„Ein Volk, das die Freiheit einmal erobert hat, wird sie immer wieder gewinnen!“ – Über das Buch „Maries Schuldschein“ von Werner Meffert

Mit der Zeit wurde es immer komplizierter. Als Napoleon die Macht ergriff und sich auch noch zum Kaiser ausrufen ließ, musste man sich nun ernstlich fragen, ob dies denn auch überhaupt noch jene Revolution sei, deren Sturm auf die Bastille so viele Menschen in ganz Europa gefeiert hatten. Zwar wurden die Adelsprivilegien nicht wiederhergestellt und die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz blieb bestehen, aber die Demokratie war wieder abgeschafft und die Freiheiten arg eingeschränkt. Andererseits begannen dann auch in Preußen irgendwann fortschrittliche Reformen, mit dem Namen des Ministers Stein verbunden, nachdem die preußischen Monarchen nach der verlorenen Doppelschlacht von Jena und Auerstädt bis in die hinterste Ecke ihres Reiches, nach Memel, geflohen waren. War dieses Preußen nun wirklich noch so ein finsterer Hort der Reaktion? Zudem liebte man natürlich Preußens schöne Königin Luise, die bei staatspolitischen Akten genauso gern ihren Busen zur Schau stellte, wie Napoleons Kaiserin Josephimne. Jedenfalls liebte man sie in Krefeld, was zum Herzogtum Cleve gehörte, und somit schon einige Jahrhunderte preußisch war, bevor die Franzosen kamen. In der vormaligen freien Reichsstadt Köln fand man sich leichter damit ab, nun irgendwie Franzosen geworden zu sein.

Marie ist die Tochter eines Kölner Papierhändlers, nicht arm, nicht reich, kein Bougeoies und kein Proletarier, eben das typische Bürgertum jener Zeit. Mit 19 erlebt sie ihren ersten Ball und schlägt sofort zu: Robert, ein junger Tuchhändler aus dem unweiten Krefeld ist der Erwählte. Erkundigungen werden angestellt: Robert besitzt das Tuchhandelsgeschäft zusammen mit seinem älteren Bruder. Die Familie sei um etliches wohlhabender als die der Marie und dazu auch noch gut katholisch wie die Kölner, was selten ist im protestantischen Krefeld. Also gibt es keine Einwände gegen eine baldige Eheschließung.

In Krefeld angekommen, muss Marie bald feststellen, dass die Familie ihres Mannes von den Krefeldern gemieden wird.Ob dies aus religiösem Vorurteil resultiert, fragt sie einen Vertrauten. Nein das sei es nicht, es liege an den Hungerjahren der Stadt. Roberts Familie handelt nicht nur mit Tuchen, sie lässt auch produzieren. Nicht in eigenen Werkstätten, nein, man beutet Heimarbeit aus. Die Weber bekommen die Baumwolle und weben das Tuch, das sie hinwiederum an Baumwolllieferanten verkaufen. Damals nannte man das Verlagssystem, wir würden heute Scheinselbständigkeit sagen. Doch so weit, so gut, das war weitgehend üblich und hätte keinen schlechten Ruf begründet.

Dann aber kamen die revolutionären Franzosen. Die führten in der Stadt ihre Währung ein. Das waren die Assignaten, Papiergeld, gedeckt durch die enteigneten Kirchenländereien. Aber selbst die Franzosen misstrauten dem Papiergeld und die Krefelder taten dies um so mehr. Die Waren in den Läden wurden immer knapper, man kaufte und verkaufte schwarz für Hartgeld. Bei den Kleinhändlern und Kleinproduzenten beruhte das auf Gegenseitigkeit und war so kein Problem. Anders bei denen, die nur ihre Arbeitskraft anzubieten hatten, wie die Heimweber. Diese mussten ihre Löhne in praktisch fast wertlosen Assignaten annehmen, da dies ja die offizielle Währung war. Die Tuche, das Produkt ihrer Arbeit, wurden in die unbesetzten Landesteile für Silbermünze verkauft. Für sehr sehr wenig Silber konnte man gigantische Mengen Assignaten erwerben. Der Mehrwert und die Profite dieser Verlagsbourgeois explodierten geradezu, aber der Preis der Ware Arbeitskraft sank unter ihren Wert, der Prolatarier konnte mit den beinahe wertlosen Assignaten seine Familie nicht mehr ernähren. Das waren die Krefelder Hungerjahre, die Roberts Familie reich gemacht hatten. Allerdings sei der Robert selbst, ihr fröhlicher lieber Mann, damals noch ein kleines Kind gewesen. Eine persönliche Schuld treffe ihn nicht. Sei älterer Bruder aber sei als raffgieriger Halsabschneider verschrieen.

