Hochgekocht und klein geschnitten – Bemerkenswerte Entdeckung: „Das darf man nicht sagen“ an der Schaubühne

Juliane Gruner und Lore Stefanek in dem Schaubühnen-Stück »Das darf man nicht sagen« von Hélène Cixous, Regie: Anne Schneider.

Die 1937 in Oran, Algerien als Tochter jüdischer Eltern geborene Hélène Cixous begründete die interdisziplinäre Studienrichtung „Recherches et ètudes féminines“ an der Universität Paris VIII und gilt als eine der wichtigsten französischen Theoretikerinnen des Feminismus. Sie lebt und schreibt in Paris und lehrt an Universitäten in Frankreich und in den USA.

Die experimentelle Schreibweise von Hélène Cixous ist nicht leicht zugänglich. Es ist deshalb eine verdienstvolle Leistung der Schaubühne, das Stück „Das darf man nicht sagen“ als deutschsprachige Erstaufführung in der subtilen Inszenierung von Anne Schneider mit einem exzellenten Schauspielerinnenduo dem Berliner Publikum vorzustellen.

Das Stück basiert auf Cixous’ 2001 erschienenem Roman „Benjamin nach Montaigne – Was man nicht sagen darf“, den die Autorin als „Autobiografikation“ bezeichnet und in dem sie die Familiengeschichte ihrer Mutter, eigene Kindheitserinnerungen an Algerien und die Reisebeschreibungen von Michel de Montaigne miteinander verbindet.

Das Stück „Das darf man nicht sagen“ bezieht sich auf die Familiengeschichte der Mutter, die mit ihrer Schwester in Osnabrück aufwuchs. Es ist ein Dialog mit einer Vorgeschichte, die während des Stücks immer wieder zur Sprache kommt:

Die Schwestern Selma und Eri Meyer, 89 und 86 Jahre alt, sind der Einladung der Stadtverwaltung ihrer Geburtsstadt Osnabrück gefolgt, um dort an einer Gedenkveranstaltung für die ehemals große jüdische Gemeinde der Stadt teilzunehmen.

Nach Paris zurückgekehrt, sprechen die beiden alten Damen über ihre Reiseeindrücke und ihre Erinnerungen, während sie in ihrer Küche Leberhäckle und Eintopf zubereiten.

Die Bühne von Sarah Rossberg ist ein Podest mit einer Küchenzeile. Auf der Arbeitsfläche sind Geschirr und die Zutaten für das geplante Essen arrangiert. Zwei Töpfe köcheln bereits auf dem Elektroherd. Der Geruch von gedünsteten Zwiebeln durchzieht das Studio.

Anne Schneider hat das Stück inszeniert wie ein musikalisches Werk.

Zu Beginn sitzt Lore Stefanek als Selma Meyer vorn auf dem Podest und liest aus einem Manuskript über den lebenslangen Wunsch nach einem gelben Sessel, den Selma nie bekommen hat und der nun zu einem Abstraktum geworden ist, der Idee für all das, was niemals in Besitz genommen werden konnte, der gelben Idee, von der später wieder die Rede ist.

Lore Stefanek gibt das Thema des Stücks vor. Ihre Selma ist die erste Stimme, die führende, der sich dann Selmas Schwester Eri als zweite Stimme zugesellt. Während Selmas Redefluss permanent aus ihr herausquillt, spricht Juliane Gruner als Eri zögernd, sie bremst die allzu schnellen Tempi und ihre dunkle Stimme bildet einen wirkungsvollen Kontrast zu der hellen, singenden Stimme von Lore Stefanek.

Hélène Cixous schreibt über ihre Mutter und ihre Tante: „Sie glauben, wirklich zu kochen und nur zu sprechen, um die Pausen auszufüllen, doch es ist umgekehrt.“

Selma und Eri beginnen ihr Gespräch vor dem Podest stehend und begeben sich dann, weiter sprechend, auf die Bühne, um dort zu kochen. Die präzisen Hantierungen bei der Essensvorbereitung geben den Sprachmelodien einen eigenwilligen, faszinierenden Rhythmus.

„Das darf man nicht sagen“ oder „Das haben wir in Osnabrück nicht gesagt“ konstatiert Selma häufig. Dabei ist das, was nicht gesagt werden darf oder nicht gesagt wurde, was aber in der Unterhaltung der Schwestern nun doch ausgesprochen wird, nichts Außergewöhnliches.

Es geht um die Beziehung deutscher Juden zu nichtjüdischen Deutschen, um die Sprache, die ihnen als etwas Gemeinsames geblieben ist, um die Verwicklungen in die Geschichte, die auch, wie alle Anderen, jene Deutschen betraf, die sich ihres Judentums erst bewusst wurden, als sie darauf reduziert und dafür verfolgt und ermordet wurden.

Es geht um den Rassismus der nichtjüdischen Deutschen und um den der deutschen Juden. Es geht immer wieder um eine deutsche Provinzstadt, deren Verwalter mit einem Fest für die letzten Überlebenden der jüdischen Gemeinde eine Wiedergutmachung beabsichtigen und den ehemals Verfolgten und Diskriminierten nun abverlangen, die Jugend zu erziehen und Vorbild zu sein, um eine Stadt, in der nichts mehr so ist wie früher, in der sich dennoch vieles erhalten hat und die Erinnerungen lebendig werden lässt.

Außerordentlich ist die Denkweise, die den Dialog der Schwestern vorantreibt. Sie scheinen vom hundersten ins tausendste zu kommen, abzuschweifen, sich im Kreis zu drehen oder den Faden zu verlieren, während sie sich in Gedankenspiralen weiterbewegen, scheinbar Abwegiges assoziativ einbeziehen, sich von Festlegungen oder Urteilen nicht aufhalten lassen, und so eine Erinnerungsarbeit leisten, in der das Vergangene bewahrt wird und sich dabei in einem ständigen Bezug zur Gegenwart verändert und so am Leben bleibt.

Einmal wird auch deutlich, wie verletzend Sprache sein kann und wie leicht Missverständnisse entstehen können. Eri sagt: „Halt dein Maul“ und Selma bezieht das tief erschrocken auf sich, obwohl Eri lediglich Selmas Satz weitergesprochen und zitiert hat, was Herr Gaul aus Osnabrück zu seiner Frau sagte.

„Wer bin ich, dass ich nicht die Hand reiche“ sagt Selma am Schluss und gibt das auf einem Holzbrett angerichtete Leberhäckle auf Brot den Menschen im Publikum. Das ist eine Geste der Versöhnung wie auch eine Aufforderung zum Weiterdenken.

Juliane Gruner und Lore Stefanek erfüllen das Stück, in dem nichts passiert, mit ungeheurer Spannung. Es gelingt ihnen, die schwierige Dialogführung ganz selbstverständlich umsetzen und so eine wundervolle, überzeugende Interpretation zu realisieren.

„Das darf man nicht sagen“ von Hélène Cixous, aus dem Französischen von Uli Menke, hatte als deutschsprachige Erstaufführung am 06.01. Premiere im Studio der Schaubühne am Lehniner Platz. Weitere Aufführungen: 08. und 26.01., sowie 11.02.2010.

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