Familienbruch – Die Struktur besiegt dich

Sibel Kekilli in "Die Fremde"

Auch heißt es für die Dramaturgie wohl nichts Gutes, wenn man zuerst die Bilder oder Musik lobt, die in DIE FREMDE tatsächlich oft gelangen und eine dichte, beklemmende Atmosphäre erschaffen. Vielmehr bedeutet es, dass das Thema Ehrenmord, auf das diese Geschichte zusteuert, weitaus schockierender, prägnanter und erschöpfend schon in dem schwedischen Film NÄR MÖRKRET FALLER aus dem Jahr 2007 dargestellt wurde. Daran muss man sich messen lassen und versuchen, die Dramatik in anderer Weise zu erzeugen. Regisseurin Feo Aladag jedoch schreitet originalgetreu den gleichen Pfad ab: Flucht, Trauer, Ehrkonflikt, Familienbindung, Geschwisterliebe, Hoffnungsschimmer, Verzweiflungstat. Lediglich das Ende variiert sie und fügt ein Kind in die Geschichte ein.

Vielleicht hätte man auch keine Frau besetzen sollen, die sich als Dilara zunächst in der Pornobranche einen Namen machte, bevor sie auf der Berlinale mehrfach auch als Schauspielerin reüssierte. Ständig erwartet man Nacktszenen, die nicht wirklich passieren, außer beim Duschen. Andererseits fasziniert die Verwandlung einer solchen Frau zu einer vielbesetzten Hauptfigur umso mehr. Sibel Kekilli verkörpert die Umay mit Bravour und Tränen, wenngleich für mich als Mann der Film keine Identifikationsfigur bereithält uns deshalb nur mäßig fesselt. Weder Brüder, Ehemann, Vater noch Flirtpartner bieten sich dafür an.

Worum geht es nun aber konkret?

Umay hat eine Abtreibung und verlässt ihren Ehemann Kemal, um mit ihrem kleinen Sohn Cem von Istanbul zurück nach Berlin zu ihren Eltern zu fliehen. Kemal scheint Umay geschlagen zu haben und verkörpert schlicht das Prinzip Patriarchat, das die gesamte bedrückende Gesellschaft beherrscht, in der Umay lebt. Er wälzt sich zum Sex auf Umay direkt nach der geheimen Abtreibung. Männer sind also in der Türkei die unsensiblen Paschas, hat man den Eindruck. Sogleich denkt man an Zwangsverheiratung und andere archaische Kulturpraktiken. Das Potenzial für Dramen wächst damit.

Umays Vater und der ältere Bruder Mehmet repräsentieren das Patriarchatsprinzip genauso, obwohl sie in Berlin leben. Sie sind geistig einfach nicht in der gleichberechtigten Postmoderne angekommen. Auch Umays Mutter und Schwester helfen ihr nicht in ihrer Notlage und argumentieren zugunsten der ungerechten Gruppendynamik. Als man entscheidet, Cem zu Kemal zurückzubringen, alarmiert Umay die Polizei und wird in ein Frauenhaus gebracht. Eine schüchterne Romanze mit dem deutschen Kollegen und Küchenhelfer Stipe (Florian Lukas) ergibt sich folgerichtig, nimmt jedoch im Film einen zu kleinen Teil in Anspruch. Da sich Umay emotional aber von ihrer Familie nicht trennt und sie immer wieder kontaktiert, steuert sie offenen Auges in ihr Verderben. Selbst ein Eklat bei der Hochzeit ihrer Schwester rüttelt sie nicht wach, denn sie bringt ihr Kind weiter in Gefahr, indem sie in der Stadt bleibt.

Wie geht man aus dem Kinosaal heraus? Überrascht vom Ende oder verärgert über die Rückständigkeit, die in einer Einwandererkultur mitten unter uns scheinbar noch immer akut ist? So wird das mit der Assimilation oder Annäherung vorerst nichts. Wieviel Ubterschiedlichkeit halten wir aus? Der Film umkreist ein aktuelles Problem, denn von Ehrenmorden hört man mehrmals jährlich. Streitschriften werden dazu veröffentlicht und in der FAZ besprochen.

Dass ein Vater seine Tochter nur deshalb umbringen lassen will, weil sie sich vom Ehemann trennt und so die „Ehre“ der Famile beschädigt, wirkt gleichsam wie ein Armutszeugnis für die Integrationspolitik. Aladag prangert mit relativ hilflosen und sturen Figuren eine gescheiterte Bürgerbildung im so progressiven Deutschland an und zeigt uns, wie verkrustet manche Muslimfamilien das Überkommene leben. Sie bekam dafür sehr viele Filmfördergelder, weshalb man getrost auf die Fernsehausstrahlung bei ARTE, WDR und RBB warten kann. DIE FREMDE wird genügend Fürsprecher auf den Festivals finden und macht sich mit der Themenwahl aus der Parallelgesellschaft schon relativ unangreifbar. Etwas mehr Spannung und originellere Drehbuchideen hätten dennoch geholfen, das Resultat über die Bewertung „solide“ hinauszubringen. Aber für einen ersten Spielfilm gebührt Aladag Respekt.

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Titel: Die Fremde

Land/Jahr: BRD 2009

Berlinale Panorama

Regie: Feo Aladag

Drehbuch: Feo Aladag

Produktion: Feo Aladag, Züli Aladag

Kamera: Judith Kaufmann

Musik: Max Richter, Stephanie Moucha

Darsteller: Sibel Kekilli, Derya Alabora, Settar Tanriogen, Florian Lukas, Alwara Höfels, Nursel Köse

Länge: 119 Minuten

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