz Göttler, München, Süddeutsche Zeitung
Michaela Grom, Heidelberg, SWR
Lore Kleinert, Bremen, Radio Bremen
Thomas Klingenmaier, Stuttgart, Stuttgarter Zeitung
Ekkehard Knörer, Berlin, Perlentaucher, Crime Corner
Kolja Mensing, Berlin, Tagesspiegel
Ulrich Noller, Köln, Deutsche Welle, WDR
Jan Christian Schmidt, Berlin, Kaliber 38
Margarete v. Schwarzkopf, Köln, NDR
Ingeborg Sperl, Wien, Der Standard
Sylvia Staude, Frankfurt/M., Frankfurter Rundschau

Jochen Vogt, Literaturwissenschaftler
Hendrik Werner, Bremen, DIE WELT
Thomas Wörtche, Berlin, Kolumnist Freitag, Plärrer

In der Jury der KrimiWelt-Bestenliste hat es einige Veränderungen gegeben: Kathrin Fischer und Jochen Schmidt sind ausgeschieden. Neu hinzugekommen ist Jochen Vogt, einer der wenigen akademischen Literaturwissenschaftler, der den Kriminalroman schon vor Jahrzehnten erforscht hat.

Alle weiteren plazierten Krimis entnehmen Sie bitte den Krimi-Besprechungen in den vormonatlichen Artikeln, die Sie unter Kultur. Bücher oder unter dem Autorennamen im Archiv finden. Dreimal darf ein Buch einen Platz bekommen, dann scheidet es aus und hat nur noch die Chance, in der Jahresbestenliste wieder aufzutauchen, die diesmal Ende Januar herauskommt.

Unter www.arte.tv/krimiwelt finden Sie die Bestenliste mit Kurzrezensionen der Juroren, Kommentaren des Jurysprechers („What’s New?“) und weiteren Informationen zu Büchern und Autoren („Krimiautoren A-Z“). 

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