„Eine Geschichte ständiger Verdrängung“ – Im Gespräch mit Renate Günther-Greene über ihren Dokumentarfilm „Die Unwertigen“

Sie wirkt gefasst, als sie den Kinosaal verlässt. Eine ernste Frau, die mit ruhiger Stimme spricht. Den Film hat sie schon mehrfach gesehen, ihren Film. „Das Thema ist im Film ganz neu. Das gab es so im Kino noch nicht.“ Doch es ist mehr als das einzigartige Thema, welches „Die Unwertigen“ beeindruckend und bezwingend relevant macht. „Kinder, die in der Naziideologie als unwert galten, wurden aussortiert und umgebracht. So bin ich auf den Titel „Die Unwertigen“ gekommen.“ Als Impuls für ihren Dokumentarfilm nennt sie das Schicksal eines Bekannten. Anfang der vierziger Jahre kam er, von den Nazis eingestuft  „als nicht erziehbar“, mit vier Jahren in den Euthanasiepavillon der Nervenheilanstalt Spiegelgrund in Wien. Im Gespräch berichtet sie auch von persönlichen Kindheitserlebnissen: „Ich kenne das, keinen Kontakt zur Mutter zu haben. Ich war selbst für vier Jahre in einem Heim.“

Besonders schockierend empfindet sie, dass Erziehungsmethoden und Wertesystem der SS-Zeit bis Ende der 60er Jahre beibehalten wurden: „Die haben sich genauso verhalten, wie die Nazis. Es war das gleiche Gedankengut. Hätte sich nicht eine Psychologin, Frau Zovkic, für Frau Schreyer eingesetzt, wäre sie immer noch eingesperrt. Die wertlosen Kinder lebten in einer gesellschaftlichen Nische nach dem Krieg. Keiner kümmerte sich um sie. Meistens war es Heime der Diakonie oder katholische Heime. Aber sie verhielten sich nicht christlich. Die Gesellschaft hat das damals nicht in Frage gestellt.“ Über das Finden der „unwertigen“ Kinder erzählt Renate Günther-Greene: „Es war ein richtiger Jugendtourismus. Die haben die Kinder quer durch Deutschland geschippert, um die Spuren zu verwischen. Dann wurden die Eltern lange nach dem Tod benachrichtigt. Teilweise haben Angehörige gemerkt, daß da etwas nicht stimmt. Es war das gleiche Prinzip wie zur Nazizeit.“

Drei Monate recherchierte Renate Günther-Greeene, um ein Exposé  zu verfassen und sich in das Thema einzuarbeiten. Sie hatte die verbliebenen Dokumente vor Augen, hat die Orte besucht, mit den Betroffenen gesprochen. „Das Recherchieren war schlimmer als das, was ich beim Dreh erlebt habe. Es war erschütternd festzustellen, dass man die Kinder aussortiert hat wie wertlosen Müll.“ Mehr als zwanzig Fälle recherchierte Renate Günther-Greene. Die Täter bleiben im Dunkeln. Günther-Greene: „Das ist die Erwachsenengeneration der Dreißiger. Die sind alle tot.“ – „Aus dem Leben geschlichen“, sagt Richard Sucker in „Die Unwertigen“ mit bitterer Stimme. Über seine Kindheitserlebnisse als von den Nazis in ein Heim Gesperrter schreibt er in dem Buch „Schrei zum Himmel“. Einmal gelang es der Regisseurin, einen der Täter ausfindig zu machen: „Einen Erzieher habe ich getroffen, der ist über 90 gewesen. Aber er hat nicht genehmigt, daß ich das Gespräch veröffentliche.“ Die Bezeichnung „Erzieher“ für die Aufseher in den Heimen scheint ihr zuwider. Nach den Berichten der ehemaligen  Heiminsassen scheint das Wort grotesk. In den Anstalten wurde nicht erzogen, es wurde eingesperrt, gestraft, an Seele und Körper misshandelt. Die Betreuer waren Wärter, die Kinder Gefangene. Hilfe für die Opfer gab es nicht, beklagt Günther-Greene: „Das Problem wurde gar nicht erkannt. Es gab keine psychologische Betreuung. Nichts.“