Marie bekommt eine Tochter. Von den Stadtbürgern mehr oder minder gemieden, spielt und trinkt Robert gern mit den französischen Offizieren. Doch beim Kartenspiel um Geld, kommt leicht Streit auf, wenn auch noch der Wein reichlich geflossen war. Es ist mehr Unfall als Totschlag, aber nach nur zwei Jahren Ehe ist Marie Witwe. Ihr steht der halbe Wert des Tuchhandelsgeschäftes als Erbe zu. Der Bruder des verunglückten Robert mag das Geld nicht auszahlen. Sie solle doch zu ihm ins Haus ziehen. Seine Frau ist schon ziemlich alt und er hätte sie gern als Zweitfrau zur linken Hand, wie man es damals nannte. Dann bliebe auch das Geld in der Familie. Aber sie will nicht die Geliebte eines übel beleumundeten Raffkes werden. Sie besteht auf dem Geld. Geschäftlich unerfahren, kann er sie mit einem geringen Anteil in bar und einem Schuldschein, fällig in ein paar Jahren, abfinden. Keine Angst, ich erzähle hier nicht das ganze Buch, denn das ist nur der Anfang. Den Schuldschein nicht bezahlen zu müssen und Marie doch noch in hinreichende Abhängigkeit zu bringen, um sie zu seiner Geliebten zu machen, wird der ältere Bruder des Verblichenen in den weiteren Kapiteln vor nahezu nichts zurückschrecken.

Die Spannungskurve des Buches verläuft etwa wie beim klassischen Drama: Sie steigt zunächst einmal schnell an. Zur Mitte des buches scheinen schon alle Probleme gelöst. Die Hauptprotagonisten scheinen ein bescheidenes bürgerliches Glück gefunden zu haben. Marie ist wieder in Köln, hat sich ein eigenes kleines Haus gekauft und sich mit dem ehrlichen Buchdrucker Jakob wiederverheiratet. Man gönnt es ihnen von Herzen, fürchtet aber zunächst um den Spannungsgehalt der weiteren Lektüre. Aber schon bald steigert sich die Spannung wieder auf bislang unerreichte Höhen und die verbliebenen Seiten sind nur noch wenige, wenn man meint, Maries Probleme seien unlösbar. Das alles fängt damit an, dass sich das Kriegsglück wendet.

Bislang hatte Bonaparte nur gesiegt, gesiegt, gesiegt. Aber mit dem in Spanien beginnenden Guerilla-Krieg wird er nicht fertigt. Er steigert sich in Spanien in bislang unerhörte Grausamkeiten der Unterdrückung des Volkes hinein. Dann will er auch noch Russland erobern und das bricht ihm das Genick. Schließlich wird er in der Völkerschlacht bei Leipzig von den verbündeten Gegnern entscheidend geschlagen und bald wird Blücher den Rhein überschreiten. Krefeld wird wieder preußisch und Köln erstmal von den Preußen besetzt. Der Wiener Kongress schlägt Köln und die gesamten Rheinlande dann endgültig den Preußen zu.

