Gut gewählt – Die Lange Nacht der Autoren begeisterte im Deutschen Theater

Auch für die Fußballfans wurde gesorgt. Die EM-Spiele waren auf einer Großleinwand in der Bar zu verfolgen. Der Jubel über die beiden Tore, mit denen die deutsche Mannschaft die Niederländer besiegte, war deutlich zu hören während in den Kammerspielen Lot Vekemanns Stück „Gift“ zu sehen war. Das hoch konzentrierte Spiel von Elsie de Brauw und Steven van Watermeulen wurde dadurch nicht gestört, und Regisseur Johan Simons  kommentierte später, die Holländer hätten sich auf der Bühne weit besser geschlagen als auf dem Fußballfeld.

„Gift“, ausgezeichnet mit dem Taalunie Toneelschrijfprijs, ist ein Stück über die größtmögliche Katastrophe, die Eltern passieren kann, den Tod eines Kindes. Lot Vekemans lässt ein Paar, das sich nach dem Verlust des gemeinsamen Sohnes getrennt hat, nach mehr als zehn Jahren wieder zusammen treffen.

In der Inszenierung von Johan Simons gestalten Elsie de Brauw und Steven van Watermeulen diese Begegnung von zwei Menschen, die völlig unterschiedlich mit ihrer Trauer umgehen, ganz unsentimental, manchmal auch komisch, mit eindringlicher Wahrhaftigkeit. Die Aufführung des NTGent und der Münchner Kammerspiele wird bereichert durch Lieder von John Dowland, gesungen von dem Countertenor Steve Dugardin, der auch beeindruckend ins Bühnengeschehen eingreift.

Eine Lebenskrise ist auch Thema der kabarettistischen Satire „Tür auf Tür zu“,  von Ingrid Lausund, die, inszeniert von der Autorin, als Koproduktion von lausundproductions mit dem Theater Duisburg, in der Box vorgestellt wurde.

Hier gibt es eine sprechende Tür, und einen Chor, der, aufgrund von Sparmaßnahmen, aus nur einer Person besteht. Für die Frau mit den roten Schuhen ist die Tür plötzlich zu. Anneliz ist ausgeschlossen aus ihrem Berufsleben und der Gesellschaft, in der sie sich zu bewegen pflegte. Zuerst glaubt Anneliz an einen Irrtum, der sich schnell aufklären lässt, aber die Tür, die sich für Andere öffnet, bleibt für Anneliz geschlossen.

Hildegard Schroedter, Robert Glatzeder und Mathias Matz lassen mit brillant gesetzten Pointen die kafkaesken Situationen lebendig werden, in denen die Protagonistin ohnmächtig mit der Willkür des Ausgeschlossenseins konfrontiert ist.

Frauen waren bei den Autorentheatertagen 2012 als Autorinnen und Regisseurinnen erfreulich gut vertreten. „Die Lange Nacht der Autoren“ war in diesem Jahr sogar eine Nacht der Autorinnen, denn alle drei von Juror Tobi Müller ausgewählten Stücke sind von Frauen geschrieben worden.

Mit seiner Auswahl hat Tobi Müller ein sehr gutes Gespür bewiesen. Die Werkstattinszenierungen aller drei Stücke wurden vom Publikum mit großer Begeisterung aufgenommen. Die Lange Nacht dauerte von 19.00 Uhr bis Mitternacht, aber bei den BesucherInnen kam keine Müdigkeit auf.

Zu Beginn war „Totberlin“ zu sehen, das erste abendfüllende Stück der in Berlin geborenen Sarah Tabea Paulus, die seit 2010 Szenisches Schreiben an der Universität der Künste in Berlin studiert.

Die Autorin vermittelt Einblicke in das Leben von drei jungen Leuten: Fox, ein sensibler Künstler, der gerade wieder einen Selbstmordversuch hinter sich hat, seine spröde, hoch begabte Schwester Glas und ihre bodenständige Freundin Chantal. Fox und Glas definieren sich als Aktivmenschen, die sich beide zu Chantal, dem Passivmenschen, hingezogen fühlen. Im Anschluss an einen Besuch von Glas und Chantal bei Fox in der Psychiatrie kommt es zu einer Annäherung zwischen den beiden Frauen. Aber nach einer gemeinsamen Nacht im Forst ist Glas verschwunden.

„Totberlin“ ist ein Stück über die Schmerzen und Glückseligkeiten des Jungseins, über Identitätsprobleme, Bindungsängste, Machtspiele, Grenzerfahrungen, Todessehnsüchte, Lebensängste, Freiheitsträume und, nicht zuletzt, über Berlin.

In einer sehr spielerischen Sprache hat Sarah Tabea Paulus einen Tanz über Abgründe eingefangen. Sie erzählt eine herzzerreißend traurige Geschichte, die aber zugleich verzaubernd schön und märchenhaft poetisch ist.

Wie ein Satyrspiel ist an das Stück ein Epilog angehängt, in dem sich der natürliche Tod, der eigene Tod und der glückliche Tod präsentieren.

Unter der Regie von Tobias Wellemeyer gestalteten Alexander Khuon (Fox), Melanie Straub (Glas) und Franziska Melzer (Chantal) die faszinierenden Bühnenfiguren sehr subtil mit all ihren Unsicherheiten und Widersprüchlichkeiten.

