Im Glanze neuer Konzertsäle – Orchestersterben und Arbeitsproduktivität. Die Deutsche Orchestervereinigung baut sich eine Erfolgsgeschichte

Das Konzerthaus im Oktober 2016 auf dem Berliner Gendarmenmarkt bei Nacht in Lila. © 2016 Münzenberg Medien, Foto: Stefan Pribnow, Aufnahme: Berlin, 12.10.2016

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Eine Trendwende im Klassik-Musik-Betrieb macht die Deutsche Orchestervereinigung (DOV) aus. Auf ihrer Jahrespressekonferenz gab sie Zahlen aus ihrer neuen Konzertstatistik und aus der Kulturstatistik des Statistischen Bundesamtes bekannt.

In der Spielzeit 2015/2016 hielten die 130 öffentlich geförderten Orchester und Rundfunkensembles 13 800 Veranstaltungen ab, zehn Prozent mehr als bei der letzten Umfrage 2013/2014 und 40 Prozent mehr als 2003/2004. »Die Orchester sind aktiv wie nie«, sagt der DOV-Geschäftsführer Gerald Mertens. 5 800 Sinfonie- und Chorkonzerte überboten das Ergebnis von 2003/2004 um fünf Prozent, lagen jedoch um fünf Prozent unter der besten Spielzeit 2007/2008. Besonders stark gestiegen sind die musikpädagogischen Veranstaltungen; mit 5 100 lagen sie um 21 Prozent höher als 2013/2014 und um 37 Prozent über dem Niveau von 2003/2004. In der Bildung einer neuen Besuchergeneration haben die Orchester in phantasievoller Arbeit eine neue Qualität geschaffen. Mit Schulbesuchen, Workshops, Vorführung von Instrumenten und mit Konzerten haben sie viel zur Bildung getan – den ausfallenden Musikunterricht an vielen Schulen können sie jedoch nicht ersetzen.

Allein für die klassischen Konzerte der Berufsorchester weist das Statistische Bundesamt im Jahre 2016 5,2 Millionen Besucher aus. Zusammen mit den Besuchern von Oper, Ballett und Festivals ergibt das 18,2 Millionen – 40 Prozent mehr als bei Bundesligaspielen im Fußballstadion.

Als Erfolg wertet die DOV, dass die deutsche Theater- und Orchesterlandschaft 2014 in die nationale Liste des immateriellen Kulturerbes der UNESCO eingetragen wurde. Sie ist auch für die internationale Kulturerbe-Liste beantragt. Einen Auftrieb des Konzertinteresses der Bevölkerung verspricht sich die Vereinigung von der Inbetriebnahme der Elbphilharmonie Hamburg, der Staatsoperette Dresden und des Pierre-Boulez-Saales der Barenboim-Said-Akademie in Berlin sowie von der bevorstehenden Eröffnung des neuen Konzertsaals im Kulturpalast Dresden. Um das Konzertpublikum müsse man sich keine Sorgen machen, meint Mertens. Alles in Butter?

Die hohen Besucherzahlen haben die Orchestermusiker erzielt bei sinkender Kapazität, allein durch die Steigerung ihrer Arbeitsproduktivität. Seit 1992 ist die Zahl der öffentlich finanzierten Orchester von 168 auf 130 gesunken. Im August 2017 werden die Thüringer Philharmonie Gotha und die Landeskapelle Eisenach zur Thüringen Philharmonie Gotha-Eisenach fusioniert. Dann bleiben 129 Orchester. Vorläufig. Ebenfalls geschrumpft sind die Musikerplanstellen von 12 159 auf 9 816 – minus 19 Prozent. In Gotha-Eisenach werden die Stellen von 75 auf 59 »abgeschmolzen«, aber »über einen langen Zeitraum sozialverträglich«, so die DOV. Wer denkt da nicht an die »zehn kleinen Negerlein«? Wenn nicht die Kulturpolitiker, so doch die Haushaltspolitiker werden sagen: »Na bitte, geht doch«.

Wenn man in der Statistik genauer hinsieht, erkennt man die Schwachstellen. Die Sinfonie- und Chorkonzerte sinken seit 2011 kontinuierlich von 6 158 auf 5 791. Das ist der sinkenden Zahl der Orchester geschuldet, aber auch dem Lohnverzicht vieler Orchestermusiker, um drohenden Entlassungen zu entgehen. Dann schließt die DOV mit dem Träger einen Haustarifvertrag unter Verzicht auf einen Teil des Gehalts, auf Urlaubsgeld, Weihnachtsgeld, Zulagen und so weiter. Das geringere Gehalt wird »ausgeglichen« mit verringerter Arbeitszeit – also weniger Leistungszeit. Auch die Gothaer und Eisenacher nehmen für eine zeitweilige Erhaltung des Arbeitsplatzes Gehälter in Kauf, die nur 80 Prozent des Flächentarifs ausmachen. Fair von beiden Seiten, oder? Oder anders gesagt: die Orchestermusiker können ackern, so viel sie wollen: mehr bezahlte Arbeit gibt es nicht. Tausende Musikstudenten absolvieren die Hochschulen. Aber dann: keine Stellen.

