Kindesmißbrauch schon bei den griechischen Göttern, aber wie! – Die selten gespielte Oper „Daphne“ von Richard Strauss in einer verstörend tollen Inszenierung an der Oper Frankfurt

Corinna Schnabel (Die alte Daphne) und

Wie sehr die Gegenwart und die öffentlichen Diskussionen um Päderastie, die wir lieber Kinderschändung nennen, mit den antiken Stoffen einhergehen, ist angesichts der Knabenliebe als pädagogischer Eros der griechischen Erziehung – es ging immer nur um Knaben und Männer – Ausgangssituation und eigens zu betonen fast banal, so sehr ist dies bekannt und Thema. Daß es nun allerdings auch den griechischen Göttern in der Oper an den Kragen geht, ist längst überfällig, denn in der Bildenden Kunst ist der alle liebende und alle schändende Zeus in seinem – unseren Vorstellungen nach verwerflichen – Tun sehr häufig abgebildete worden, ob er sich gerade den Ganymed schnappt, oder sich bei seinen Identitätswechseln oder Verkleidungen in einen Stier, den Ehemann, Goldregen oder sonst was verwandelt. Immer ist bei göttlicher Sexualität Lug, Betrug, wenn nicht gleich nackte Vergewaltigung dabei.

Richard Strauss, besser sein Textdichter Joseph Gregor, nehmen nicht den herkömmlichen Stoff von Ovid, demnach sich die vor dem verliebten Apoll fliehende Daphne mit Hilfe ihres Vaters und der Erdmutter Gaia in einen Lorbeerbaum verwandelt und so als Natur vor dem phallischen Mann im Gott geschützt wird. Strauss und Gregor entwickeln die Figur der Daphne aus ihrer Naturliebe einerseits und der (noch?)asexuellen Haltung eines jungen Mädchens, die ihre schlechten Erfahrungen macht mit den Männern, sei es, daß diese persönlich verliebt sind wie Apoll und der Kindheitsgespiele Leukippos, sei es daß diese mit Masken angetanen Hurenböcke sie – vom eigenen Vater angestachelt – zum sexuellen Opfer machen, also mehrfach vergewaltigen wollen bei den Dionysosfeiern, hier dem orgiastischen „Fest der blühenden Rebe“. Und das alles bei berückender Musik, in der man auch Straussens „Letzte Lieder“ in ihrem Sphärenklang immer mithört, für eine Sopranstimme eine echte Tortur und kaum textverständlich, wenn sie nicht so natürlich gesungen würde, wie Maria Bengtsson das kann, und mit deutschen Übertiteln gestützt jedes Wort hörbar wird.

Da man die Oper selten auf der Bühne sehen kann, stehen kaum Inszenierungsvergleiche zur Verfügung. Das, was die Oper Frankfurt hier auf die Bretter zwingt, ist szenisch so durchkomponiert, daß man sich gar keine andere Interpretation vorstellen kann, die für diese Oper einen Sinn ergäbe, ganz unabhängig davon, was Textdichter und Komponist dazu sagen täten, könnten sie dies sehen. Und wer jetzt sagen wollte, die würden sich in ihrem Grabe umdrehen, der kann gleich weitersprechen und erklären, wie überhaupt im Jahr 1938 im Nazi-Deutschland zweie auf die Idee einer solchen Oper kommen können. Das ist weit rätselhafter als die Deutung der Daphne als Mißbrauchsopfer, was diese Inszenierung durchgängig tut.