Schuld daran ist vor allem die unveränderte entwertende Einstufung der gequälten, ihren Familien weggenommen Überlebenden als eigentliche Schuldige. Wie andere während des Nationalsozialismus verfolgte Gruppen, zum Beispiel Homosexuelle, wurden die Kinder als  Schuldige betrachtet. Günther-Greene erklärt: „Wie man in Deutschland mit dem Thema umging, das ist eine Geschichte ständiger Verdrängung.“ Indem sie „Die Unwertigen“ in eindringlichen Berichten das Erlittene schildern lässt, will Renate Günther-Greene zu einem angemessenen Täter-Opfer-Bild beitragen. Die Kinder und Jugendlichen sind die Leidtragenden, ob sie als geistig minderwertig oder asozial eingestuft wurden, die Naziideologie ablehnten oder Swing-Musik hörten. Günter Discher erinnert sich in „Die Unwertigen“, wie seine Liebe zum Swing ihn ins Jugend-KZ brachte. Discher, ein ehemaliges „Problemkind“, welches mittels Disziplin und Zwangsarbeit sozial gepaßt werden sollte. Eine Vorgehensweise, die in unserer Gesellschaft beängstigend nahe liegt. „Wir haben diese bewertende Sicht auf Jugendliche immer noch nicht ganz abgelegt. Noch immer wird von schwer erziehbaren Kinder gesprochen. Man wird nicht schwer erziehbar geboren. Die Kinder sind nicht Täter, sondern Opfer.“

Entschlossenheit liegt in der Stimme der Regisseurin. Die übergreifende Thematik ihrer Arbeit ist nicht ausschließlich die Ermordung und Aussonderung „unwerter“ Kinder und Jugendlicher während der NS-Zeit:„Es geht nicht nur um das Euthanasie-Thema, sondern die Sicht auf die Jugendlichen.“ Bis in die 60er Jahre bleibe die Unterteilung in „gute und „schlechte“ Kinder erhalten. Die Heimkinderdebatte und der Kampf  Herrn Suckers und anderer Betroffener um eine Entschädigung machen „Die Unwertigen“ zu einem Werk von besondere Aktualität und Brisanz. Ihr Wunsch ist, so Günther-Greene, mit „Die Unwertigen“ auf das Schicksal der Heiminder aufmerksam zu machen und die Zusammenhänge verständlich zu machen.

Die Filme der engagierte Filmemacherin  handeln immer von Ausgeschlossenen, am Rande der Gesellschaft Stehenden:„Es geht um Flüchtlinge, den Verlust von Heimat und Beziehungen. Es sind alles Filme, die mit Ausgrenzung zu tun haben. Es scheint ein roter Faden in meiner Arbeit zu sein, von Menschen und Schicksalen zu berichten, die sonst keine Stimme hätten. “

„Die Unwertigen“ ist ein in seiner ergreifenden Kraft außergewöhnlicher Film. Ein wichtiges Werk, welches die Aufmerksamkeit einer breiten Zuschauerschaft verdient. Bisher hat „Die Unwertigen“ erst einige engagierte Kinos gefunden. Die Regisseurin Renate Günther-Greene hofft , „…dass es  möglich ist, diesen Film in vielen Städten zu zeigen. Denn „Die Unwertigen“ ist kein Film, der massenweise Geld einbringt. Man kann nur hoffen, dass  Kinos ihn spielen, weil sie sich gesellschaftlich diesem Thema verpflichtet fühlen.“

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Titel: Die Unwertigen

Kinostart: 19. November 2009

Regie und Buch: Renate Günther-Greene

Mit: Waltraut Richard, Richard Sucker, Günter Discher, Elfriede Schreyer

Verleih: Agentur Kulturprojektor, Daniel Karg, Tel.: 05132 857 99 07, Fax: 05132 856 004, Mobil: 0179 541 7332, daniel.karg@kulturprojektor.de

Internet: www.kulturprokjektor.de, www.die-unwertigen.de

Weiterführende Links:

Verein ehemaliger Heimkinder e.V.: www.veh-ev.info

Runder Tisch „Heimerziehung in den 50er und 60er Jahren“: www.rundertisch-heimerziehung.de

Peter Wensierski: www.wensierski.info

Heimseite: www.heimseite.eu

Regina Page: www.regina-page.de

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