Exil ohne Rückkehr – Spätes Gedenken der Berliner Philharmoniker an ihren vertriebenen Ersten Konzertmeister Szymon Goldberg

Szymon Goldberg 1924 in Berlin.© gemeinfrei

Goldberg, polnischer Jude, wurde als Achtjähriger von seinen Eltern nach Berlin geschickt, wo er bei dem legendären Pädagogen Carl Flesch Geigenunterricht nahm. Seine Begabung, diese Ausbildung und glänzende Konzerte empfahlen ihn mit 16 Jahren als Ersten Konzertmeister der Dresdner Philharmonie. Goldberg war 20, als Wilhelm Furtwängler ihn 1929 zu den  Philharmonikern nach Berlin holte, wo er auch als Solist und Kammermusiker glänzte. Nach Furtwänglers Urteil war Goldberg »der beste Konzertmeister in Europa überhaupt«.

Die Nazis interessierte das nicht im geringsten. Das Orchester, juristisch eine Gesellschafter-Vereinigung (GmbH) der Mitglieder, wurde vom Musenfreund Joseph Goebbels aufgekauft, der es seinem Propagandaministerium als Reichsorchester einverleibte.

Pflichtgemäß meldete das Orchester 1933 „seine Juden“ – Goldberg, den Geiger Gilbert Back sowie die Solocellisten Joseph Schuster und Nicolai Graudan – dem Berliner Bürgermeister, nicht ohne zu beteuern, daß bereits seit 1930 keine Juden mehr aufgenommen worden waren. Mit »Heil Hitler!« Die Philharmoniker hatten sich nichts vorzuwerfen. Die Kündigung der Juden lag in der Luft.

In einem Lebenslauf, den Goldberg 1955 beim Generalkonsulat der BRD in Amsterdam hinterlegte, berichtete er: »Als Volljude und Polewar ich mir dessen bewusst, dass ich in Deutschland unter Hitler nichts Gutes zu erwarten hätte und ich nahm meinerseits die Initiative, um meinen Vertrag mit dem Berliner Symphonischen Orchester zu lösen. Furtwängler … suchte mich unter allerlei Zusagen zu halten. U.a. wurde mir zugesichert, daß ich in Konzerten, die von Hitler besucht wurden, nicht zu spielen brauchte. Im Widerspruch zu dieser Abmachung geschah es, daß (”¦) mir nicht Mitteilung gemacht wurde, so daß ich gezwungen war, doch vor Hitler aufzutreten.“ Die Gestapo bedrohte Goldbergs Frau Maria, und er sah sich veranlaßt, „um nicht erst die Internierung meiner Frau und von mir abzuwarten, meinerseits meine Tätigkeit zu beenden. Hierbei wurden mir Schwierigkeiten gemacht und (”¦) gedroht, daß man mir ein Ausreisevisum verweigern würde. Auch hat man von mir verlangt, daß ich in einer Pressekonferenz gegenüber amerikanischen Journalisten eine Erklärung abgäbe, daß ich freiwillig das Orchester verliesse, da ich meine umfangreiche Solistentätigkeit nicht mit der Funktion eines Konzertmeisters vereinigen könnte. Die Wahrheit war natürlich, daß die Zustände in Deutschland unter Hitler für mich unerträglich geworden waren, vor allem, daß ich mir von der Zukunft in Deutschland eine Vorstellung machte, die die spätere Entwicklung nur zu sehr bestätigt hat. Ich habe deshalb 1934 mit meiner Frau Deutschland Hals über Kopf verlassen und bin mit ihr nach Italien emigriert.« Kein Wort von der schönen Legende, Furtwängler habe versucht, ihn zu schützen.

Goldberg war mit 25 Jahren kein weltfremder Künstler, sondern ein Mann mit Charakter und politischer Urteilsfähigkeit, der Freund und Feind unterscheiden konnte. Während er es ablehnte, für Hitler zu spielen, waren andere Philharmoniker »mit 30 noch unerfahren« und stellten sich in den Dienst der Nazis. »Wir machten weiter unsere Musik«, erläutert im Film »Das Reichsorchester« der ehemalige Konzertmeister Johannes Bastiaan. »Es konnte auch keiner ablehnen. Man hing zu sehr am Orchester.» Wer unter dem besten Dirigenten – Furtwängler – spielen wollte, konnte gar nicht anders, als da mitzumachen, so ein anderer Zeitzeuge. Wer den Ariernachweis hatte, war ja auch auf der sicheren Seite.

Szymon Goldberg blieb das Exil. In New York war er ein begehrter   Konzertsolist und Hochschullehrer. 1943 geriet er nach Auftritten auf Java mit seiner Frau in japanische Internierung, weil sich die dortigen Verbündeten der Nazis deren Rassenpolitik zu eigen gemacht hatten. »Ich blieb bis 6. September 1945 interniert und befand mich in einer Reihe von Gefängnissen und Lagern«, notierte Goldberg in seinem Lebenslauf.

Nach seiner Befreiung kehrte er nach einem Aufenthalt in Australien nach New York zurück, gab bald wieder Solokonzerte, allerdings war der „Markt gesättigt“ mit großen Geigern wie Yehudi Menuhin, Isaak Stern oder Jascha Heifetz. Goldberg fand große Aufgaben als Hochschullehrer und Dirigent. Von 1955 bis 1977 leitete er das Niederländische Kammerorchester, nicht weit weg von Deutschland, in das er nie wieder zurückkehren sollte.