Hilfsmittel hat sie in der Bühne (einschließlich Kostüme: Christian Schmidt), der eine Verschachtelung alles möglich macht, das Kabinettszimmer, in die Daphne in einem begrünten Wandschrank verschwindet und wieder auftaucht, aber auch ihr Vater sich verdünnisiert. Die Drehbühne zeigt den nächsten Raum in dieser Schrottvilla, deren einstiger Glanz aus jeder Glastüre spricht, mag der Putz auch noch so blättern und der endgültige Verfall vorprogrammiert sein, und dann wieder den Festsaal, der geschmückt wurde und in dem es jetzt unter der Regie des Fischers Peneios durch das Zusammenstellen der Tische eine Hatz auf Daphne gibt, die so derbsinnlich gezeigt wird, daß man ihr zu Hilfe eilen möchte. Sie springt auf die Tische, um den sie angaffenden und betaschenden Händen zu entgehen, den Kußmündern und den ordinären Männergesten, aber erst am Schluß dieser Szene, als sie sich rettet, aber ihr Doppelt als Puppe zurückbleibt, enthüllt sich die innere Dramaturgie der Regie.

Es erscheinen nämlich zwei Mädchen im selben Gewand, wie die hier weiß gekleidete Daphne – zuvor war sie im blauen Hänger mit weißem Kragen schulmädchenhaft, was die beiden Kinder wiederholen – und man weiß schlagartig, wir sehen sie als Kind, so wie wir sie mit den ersten Takten als alte Frau (Corinna Schnabel) mit Stock und lang, dem Mantel erblickten, der erst am Schluß geöffnet und das nämliche blaue Kleid zeigen wird. Es sind die Assistenzfiguren, die Claus Guth erfindet, um seiner Deutung die durchschlagende Wirkung zu geben, die sie hat. Dies Gelage als beabsichtigte Massenvergewaltigung angelegt, ist eine Schlüsselszene der Inszenierung, weil auch der alte Vater (Matthew Best) in seinem langen Mantel hier auf der Suche nach der kleinen Daphne unter den Tischen mit seiner Krücke stochert und man sofort assoziiert „Ach ja, so hat er das sich versteckende und Angst habende Kind gefunden und mißbraucht.“

Es ist also keine logische Abfolge in herkömmlichen Zeitstufen, was der Regisseur bietet, sondern eine psychologische. Daß es eigentlich auch um die Männer geht, um einen herrischen Apoll (gesundheitlich angeschlagen, aber tapfer agierend Lance Ryan), einen gar nicht machohaften, sondern das Mädchen liebenden Leukippos (sympathisch und verstehbar: Daniel Behle), kommt hier zu kurz. Es kann nicht mehr erwähnt werden, in wievielen Details sich die Inszenierungsidee verwirklicht – den gleichen Mantel, den der alte Fischer trägt, hat Apoll an; dem als Daphne verkleidete Leukippos allein gibt Daphne einen Kuß (Selbstliebe?) und läßt sich auf den Dionysostrank ein; dem sterbenden, durch Apoll gemordeten Jugendfreund, trinkt sie Rotwein zu, erst als er tot ist, wird sie zärtlich. Schon zu Beginn hat sich Daphne als sexuelles Wesen geäußert. Sie befriedigt sich an einem Baum, mag man denken. Eine Szene, die zeigt, daß Regisseur Guth hier keine eindimensionale Geschichte erzählt, sondern eben die der Wirrungen und Verirrungen der Daphne auf ihrem Hintergrund.

Das alles führt in eine völlig andere Richtung als die gemeinhin als geschlechtslos angesehene Daphne und Pansexualität, wie die Liebe zur Natur auch genannt wird, wird hier als Beschränkung erlebt aufgrund ihres Mißbrauchs durch Erwachsene im Kindesalter. Wie man es wendet und dreht: man erlebt die Oper mit offenem Mund und kann die vielen Eindrücke kaum verarbeiten und in eine kurze und klare Rezension gießen. Man kann aber sagen und fühlen, daß man einem großen Abend der Regieoper teilhaftig wurde, den sich Musikinteressierte so wenig wie Theaterbesessene entgehen lassen sollten. Demnächst in diesem Theater.

Folgevorstellungen: 1., 4., 10., 18., 23., und 25. April sowie 19. und 26. Juni 2010

Internet: www.oper-frankfurt.de

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