Weitere Musikerarbeitsplätze sind zum Beispiel durch den Plan der Regierung Mecklenburg-Vorpommerns gefährdet, die Theater und Orchester des Landes auf drei Regionaltheater zu schrumpfen, oder durch neue Kürzungspläne in der Staatskapelle Halle. In Brandenburg droht Gefahr von der Kreisgebietsreform. Ist die Not der Länder und Kommunen so groß? Das Gegenteil sagen die Zahlen von Überschüssen der Haushalte, besonders dank höherer Steuereinnahmen, von 29,5 Milliarden Euro im Jahre 2015, darunter 4,2 Milliarden in den Ländern (plus 6,3 Prozent) und 3,2 Milliarden in den Gemeinden und Gemeindeverbänden (plus 6,8 Prozent). Im ersten Halbjahr 2016 war in der Bundesrepublik bereits ein Haushaltsüberschuss von 18,5 Milliarden Euro erwachsen.

Ganz folgerichtig forderte die DOV mehr Geld für die Kultur, denn von den 130 Orchestern haben 40 (darunter allein 30 in den »Neuen Bundesländern« und zum Beispiel alle vier in Mecklenburg-Vorpommern) nur einen Haustarifvertrag. Sie liegen also zumeist unter dem Flächentarif. Allein in Sachsen fehlen für die tarifgerechte Entlohnung der Künstler jährlich zwölf Millionen Euro.

Was macht die DOV aus dieser Chance? Hat sie einen Plan, die unterbezahlten Orchester an den Flächentarif heranzuführen? Was will sie tun gegen die prekäre Beschäftigung in jenen Orchestern, die nicht öffentlich finanziert werden? Auch in diesen Orchestern gibt es Mitglieder der DOV.

Mertens erklärte, die DOV werde bei jedem Vertrag, der ausläuft, die Erhöhung auf den Flächentarif fordern. Darüber hinaus fordert die Gewerkschaft die Erhöhung der Gagen für Aushilfen, die seit zwölf Jahren unverändert sind. Für die freiberuflichen Musiker fordert sie Mindesthonorare von 80 Euro für eine Probe und 240 Euro für den ganzen Tag einschließlich Aufführung.

Welche Macht will die Gewerkschaft, in der mehr als 90 Prozent der Musiker organisiert sind, einsetzen, um auch ihre Beschäftigten am gestiegenen Nationaleinkommen zu beteiligen? Das sieht Hans Reinhard Biere, Vorsitzender der DOV, im größeren Zusammenhang. Da müsse die Bevölkerung mitmachen, das könne die Gewerkschaft allein nicht erkämpfen mit Streiks und dergleichen. Der deutsche Bildungsbürger sei zu passiv. Nun ja. Die Bildungsbürger können wohlwollend in Kauf nehmen, wenn Konzerte oder Vorstellungen wegen Streik ausfallen. Aber streiken müssen die Musiker schon selber.

Allerdings haben Kampfmaßnahmen einen Haken. Je mehr einzelne (Haus-)Tarifverträge mit unterschiedlicher Laufzeit es gibt, desto mehr herrscht für einen großen Teil der Orchester und der Musiker Friedenspflicht und desto weniger können die Gewerkschafter einander im Arbeitskampf Solidarität leisten.

In der Tarifauseinandersetzung müsste die DOV mehr Courage zeigen als beim Abschluss des neuen Tarifvertrags für Kulturorchester (TVK), gültig ab 2010. Jahrelang stritt sie mit dem Arbeitgeberverband, dem Deutschen Bühnenverein (DBV), über die Auslegung der Klausel, der Tarif sei den Tarifsteigerungen im Öffentlichen Dienst »sinngemäß« anzupassen – was die Arbeitgeber natürlich nicht zugunsten der Musiker verstehen wollen. Als sich die Tarifparteien 2013 endlich auf einen Vergütungstarifvertrag einigten, war der DBV für die fällige Nachzahlung von 2010 bis 2012 nur bereit, die Hälfte zu zahlen, soweit in den Orchestern nicht ausdrücklich die volle Nachzahlung vereinbart war, gewissermaßen ein Geheimtipp. Das aber hatten die wenigsten. Die DOV gab nach. Durch den Lohnbetrug büßten die betroffenen Musiker 19,1 Millionen Euro plus Arbeitgeberanteil ein. Für die Jahre 2016 und 2017 wurden die Gehälter analog den Tariferhöhungen im Öffentlichen Dienst um 2,3 und 2,0 Prozent für die Landesorchester und um 2,4 und 2,35 Prozent für die kommunalen Orchester erhöht. Jedoch die halbierten Nachzahlungen der Jahre 2010 bis 2012 drücken den Reallohn. Über die Reallohnentwicklung aber gibt die DOV keine Auskunft. Nachfragen werden nicht beantwortet. Einen Interviewtermin mit dem Autor sagte Mertens ab. Die Deutsche Orchestervereinigung sonnt sich im Glanze der neuen Konzertsäle, die sie nicht gebaut hat. Für die Durchsetzung des Flächentarifs für alle Orchester jedoch fehlt ihr ein Konzept.

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