Hat geistige Musik noch eine Berechtigung in der heutigen Zeit? – Das Münchner Runkfunkorchester bejaht diese Frage eindrucksvoll

© Foto: Midou Grossmann
Die klassische Musik scheint immer stärker zu einem Konsummittel zu verkommen, und dieser letzte Sonntag – nach der verkorksten Auftaktpremiere der Mailänder Scala mit ’La Traviata` – welche von den Medien als Super-Event angepriesen wurde, hat Lebrechts Frage eine noch eminentere Aktualität verliehen. Überall im Internet wird die Mailänder Inszenierung als Flop bezeichnet und einer der Hauptdarsteller bezeichnet die Angelegenheit sogar als ’Schmarrn` und kündigt an, in Italien nur noch Urlaub zu machen, anstatt zu singen. 
Ist der folgende Satz aus Shakespeares ’Kaufmann aus Venedig` noch aktuell?  „Drum geht die Sage, dass Orpheus Bäume, Fels und Flut verlockte, denn nichts ist so versteint, so hart und wütig, das durch Musik nicht anders würd und besser“? Ja, es gibt sie noch, die Musikaufführungen, die unter die Haut gehen und das Publikum begeistern. Dies allerdings zumeist abseits der großen Konzerttempeln, denen enorme Summen für Publicity und Marketing zur Verfügung stehen. Hier gilt, wie überall in der Gesellschaft, desto mehr Schlagzeilen, umso wichtiger das Event.
Seit einigen Jahren agiert der Bayerische Rundfunk vorbildlich mit der Reihe ’Paradisi Gloria` – Geistliche Musik des 20. und 21. Jahrhunderts – vom Münchner Rundfunkorchester im spektakulär modernen Kirchenraum der Neuhausener Herz-Jesu-Kirche wirkungsvoll zum Klingen gebracht. ’Paradisi gloria` setzt mit seinem einzigartigen Konzept Akzente im Münchner Kulturleben: zeitgenössische Kompositionen und Rezitation von literarischen Texten. Diese Konzertreihe ist seit langem zum Geheimtipp für Münchner Musikfreunde geworden.
© Foto: Midou GrossmannAm 15. November gab es eine bemerkenswerte Uraufführung zu erleben: MINAS BORBOUDAKIS (* 1974), „(Askese). Salvatores Dei“, nach dem gleichnamigen Text von Nikos Kazantzakis, für Chor und Orchester, als Kompositionsauftrag des Münchner Rundfunkorchesters /Bayerischen Rundfunks.  Über die Entstehung der Komposition erzählt der auf Kreta geborene Komponist folgendes: „Ich habe diesen Text schon mit 17 Jahren in der Schule kennengelernt und war beeindruckt von seiner Stärke und Kraft. Aber ich habe damals nicht alles verstanden und gespürt, dass mir einfach die Lebenserfahrung dazu fehlt. Später habe ich das Buch noch etliche Male gelesen, und eines Sommers dann begriff ich, worum es wirklich geht: um den täglichen Kampf des Menschen mit sich auf der Suche nach Wahrheit und nach Gott. Dabei habe ich sofort Klänge gehört und dies als Zeichen gewertet. Also bin ich vor drei Jahren zu Ulf Schirmer, dem Künstlerischen Leiter des Münchner Rundfunkorchesters, gegangen und habe gesagt, dass ich da eine Idee hätte. Er las dann sehr konzentriert und hat, so wie ich, wohl das Besondere in Kazantzakis’ Worten gespürt und meiner musikalischen Idee vertraut.“
Ulf Schirmer leitete auch die Uraufführung in München, die enorm diffizile Komposition war bei ihm in den besten Händen. Ebenfalls trugen das Münchener Rundfunkorchester sowie der Chor des Bayerischen Rundfunks, in der Einstudierung von Robert Blank, höchst eindrucksvoll zum Gelingen des Abends bei. Kazantzakis Text erzählt von dem Kampf um das Göttliche, das sein Leben bestimmte, verleugnet letztendlich dann doch diesen Begriff, was er nicht so wirklich ernst gemeint haben könnte, warum sonst hätte er diesen Text verfasst? 
Minas Borboudakis hat diesen Kampf um die Antwort auf eine der elementarsten Fragen der Menschheit grandios in Musik gesetzt, trotz eines sehr reduzierten Notenbildes, bleibt die Musik im steten Fluss, aufwärtsströmend ohne Brüche, die den grundlegenden Rhythmus der Komposition unterbrechen. Mensch und Gott sind hier nicht getrennt, sondern bilden eine Einheit, bestehend aus einer identischen Schwingung, also gleichberechtigt, es gibt daher keine Trennung, somit ist auch eine Verneinung unmöglich. 
Natürlich agiert der Chor auf der kommentierenden Tradition der griechischen Antike, flüsternd, schreiend, gesungen, entwickeln sich kontinuierlich Steigerungen. Wird der Klang auch immer asketischer, es entsteht ein Klangfarben-Diminuendo, bleiben die Spannungsbögen doch bestehen. Im dritten Teil schrumpft alles wie eine Implosion in einem Atom  zusammen, das aber in Form von Photonen weiterhin durch den Raum schwingt. 
Eingebettet war diese bemerkenswerte Uraufführung in gleichwertig genialen Werken von zeitgenössischen Komponisten. Den Auftakt machte ALEXANDER TSCHEREPNIN (1899–1977) „Musica sacra“ nach dem Streichquartett Nr. 1, op. 36, eingerichtet für Streichorchester vom Komponisten und von Kurt Redel, dem Wirken der heiligen Thérès von Lisieux gewidmet. Die Streichergruppe des Müncher Rundfunkorchesters musizierte dieses filigrane Werk, unter der Leitung ihres Chefdirigenten Ulf Schirmer, tiefst berührend und hoch virtuos, die schlichten Musikelemente entwickelten einen enormen musikalischen Sog. 
Das gilt auch für PÄ’TERIS VASKS (* 1946) „Musica dolorosa“ für Streichorchester, entstanden 1983, zum Andenken an die Schwester Marta. Vasks vordergründig romantische Tonsprache zeigt dennoch eine tragische Grundstimmung und die Intensität dieser Musik ergänzte die zuvor gehörten Werke auf wundervolle Weise. 
GORDON GETTYs (* 1934), »Joan and the Bells« (Johanna von Orleans), Kantate für Sopran, Bariton, Chor und Orchester, gesungen von Melody Moore (Sopran) und Lester Lynch (Bariton) diente diesem denkwürdigen Konzert als eindrucksvoller Schlusspunkt.
All diese Werke erzählen von dem ewigen Kampf des Menschen um die Erkenntnis seiner geistigen Identität. Eine Frage, die für die aktuelle Gesellschaft sicherlich überlebenswichtig sein kann. Doch wurde über dieses Konzert auf überregionaler Ebene berichtet? Waren die wichtigen Medien anwesend? Nein, und daher stelle ich hier die anfangs erwähnte Frage von Norman Lebrecht noch einmal? Why can’t we articulate the value of music to society? Bleibt nur zu hoffen, dass ein Mittschnitt dieses Konzerts einmal als CD für den Musikfreund zur Verfügung stehen wird. Highlights in der Musikgeschichte sollten einfach dokumentiert werden und für die Nachwelt präsent sein.
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