Familienfeste und andere Schwierigkeiten – Wunden der Vergangenheit brechen auf „Rachels Hochzeit“ wieder auf

Filmszene mit Anne Hathaway

In der unbeschwerten Gemeinschaft der Feiernden ist Kym ein Fremdkörper. Es wird gesungen, getanzt, Ansprachen gehalten. Im Rahmen der Feierlichkeiten wird die Vergangenheit bewusst und unbewusst verklärt. Kyms Zynismus und Frustration stoßen auf Irritation bei den Gästen. Um mit der unangepassten Ex-Süchtigen umzugehen, wenden Kyms geschiedene Eltern jeder auf seine Weise ein vertrautes Schema an. Leugnen und Verharmlosen von Problemen haben ein explosives Gemisch unterschwelliger Konflikte geschaffen. Mit fahrigen Gesten und nervösen Blicken wirkt Kym wie ein gehetztes Tier. Ein Tier, welches auch die Krallen ausfahren kann, wenn es sich in die Enge getrieben oder zu wenig beachtet fühlt. Die bisher auf leichte Rollen festgelegte Anne Hathaway unternimmt mit ihrer fordernden Filmperson einen Ausflug ins anspruchsvolle Genre. Das Wagnis gelingt. Neben den herausragenden Darstellern, insbesondere Rosemarie DeWitt und Bill Irwin, kann sie sich als ernstzunehmende Akteurin profilieren. „Rachels Hochzeit“ hat fast Theaterqualitäten. Es ist reines Figurenstück, gewinnt seine Kraft aus der Palette authentischer Charaktere. Sorgfältig gestaltet Regisseur Jonathan Demme jeden der Protagonisten. Stärken und Schwächen halten sich die Waage, eindeutige Helden und Schurken gibt es nicht. Kym ist nicht bloßes Opfer. Bissig und provokant versucht sie ständig Zentrum der Aufmerksamkeit zu sein. Ihre äußerlich angepasste Schwester Rachel fängt sie trotz allem auf, offenbart unter ihrer verständlichen Eifersucht Fürsorge und Zärtlichkeit. Unter dem Verständnis des Vaters verbirgt sich hingegen Verleugnung. Dass Rachel als Jugendlich an einer Essstörung litt, diese vielleicht noch immer nicht überwunden hat, will er nicht wahrhaben. Genauso sperrt er sich gegen die Mitschuld Kyms am Tod ihres kleinen Bruders. Abwehrend streckt er die Hände vor sich aus, als das Thema zur Sprache kommt. Ihre Konflikte haben die Charaktere von je her von sich fort geschoben. Wird ihnen nach „Rachels Hochzeit“ ein offenerer Umgang gelingen? Dazu sind sie zu stur, zu verfahren in ihren Lebensweisen. Es ist trübes, aber ehrliches Fazit von „Rachels Hochzeit“.

Auf eine stereotype versöhnende Aussprache, in der Geheimnisse enthüllt werden, verzichtet der Film. Bevor sie das Geschehene verarbeiten können, müssen die Figuren lernen, es zu akzeptieren. Schuld erweist sich dabei als kompliziertes Konstrukt. Kyms Drogensucht wurde von ihrer Familie totgeschwiegen. Obwohl sie um die Labilität der Tochter wusste, hat ihre Mutter Kym auf deren kleinen Bruder aufpassen lassen. Trügerisch ist auch die Stimmung auf der Feier, mal angeheizt von echter Fröhlichkeit, mal voll unterdrückter Anspannung. Was ist wahr und was ist vorgespielt? Die quälende Frage ist der Kern der Handlung. Bis zuletzt wird sie nicht beantwortet. Die letzte Szene ist brillanteste und gelungenste des Dramas. Es ist der Morgen von Kyms Abreise. Wie eine Jugendliche wirkt sie, als sie eine Box mit alten Fotos öffnet. Dann verlässt sie den Raum und man glaubt, die kindliche Kym zu sehen, die ohne ein Wort das Elternhaus verließ, um Drogen oder Alkohol zu besorgen. Auf dem Flur sieht sie ein Mädchen in Unterwäsche. Wie ein Gespenst tritt ihr die magere Jugendliche aus dem Badezimmer entgegen. Sie winkt kurz und schlurft davon. Ihr Ähnlichkeit mit einer jüngeren Version Rachels ist beängstigend. War Rachel vielleicht doch magersüchtig? Gab es vielleicht doch Missbrauch, sei es von familiärer oder außerfamiliärer Seite? Einzige Gewissheit ist, dass vieles unausgesprochen bleibt. Das Tragische am Ende des Films ist nicht, dass Kym zurück in die Klinik muss. Tragisch ist, dass sie wiederkommen wird, nach jedem erneuten Rückfall. Hoffnung und selbstbetrügerischer Optimismus liegen nah beieinander in „Rachels Hochzeit“. Die Charaktere können nicht mehr zwischen ihnen unterscheiden, auch dem Zuschauer ist eine klare Abgrenzung nicht möglich.

Humor und Herzenswärme zeichnen das bittere Drama dennoch aus. Trotz seines Sarkasmus blickt Demme nicht auf seine Figuren herab. Authentisch überträgt sich die Verunsicherung der Figuren auf das Publikum. Für ihr Drehbuchdebüt wurde Jenny Lumet mit dem New York Critics Award ausgezeichnet. Jonathan Demme findet harsche, schmucklose Bilder für ihre Geschichte, die mehr eine Episode ist. In scheinbar bedeutungslosen Gesten pulsiert in „Rachels Hochzeit“ Leben. Trauriges und Schönes verschmelzen zu dem selten auf der Leinwand gesehen Gut: Realismus.

Originaltitel: Rachels Wedding

Deutscher Titel: Rachels Hochzeit

Genre: Familien-Drama

Land/Jahr: USA 2008

Kinostart: 26. März 2009

Regie: Jonathan Demme

Drehbuch: Jenny Lumet

Darsteller: Anne Hathaway, Rosemarie DeWitt, Bill Irwin

Verleih: Sony

Laufzeit: 112 Minuten

FSK: Ab 12

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