Sein Antrag, seine Arbeit bei den Berliner Philharmonikern wiederaufnehmen zu dürfen, wurde 1964 vom Intendanten Wolfgang Stresemann abgelehnt. Die Stellen der beiden Ersten Konzertmeister seien besetzt, eine zusätzliche für »ein neues Orchestermitglied« könne nur mit Zustimmung aller Mitglieder und des künstlerischen Oberleiters Herbert von Karajan geschaffen werden. Sollte die Wiedereinstellung durch einen Wiedergutmachungsbescheid angeordnet werden, müsse Goldberg »die Gepflogenheiten des Orchesters anerkennen« und nach einer Probezeit ein Urteil akzeptieren, ob er den »künstlerischen und physischen Anforderungen eines Orchesters von Weltrang gerecht zu werden« vermöge. Auf Mitgliederbeschluß könne er von seiner Funktion auch zurückgestuft werden – unannehmbar für einen Künstler vom Range Goldbergs, dies mitgetragen von Typen, die »durchgehalten« hatten bis fünf nach zwölf. Pensionsansprüche wurden nicht anerkannt, da er nicht weiter in Berlin gearbeitet hatte. Auch nach der Anordnung der Weiterbeschäftigung durch den Wiedergutmachungsbescheid blieb Stresemann dabei: keine Konzertmeisterposition frei. Wollten seine ehemaligen Kollegen ihm nicht mehr in die Augen sehen müssen? Heute hat das Orchester drei Erste Konzertmeister. Goldberg blieb weiterhin nur das Exil.

Es ist die grausige Ironie des Schicksals: In den Jahren, bevor und nachdem er im japanischen Kz saß, reiste er um die Welt, ein gefeierter Virtuos, doch ein Heimatloser, »öfter die Länder als die Schuhe wechselnd« (Brecht). Was er dachte und fühlte – es gibt keine autobiografischen Notizen oder Memoiren, die Auskunft geben könnten. Mit Maria konnte er sich ein Haus in Colorado leisten, doch in Deutschland blieb er ein Ausgestoßener. Hier galten nicht die Maßstäbe der »Menschenrechte«.

Nach dem Tode seiner Frau Maria Manasse 1985 ging er mit der Pianistin Miyoko Yamane nach Japan, wo er das New Tokyo Philharmonic Orchestra dirigierte, Studenten unterrichtete und bis zu seinem Tod am 19. Juli 1993 das Szymon-Goldberg-Festival in Oyama leitete. Seine große Kunst dokumentieren viele Aufnahmen von 1930 bis 1993. Er fand wahrscheinlich Erfüllung in seiner künstlerischen Arbeit.

Fühlt sich nun in dem Deutschland, aus dem Goldberg vertrieben wurde und das ihm eine würdige Rückkehr verweigerte, jemand verantwortlich, wenigstens für ein Gedenken? Im Jahr 2008 wurde der 100. Geburtstag des Chefdirigenten und ehemaligen NSDAP-Mitglieds Herbert von Karajan gefeiert. 2009 fühlte sich für den 100. Geburtstag von Szymon Goldberg niemand zuständig, auch nicht, nachdem an der Treppe der Philharmonie einige Wochen lang ein unscheinbarer Zettel gehangen hatte: die Bekanntmachung einer Ausstellung über Szymon Goldberg im Karl-Maria-von-Weber-Museum in Hosterwitz bei Dresden. Die hatte Volker Karp organisiert, Kammervirtuos der Dresdner Philharmonie.

Karp war bei einem Gastspiel seines Orchesters in Japan auf Goldberg gestoßen und verfolgte die Spur mit unendlicher Geduld, pflegte Verbindungen zur Familie und sammelte, was er über Goldberg erfahren und gewinnen konnte. Die Ausstellung in Hosterwitz war eine gute Sache, doch in Berlin, wo Goldberg aufwuchs, wirkte, vertrieben und gedemütigt wurde – nichts. Die Aufarbeitung der Nazizeit sollte mit „Das Reichsorchester“ (Film und Buch) erledigt sein. Die Abweisung Goldbergs durch den Intendanten Stresemann im Jahr 1964 wurde verschwiegen.

Einen unerwarteten Beitrag zur Erinnerung an Goldberg leistete 2008 Miriam Friedman-Morris, die Tochter des Malers und Pressezeichners David Friedmann, der etwas später als Goldberg bei Carl Flesch Geigenunterricht genommen, sich dann aber der Malerei zugewandt hatte. Die Tochter stellte in Archiven gefundene Pressezeichnungen des Vaters in der Philharmonie aus, eine dieser Zeichnungen zeigte Szymon Goldberg. Sie hatte Goldberg später im Hause ihrer Eltern kennengelernt.

Heute ist Goldbergs 20. Todestag. In diesem Jahr haben die Philharmoniker mit Jubiläen alle Hände voll zu tun: 50 Jahre Eröffnung der Philharmonie, zehn Jahre Education-Programm (dank Deutsche Bank), 25 Jahre Blechbläserensemble – da kommt nun noch der Dresdner Karp mit Goldberg!

Gut, sie richten es ein. Nicht heute, sondern im November, wenn das Erwähnte abgefeiert ist. Intendant Martin Hoffmann hat es versprochen. An Szymon Goldberg wird doch noch erinnert werden.

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