Mit ihrem Stück  „Schafinsel“ hat Nina Büttner im März 2012 den Else-Lasker-Schüler-Preis gewonnen. Die Autorin, 1979 in München geboren, hat in München Theaterwissenschaft und Philosophie studiert, anschließend Szenisches Schreiben an der UDK Berlin und war 2009 zum Dramatikerworkshop des Theatertreffens Berlin eingeladen.

„Schafinsel“ ist eine Komödie und ein Fest für komödiantische SchauspielerInnen. Nina Büttner hat wunderbare Rollen geschrieben. Die Geschichte ist eigentlich schrecklich. Sie handelt von der jungen Prostituierten Nori, die von ihrem Freund und Zuhälter Toni misshandelt wird. Noris Mutter ist krebskrank und Alkoholikerin. Nori träumt davon, auf die Insel Wikney zu ziehen, wo nur Schafe leben, und zwischen Nori und dem stotternden Abiturienten Henning bahnt sich eine zarte Romanze an.

Am Ende kann Nori ihren Traum verwirklichen. Vorher wird Toni unter tatkräftiger Mithilfe von Noris Mutter aus dem Weg geräumt, und Henning befreit sich von seiner tyrannischen Mutter. Es wird gemordet, gesoffen und geprügelt, aber in all dem Chaos und Schmutz arbeitet Nori mit unbeirrbarer Zähigkeit an der Realisation ihres Lebenstraums.

Olivia Gräser verkörperte Nori einerseits als vulgäres Gossenkind, anderseits aber auch als elfengleiches Wesen mit liebenswerter Sanftmut. Almut Zilcher gab Noris Mutter als pöbelndes, lallendes Kraftweib, und Andreas Döhler war ein etwas einfältiger, brutaler Macho. Hennings Mutter (Simone von Zglinicki), zunächst beständig keifende Spießerin, erwacht unter Alkoholeinfluss zu ungeahnter Lebensfreude, während der schüchterne Henning (Kilian Ponert) durch die Liebe zu Nori Selbstvertrauen und Mut entwickelt.

Regie führte Hasko Weber, und Ingo Schröder begleitete die Vorstellung mit einfühlsamer Live-Musik, zu der sich Olivia Gräser auch stimmgewaltig mit Gesangseinlagen hören ließ.

Die dritte Autorin in der Langen Nacht war Charlotte Roos, 1974 in Düsseldorf geboren. Sie verfasst Theatertexte, Prosa und Essays und ist seit 2001 auch als freie Regisseurin tätig. 2007/2008 wurden am Theaterhaus Jena ihre Stücke „Die Unmöglichkeit einer Insel“ und „Allergie“ uraufgeführt. 2009 wurde sie mit „Hühner. Habichte“ zum Stückemarkt des Berliner Theatertreffens eingeladen und gewann den Jury- und den Publikumspreis der Autorentheatertage in St. Gallen.

In ihrem Stück „Wir schweben wieder“ hat Charlotte Roos eine Gruppe von Personen charakterisiert, die einander nicht kennen und auch nichts miteinander zu tun haben, bis auf Carl und seine Freundin Laura, die einer distanzierten Beziehung leben. Laura übersetzt live die Rede von Hugo Chavez in Kopenhagen, während der depressive Carl seinen Selbstmord plant.

Maria ist eine beruflich erfolgreiche, aber einsame Frau, die beim Joggen Gewaltphantasien entwickelt. Bruno hat zwar schon lange keinen Kontakt mehr zu seinem Vater, möchte aber unbedingt seine Brillen erben. Als die ihm schließlich zufallen, sieht Bruno plötzlich mit den Augen seines Vaters. Und dann ist da noch Edith, ehemalige Hochseilartistin, die in einer Bar arbeitet. Bei ihr findet sich Carl ein und auch Bruno mit der Brille seines Vaters.

Als Carl sich an einem Baum am Fluss erhängt, erscheinen dort ganz zufällig Maria, Edith und Bruno. Unter Anleitung von Edith versucht das Trio, Carl zu retten. Die Menschen, die sich bis dahin ausschließlich mit sich selbst beschäftigt haben, widmen sich mit Feuereifer ihrer Zusammenarbeit und berauschen sich an dem Gedanken, dass sie, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben, etwas Sinnvolles tun.

Bei dem Rettungsversuch kommen alle Beteiligten um. Aber der Sturz in den Tod ist für sie ein befreiendes Davonschweben.

Laura bekommt von der Polizei eine Brille ausgehändigt. Obwohl sie weiß, dass es nicht Carls Brille ist, behält Laura sie, setzt sie auf, und sieht für sie Ungewohntes aus der Perspektive von Brunos Vater.

Unter der Regie von Cilli Drexel agierten Natali Seelig, Sven Fricke, Bernd Moss, Natalia Belitski und Judith Hofmann wie Traumfiguren. Sie sind allesamt gefangen in ihren banalen Alltagswelten, aus denen sie aber schließlich doch einen Ausweg finden, der vielleicht gar nicht der Tod ist, sondern das Schweben als neue Lebensform. Leichen hat die Polizei nicht entdeckt.

Alle drei Stücke in den Langen Nacht zeichnen sich dadurch aus, dass sie Tragisches mit Komischem verbinden und über das offensichtlich Begreifbare hinaus Möglichkeiten zum spielerischen Weiterdenken und Fantasieren anbieten. 

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