Knastmauke

„Knastmauke“ meint die Schäden, die nachwirken. Sibylle Plogstedt hat diese Folgen untersucht. „Von den Häftlingen, die ich interviewt habe, waren unglaublich viele suizidgefährdet, haben sehr viele auch Tabletten genommen gegen Suizid, also Psychopharmaka. Und es hatten auch einige Suizidversuche gemacht, und da wussten zum Teil nicht mal die Verwandten, dass es die gegeben hatte. Einer der Häftlinge hat auf dem Turm in Jena gestanden und wurde dort runtergeholt. Also sehr auffällig und sehr sichtbar. Er wurde gerettet, aber es ist nie klar, wann er es wieder tut. Und das ist das Drama und der Druck, unter dem die dann weiterhin stehen. Das zeigt sehr deutlich, wie lange das wirkt.“

Sibylle Plogstedt erlebte selbst von 1969 bis 1971 politische Haft wegen Unterstützung einer Vorläuferorganisation der Charta 77. Sie war 1976 Begründerin und Mitherausgeberin der Berliner Frauenzeitung „Courage“ und ab 1986 Redakteurin des „Vorwärts“ in Bonn. Heute arbeitet sie als freie Filmemacherin, Autorin und Soziologin. In Knastmauke, dieser immens fleißigen und umfangreichen Recherche, ist Plogstedt der Frage nachgegangen, was aus den etwa 200.000 politischen Gefangenen der DDR geworden ist. Dafür hat sie nicht nur 800 Frauen und Männer per Fragebogen interviewt, sondern mit 25 Betroffenen intensive Gespräche geführt. Viele der ehemalig Mutigen und Aufmüpfigen leben heute in Armut, beherrscht von Angst. In der DDR haben sie Berufsverbot, Haft und psychische Folter in Kauf genommen. Gegenwärtig muss fast die Hälfte von ihnen mit weniger als 1.000 Euro im Monat auskommen, Frauen sogar mit noch weniger. Etwa 13 Prozent der politischen Häftlinge beziehen Hartz IV. Obendrein sind sie belastet durch psychische Traumata bis hin zu Suizidversuchen. Das Klingeln an der Wohnungstür kann ebensolche Angstzustände auslösen, wie ein Wackeln der Gardine im Haus gegenüber, eine verschlossene Tür oder ein Fußgängertunnel”¦

Dieses Buch wirft einen breiten, überregionalen Blick auf die gesundheitliche, soziale und finanzielle Situation der politisch Verfolgten, mit bedrückenden Ergebnissen; Sibylle Plogstedt: „Die finanzielle Situation war eigentlich das Dramatischste. Dass ein großer Teil dieser Häftlinge von Hartz IV lebt. Ein Beispiel ist für mich da eine junge Frau, die damals unbedingt zu einem Konzert der Rolling Stones in die Waldbühne wollte. Die ist unter dem Stacheldraht durch gerobbt, hat sich völlig blutig gemacht, war bei diesem Konzert. Und dann hat sie Heimweh gepackt und sie ist wieder zurückgegangen in die DDR und daraufhin ist sie verurteilt worden wegen zweifachen gewaltsamen Grenzdurchbruchs. Also diese Frau hat dann gearbeitet als Toilettenfrau ganz lange. Dann kam irgendwann Hartz IV. Es sind Bedingungen, wo man sagen kann: Das ist unwürdig.“

Unwürdig sind vor allem die Haftbedingungen, die ein Leben lang nachwirken. Miterlebte Suizide, Folter physischer und psychischer Natur, Ohnmacht und Willkür. Neben wissenschaftlichen Untersuchungen und ihren Auswertungen kommen in diesem Buch auch die ehemaligen Häftlinge und ihre Angehörigen selbst zu Wort, die Traumata durchziehen ganze Familien und Generationen. Auch die Schwierigkeiten der Rehabilitation, der Aufarbeitung und Begutachtung des erlittenen Unrechts finden breite Erwähnung und Analysen.

Diese Publikation avanciert zum Standardwerk zur politischen Haft in der DDR, ihren Spätfolgen, des Umgangs mit Haftgeschädigten auf gesetzlicher und historischer Ebene sowie zur soziologisch-psychologischen Verankerung jenes schmerzhaften Kapitels jüngster Zeitgeschichte. Dank an Autorin und Verlag für diese Fleißarbeit und den Mut zur Kritik!

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Sibylle Plogstedt, Knastmauke, Das Schicksal von poltischen Häftlingen der DDR nach der deutschen Wiedervereinigung, 472 S., Psychosozial-Verlag, Gießen 2010, 32,90 €

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