In der Prager Josephstadt läuft die Uhr rückwärts

Handgemachte Juden: Marionetten haben in Prag eine alte Tradition.

Hier, zwischen Moldau und Altstädter Ring, lag seit dem Mittelalter das Epizentrum der europäischen jüdischen Kultur. Voller Ehrfurcht nannte man Prag „Mutter in Israel“. Durch sechs Tore war das ummauerte Viertel, das seit dem 16. Jahrhundert den Namen Ghetto trug, mit der christlichen Welt verbunden. Das Leben in dem Labyrinth aus unzähligen Gassen, aus 13 Synagogen und rund 300 Häusern spielte sich auf engstem Raum ab. Feuer und Pest, die Geißeln des Mittelalters, hatten leichtes Spiel. Trotzdem war es keinem der über 15 000 Juden gestattet, aus dem Ghetto wegzuziehen. Das änderte sich erst im Jahre 1781, als Joseph II. per königliche Order Toleranz walten ließ. Bald darauf schon wurde die Mauer des Ghettos niedergerissen, die Rechte der jüdischen Menschen verbesserten sich und 1850 wurde das Viertel offiziell eingemeindet. Seither hat Prag die Josephstadt.

Kaum hatten die Juden das Recht, sich frei bewegen zu dürfen, da verließen die Reichen auch schon das Ghetto. Die Josephstadt verkam zu einem regelrechten Elendsquartier. 1893 endlich reagierte Kaiser Franz Joseph I. und unterzeichnete ein „Assanierungsgesetz“, das zum Ziel hatte, das historische Ghetto in ein modernes Wohn- und Geschäftsviertel umzubauen. Dieser Beschluss löste höchstes Entsetzen und tiefste Freude aus. Die Bewohner der alten Judenstadt waren glücklich und froh, die muffigen, feuchten Häuser verlassen zu können, Künstler und Intellektuelle dagegen sprachen von Kulturschande und liefen Sturm gegen den Abriss. Heute ist das einstige Ghetto ein moderner Stadtbezirk mit schönen Häusern im Jugendstil, im Stil von Neorenaissance, Kubismus und Neobarock. Hier trifft man alle Architekturhandschriften Prags zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Von der ruhelosen Geschichte des alten Ghettos aber erzählen nur noch das Jüdische Rathaus (16. Jh.) und die fünf Synagogen, die sich eng um den alten jüdischen Friedhof scharren.

Fast 200 000 Menschen, so heißt es, liegen hier in mehreren Schichten begraben. Da der religiöse Brauch es den Juden verbietet, alte Gräber zu beseitigen, hat man 350 Jahre lang immer wieder Erde aufgeschüttet, um die Toten bestatten zu können. Die Grabsteine wurden dazu stets auf das neue Niveau angehoben. Eng aneinander gelehnt stehen die steinernen Zeugen, verwittert und bemoost. Mit ca. 12 000 Grabsteinen ist der alte Jüdische Friedhof der größte noch erhaltene in Europa. Zu den bekanntesten Gräbern gehört das des Rabbi Löw (1529-1609). Der fromme Mann leitete im 16. Jahrhundert die Talmudschule und schuf der Legende nach den Golem, eine aus Lehm geformte und mittels Zauberei zum Leben erweckte Sagengestalt. Im ältesten Grab (1439) liegt der Dichter Avigdor Karo, der letzte Mensch, der hier 1787 bestattet wurde, war ein gewisser Moses Beck. Es ist, so schrieb 1900 der deutsche Schriftsteller Detlev von Liliencron, als berste der Friedhof vor Tod, als hätten die Toten ihre Grabsteine nach oben geschleudert, verzweifelt und ruhelos.

Mindestens genauso legendär wie der Friedhof ist die Altneusynagoge, die älteste Europas. Sie wurde um 1270 errichtet und ist nie zerstört worden. Angeblich schützen zu Tauben verwandelte Engel mit ihren Flügeln das Bauwerk. Diese Himmelsdiener waren es (der Sage nach) auch, die im 13. Jh. Steine des zerstörten Jerusalemer Tempels herbeischafften, um sie in das Fundament der Synagoge einzufügen. Und zwar unter der Bedingung, dass sie zurück gebracht würden, sobald der Tempel von Jerusalem aufgebaut wird. „Unter der Bedingung“ heißt auf Hebräisch „al tenai“. Das klingt wie altneu. So soll die Synagoge zu ihrem Namen gekommen sein. – Ein Wort noch zum Jüdischen Rathaus. An seinem Giebel ist eine Uhr mit hebräischem Zifferblatt angebracht, deren Zeiger sich von rechts nach links bewegen. Aber Vorsicht! Auch eine rückwärts laufende Uhr ändert nichts an der Tatsache, dass vergangene Zeit nie wiederkommt.

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