Inszenierung schmerzlich vermisst – Lesung „Der Schimmelreiter“ beim Theatertreffen

Der Schimmelreiter von Theodor Storm, Regie Johan Simons, Thalia Theater, Hamburg. Premiere 25. November 2016. V.l.n.r.: Rafael Stachowiak, Sebastian Rudolph, Birte Schnoeink, Jens Harzer, Barbara Nüsse und Kristof Van Boven © Krafft Angerer

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Zwei Inszenierungen aus der 10er – Auswahl waren beim diesjährigen Theatertreffen nicht zu erleben. „Die Räuber“ vom Münchner Residenztheater mussten, wie schon länger bekannt, aus technischen Gründen draußen bleiben und wurden als Fernsehfilm gezeigt. „Der Schimmelreiter“, kurzfristig wegen der Erkrankung von Jens Harzer abgesagt, wurde ersatzlos gestrichen, denn als Ersatz war die Lesung nicht gedacht, die vom Ensemble des Thalia Theaters Hamburg auf der großen Bühne des Festspielhauses dargeboten wurde.

Kristof van Boven, Barbara Nüsse, Sebastian Rudolph, Birte Schnöink und Rafael Stachowiak saßen bei Arbeitslicht um einen Tisch mit schwarzer Decke herum und lasen einen Auszug aus der von Susanne Meister erstellten Bühnenfassung von Theodor Storms Novelle. Hinter ihnen ein Kleiderständer mit Kostümen, und auf einem Tischchen an der Seite lagen kleinere Plüschtiere. Der Pferdekadaver aus der Inszenierung wäre wohl zu groß gewesen, hätte auch in diese Form der Darbietung nicht hinein gepasst.

Der Text war eine hervorragende Zusammenfassung der Geschehnisse um den Deichgrafen Hauke Haien und die Menschen und die Naturgewalten in seinem nordfriesischen Dorf. In der Lesung kam der Erzählton mehr zur Geltung als die Dramatisierung. Aber obwohl die Rollenverteilung beliebig erschien und die Texte von Hauke Haien, Jens Harzers Rolle, abwechselnd von allen gelesen wurden, kristallisierten sich doch die unterschiedlichen Charaktere heraus. Besonders eindrucksvoll gestaltete Barbara Nüsse die Berichte über die unheilvollen, übernatürlichen Vorzeichen, vor denen die Dorfbewohner sich fürchten.

Auch Besonderheiten der Inszenierung wie die siebenfache Wiederholung von Textpassagen mit jeweils kleinen Veränderungen oder das Läuten der Glocke kamen in der Lesung zu Gehör. Die SchauspielerInnen waren hoch konzentriert und bewiesen kluges Einfühlungsvermögen im Umgang mit Storms Sprache. Sie machten Lust auf mehr, erweckten die Hoffnung, sie würden schließlich doch noch die Kostüme anziehen und aus den gesprochenen Worten lebendige Menschen entstehen lassen.

Links auf der Bühne stand ein Flügel, an dem ein Mann saß, der Pianist Igor Levit, den Thomas Oberender für diese Veranstaltung hatte gewinnen können und der Beethovens letzte Sonate, Nr. 32 in c-moll op. 111 ausgewählt hatte.

Unmittelbar nachdem das letzte Wort von Theodor Storm gesprochen war, begann der musikalische Vortrag dieser Sonate, von der Igor Levit sagt, sie enthalte ein ganzes Menschenleben. Sie enthielt auch alles, was vorher mit Worten geschildert worden war. Über die Virtuosität und technische Perfektion hinaus verlieh Igor Levit den Tönen eine unsterbliche Seele und erschuf Klänge, die sich fast mit Händen greifen ließen.

Die SchauspielerInnen blieben auf ihren Plätzen, und so wie Igor Levit ihrer Lesung zugehört hatte, verfolgten sie seine Präsentation. Aus der improvisierten Zusammenstellung von zwei unterschiedlichen künstlerischen Arbeiten entstand ein großes gemeinsames Kunstwerk.

Vor dem anschließenden Publikumsgespräch bekam Regisseur Johan Simons die Auszeichnung überreicht, den zauberhaften, von Veronica Born entworfenen Pokal aus Papier, der sich zu einem Buch zusammenfalten lässt, in dem der Text des Stücks enthalten ist.

Ein Zuschauer beharrte darauf, dass es doch möglich gewesen sein müsse, die Inszenierung „Der Schimmelreiter“ zu zeigen und dabei Jens Harzer durch einen Kollegen zu ersetzen. Die Reaktion war verständlich, denn es tat weh, mit der Lesung so auf die Inszenierung eingestimmt zu werden und sie dann nicht erleben zu können.

Johan Simon erklärte, dass Menschen nicht in jedem Fall ersetzbar seien, eine bedeutsame Aussage bei diesem Festival, bei dem die Technik ansonsten wichtiger zu sein schien als Menschen und Schauspielkunst.

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