Eine Hommage an Mario Vargas Llosa und sein Radio Central – Zum Nobelpreis erscheint das herrliche Hörbuch „Tante Julia und der Kunstschreiber“

Auf unseren 10 CDs, von denen jede ein Genuß ist, weshalb man einfach weiterhört, obwohl längst anderes zu tun ist, werden nun diese Hörspiele im Hörbuch so herrlich mit authentischen Radioansagen und lateinamerikanischer Musik, dieser aufdringlichen Marktschreierstimme und den tragisch-trügerischen Worthülsen, Schluchzen und emotionalen Ausbrüchen garniert, daß sich der Rhythmus und die Freude auf die folgende Sendung auf die deutschen Zuhörer überträgt. Wir haben das ausprobiert und auch andere zuhören lassen, die vom Inhalt keine Ahnung hatten, und allein die Art und Weise der Aufnahme als genial bezeichneten. Dem schließen wir uns an.

Wenn nun dieses Lob für Produkt und Produktion heute erfolgt, hat das viel mit der gestrigen Rede des Literaturnobelpreisträgers Llosa zu tun und seiner Ehrung am kommenden Freitag. In der gestrigen Rede, in der er eine Wahrheit über Literatur formulierte: „Wir wären schlechter als wir sind, ohne die guten Bücher, die wir gelesen haben, konformistischer, weniger aufbegehrend“, ging er vor allem auf seine Kindheit und Jugend und die Familienverhältnisse ein. Dazu sagt er: „In diesen Jahren war das Schreiben für mich ein Spiel, für das ich von meiner Familie gefeiert wurde, ein charmantes Talent, das mir, dem Enkel, Neffen und vaterlosen Sohn, Applaus einbrachte, denn mein Vater war ja gestorben und im Himmel. Ein großer, gutaussehender Herr in Marineuniform, dessen Foto auf meinem Nachttisch ich jeden Abend vor dem Schlafengehen nach einem Gebet küßte. An einem Morgen in Piura, von dem ich mich möglicherweise bis heute nicht erholt habe, enthüllte mir meine Mutter, daß dieser Herr in Wirklichkeit noch am Leben war. Und daß wir noch am selben Tag zu ihm nach Lima ziehen würden. Ich war damals elf Jahre alt, und nichts sollte mehr sein wie zuvor.“

Diesen Vater erleben wir dann im Hörbuch „Tante Julia und der Kunstschreiber“. Ein strenger Herr, vor dem der Sohn einen Riesenrespekt hat, Angst auch, aber noch mehr stürmisch-jugendliche Liebe für seine Tante Julia. Würde nur diese Liebesgeschichte uns nahegebracht, mit dem Auf und Ab und dem wahrheitsgemäßen Schluß, daß die beiden einen liebeunterstützenden oder auch dummen Bürgermeister finden, der die beiden trotz des fehlenden Einverständnisses der Eltern, was bei Minderjährigen Pflicht ist, traut und so eine legale Ehe zustandekommt, das würde uns nie und nimmer die zehn CDs fesseln. Wir haben aber eine nach der anderen ’verschlungen`, was an den unglaublichen Geschichten liegt, die dieser Pedro Camacho, die heimliche Hauptfigur des Romans, als Hörspiele schreibt.

Wenn wir nun das Lob des Autors, das er gestern in Stockholm der Tradition des Erzählens zukommen ließ, von Zeiten sprach, als Menschen in primitiven Gesellschaften schon dem Erzähler lauschten und das Erfinden von Geschichten das Leben zusammenhielt, kann man das bruchlos auch auf den Erfindungsgeist des Seifenopernhörspielautors in „Tante Julia und der Kunstschreiber“ anwenden. Wenn Llosa sagte: „Jene Geschichten, Fabeln, Mythen und Legenden, die zum ersten Mal wie eine neue Musik für die von den Geheimnissen und Gefahren einer fremden bedrohlichen Welt eingeschüchterten Zuhörerschaft erklang, mußten ein erquickendes Bad in einem stillen Gewässer darstellen, für diese stets in Alarmbereitschaft befindlichen Gemüter, deren Dasein vor allem aus Essen, Obdachsuche, Töten und Geschlechtstrieb bestand. Von dem Moment an, in dem sie, angeregt von Geschichtenerzählern, gemeinsam zu träumen, ihre Träume zu teilen begannen, befreiten sie sich aus dem Joch der Überlebens, diesem Strudel aus verrohenden Tätigkeiten, und ihr Leben wurde Traum, Freude, Imagination”¦“

Wir dagegen sitzen bequem im Sessel oder der Couch, viele im Auto und hören diese skurrilen, hinterfotzigen, so total unwahrscheinlichen Geschichten, daß sie einfach wahr sein müssen, weil so dumm niemand etwas erfindet, hören von der Engelmacherin, die es nicht schafft, und das Kind trotzdem lebt, von dem Zeugen Jehovas, an dem der rechtschaffene Richter, der noch jeden vor Gericht hinbekam, verzweifelt, von dem, der wegen Vergewaltigung nicht verurteilt wird, sondern in die Psychiatrie kommt, weil er die in der gleichen Wohnung weilende blühende und jungfräuliche Musikerin sowie zwei knackige Schwestern von Zwanzig verschmähte und stattdessen einer dicken, häßlichen Fünfzigjährigen Gewalt antut, da muß doch einer verrückt sein, wenn er das macht!, ach wir können diese mitten aus dem Leben kommenden Geschichten nicht alle erzählen. Aber wir werden nicht müde, sie eine nach der anderen wieder und wieder zu hören.

Denn das hat es auch für uns noch nie gegeben. Daß wir, nachdem wir alle zehn CDs gehört und uns nun von diesem Kunstschreiber und seiner Julia verabschiedet und alles Gute gewünscht haben, einfach wahllos noch einmal einige CDs uns ’reinziehen`, weil die Geschichten in den Hörspielen des Pedro Camacho und Radio Central so unglaubliche Komik enthalten, daß sie für viele Lacher und Schmunzeln immer wieder gut sind, weil man jedes Mal eine neue Frechheit, eine neue Petitesse, eine neue Hörqualität entdeckt, die eindeutig an den Machern dieser Aufnahme liegt. Deshalb wollen wir diese betont hervorheben: die Sprecher André Jung, Herlinde Latzko, Christoph Bantzer u.v.a., Hörspielfassung/Co-Regie: Daniel Howard, Regie: Claude Pierre Salmony, Geräuschaufnahmen in Peru: Regula Renschler, Produktion: Schweizer Radio DRS 2002. Dem Hörverlag ist zu danken, daß man diese Fassung erwerben kann. Man sollte es tun!

Mario Vargas Llosa, Tante Julia und der Kunstschreiber, Hörspiel, Laufzeit 723 Minuten, 10 DC, Hörverlag

Mario Vargas Llosa, Tante Julia und der Kunstschreiber, Roman, als gebundene Ausgabe und als Taschenbuch beim Suhrkamp Verlag

Vorheriger ArtikelDogan Akhanli aus türkischer Untersuchungshaft entlassen
Nächster ArtikelWillensfreiheit aus neurobiologischer, strafrechtlicher, philosophischer und theologischer Sicht – Serie: Willensfreiheit, Entscheidungen, Verantwortung und Schuld am Beispiel des Strafvollzugs und des Krankheitswesens (Teil 1/2)