…et mourir de plaisier – Skandal und Verführung: Nagisa Oshimas „Im Reich der Sinne“ bei „Paly it again..!“ in der Berlinale Retrospektive

„Corrida der Liebe“ lautet die Übersetzung des japanischen Originaltitels „Ai no corrida“. Jener Stierkampf symbolisiert die Verknüpfung von Lust und Tod, in welchem sich die junge Prostituierte Sada (Eiko Matsuda) und Kichi (Tatsuya Fuji) einander hingeben. Der Teehausbesitzer und das Hausmädchen Sada verlieben sich im Japan des Jahres 1936 ineinander, eine Liebe, welche zu unstillbarer Leidenschaft wird. Ergreift zu Beginn Kichi die Initiative, übernimmt Sada mit jedem Liebesakt mehr die dominante Rolle. Bis zur Erschöpfung üben die beiden Partner ihre Sexualität aus. Ihre sexuelle Obsession mündet in lebensbedrohlichen Strangulationsakten. Nur im Tod, glauben Sada und Kichi, können sie völlig und ewig vereint sein. Wie bei der Corrida in der Stierkampfarena ist für das Paar bei der Corrida der Liebe das Blutvergießen Teil der Lust. In Blut schreibt Sada schließlich ihre Liebe auf Kichis toten Körper. Ihre und Kichis Geschichte wird in Japan zum modernen Mythoas werden.

„Im Reich der Sinne“ beschränkt sich ganz auf die Welt der Sinnlichkeit. Eine stringente Handlung ist nur rudimentär vorhanden. Oshima konzentriert sich ganz auf die unmittelbare Darstellung der sexuellen akte. Aus dieser Reduktion gewinnt „Im Reich der Sinne“ seine dramatische Stärke. Oshima erzählt keine Geschichte, sondern verharrt streng in der Position des Beobachters. Er dämonisiert seine Charaktere nicht, er idealisiert sie nicht. Weder vulgarisiert er, noch beschönigt er die Liebesszenen. Jene durch Weichzeichner, schmeichelnde Ausleuchtung und kühle Ästhetik geprägte Optik, die in den späten Siebzigern als „porn chic“ das Genre des pornografischen Films vertretbar machte, ist Oshimas zwischen Naturalismus und Expressionismus oszilierender Kameraführung entgegengesetzt. Insofern ist „Im Reich der Sinne“ alles andere als ein kommerzieller Film. Im Gegensatz zu stereotypen Pornofilmen bemüht sich „Im Reich der Sinne“ nicht darum, zu gefallen. Oshima interessiert es nicht, ob der Zuschauer erregt ist. Ihn interessiert die Erregung seiner Charaktere.

Diese Erregung fängt er vom flüchtigsten Anklang bis zum Orgasmus präzise mit der Kamera ein. Ein Niederschlagen der Augen besitzt für Oshima die gleiche erotische Ausstrahlung wie der vollzogene Akt. Die gleiche Hingabe, mit welcher sich die Partner einander widmen, schenkt Oshima seinem Sujet. Trotz seiner detaillierten Beobachtungen der sexuellen Aktivitäten der Partner ist „Im Reich der Sinne“ nicht voyeuristisch. Voyeurismus schließt die Lust des Beobachtenden ein. Doch an Oshimas Werk ist diese Lust nicht spürbar. Genauso fehlt ihm die Heimlichkeit, mit welcher der Voyeur meist beobachtet. Sada und Kichi genieren sich nicht. Ihre Sexualität leben sie offen und sichtbar vor aller Augen. Am Ende, welches nicht gezeigt, sondern durch einen Bildtext erzählt wird, irrt Sada mit dem abgetrennten Glied ihres Geliebten durch die Stadt. Ihre Lust trägt sie somit unmittelbar und sinnbildlich vor sich her. Nicht zuletzt scheint es dieser für eine wahre Geschichte fast sureal dramatische Ausgang der Beziehung gewesen zu sein, welcher den Regisseur faszinierte. Einzig in der Endszene weicht er von seinem sachlichen Ton ab und erlaubt sich eine Stilisierung. Ineinander verschlungen liegen die Körper der Liebenden nebeneinander. Der tote Leib Kichis und der lebende Sadas erinnern an ein Ornament oder ein japanischen Schriftzeichen. Ihre letzten Worte hat Sada mit Blut auf die Haut ihres Geliebten geschrieben: „Sada und Kichi, niemand anderes.“ Die im Tot vereinten Körper ergänzen die Buchstaben um ein letzte Zeichen, welches ihren gesamten Sinn umfasst.

In Japan war der Film nur stark gekürzt zu sehen. Geschnitten wurde das Werk in Frankreich, um eine Konfiszierung des Materials zu umgehen. Erst zwei Jahre nach seiner Uraufführung auf der Berlinale gelangte „Im Reich der Sinne“ in die deutschen Kinos, dieses mal mit dem Prädikat „besonders wertvoll“.

Titel: Im Reich der Sinne

Berlinale Retrospektive

Land/ Jahr: Japan, Frankreich 1976

Genre: Erotikfilm

Regie und Drehbuch: Nagisa Oshima

Darsteller: Eiko Matsuda, Tatsuya Fuji

Laufzeit: 108 Minuten

Bewertung: *****

Vorheriger ArtikelIm Krebsgang – Der Krabbenkutter war ihr Schicksal: Sabus sozialpolitische Groteske „Kanikosen“ im Berlinale Forum
Nächster ArtikelDie Frau mit der Kamera – Helke Sander sinniert über „Die allseitig reduzierte Persönlichkeit“ in „Redupers“ im Berlinale Sonderprogramm 40 Jahre Forum