Dass die Preußen den Köllnern irgendwann ihren seit dem Mittelalter unvollendet stehenden Dom fertig bauen helfen werden, ahnt noch niemand und die Machtübernahme durch den bürokratischen Polizeistaat verkraften die früheren freien Reichsstädter nur schwer. Ach, unter den Franzosen war es doch freier! Ein preußischer Polizeikommissär, der sich ausgezeichnet auf die Bespitzelung der Bevölkerung versteht, hält Einzug in der Stadt.

Die Große Revolution der Franzosen hatte sich zwar, da eine bürgerliche, nicht gegen das Privateigentum an sich gerichtet, wohl aber schritt sie durchaus zu Enteignungen, wenn es darum ging, ihrer entschiedensten Gegner ökonomische Macht zu brechen. Nun, nach der scheinbar endgültigen Niederlage der Revolution werden unzählige Rückgabeforderungen geltend gemacht. In solchen Fällen, wo mehrere Jahrzehnte währende Entwicklungen der Eigentumsverhältnisse schlagartig rückläufig gemacht werden sollen, wird in der Regel mehr neues Unrecht geschaffen als vermeintlich altes Unrecht behoben.

Auch in Köln hatte es einen Grafen gegeben, der vor den revolutionären französischen Truppen die Flucht ergriffen und sich den bewaffneten adligen französischen Konterrevolutionären angeschlossen hatte. Die Revolution enteignete seinen Grundbesitz und versteigerte ihn. Eines seiner Häuser hatte nach mehreren Zwischenverkäufen die Marie erworben, für sich, ihren Mann Jakob und ihre Tochter aus erster Ehe. Aber der Graf ist lange tot und seine Erbin weiß gar nichts von dem Haus. Aber es wird sich jemand finden, der sie von dem Anspruch informiert. Dann muss Jakob fliehen, mit Hilfe eines untergeschobenen Flugblattes politisch denunziert. Der Fisch scheint an der Angel, die Maus in der Falle!

Unser Herr Polizeikommissär ist zwar ein politisch konservativer Bürokrat, aber nicht ohne ein gesundes Empfinden für Recht und Unrecht. Stillschweigend wird er mit revolutionär gesinnten Männern an einem Strang ziehen, der jungen Frau Marie zu ihrem Recht und zu ihrer Freiheit zu verhalfen. Sie geht mit ihrer Familie nach Frankreich. Dort herrscht zur Zeit zwar auch die Reaktion, aber: „Ein Volk, das die Freiheit einmal erobert hat, wird sie immer wieder gewinnen! Die Idee von Freiheit und Gleichheit wird überleben – ach was, nicht nur überleben, sie wird sich durchsetzen! Die nötigen Köpfe finden sich schon, auch wenn sie dann andere Namen tragen.“ Marie ist mittlerweile an die 30 Jahre alt, sie wird die nächste revolutionäre Erhebung der Franzosen in der Tat noch in ihren mittleren Jahren miterleben.

Als ostdeutschem Leser kommen einem da zahlreiche Assoziationen. Da ist der gespaltene Sinn des Volkes im gespaltenen Land, gespalten zwischen einer überinstitutionalisierten Revolution, die den Schwung des Sturms auf das Winterpalais längst verloren und sich von wahrer Volksherrschaft sehr weit entfernt hat, und einem vermeintlich freieren Vaterland, in dem die alten Besitzer und Eliten fortherrschen, wenn auch etwas gemildert durch ein paar fortschrittliche Reformen. Dann kommt der Sieg dieses vermeintlich freieren Vaterlandes und die Rückübertragungsansprüche schaffen mehr neues Unrecht als sie vermeintlich altes Unrecht beheben. Und auch manch ein bürokratischer Funktionär des roten Preußens hatte sein Herz auf dem rechten Fleck behalten. Mit hemmungsloser Schwarz-weiß-Malerei ist der wirklichen Geschichte nicht beizukommen. Und schließlich, die Hoffnung bleibt: „Ein Volk, das die Freiheit einmal erobert hat, wird sie immer wieder gewinnen! …“ Auch die Herrschaft der Finanzoligarchie wird nicht ewig währen. Das alles sind, wie gesagt, meine Assoziationen. Der Autor meidet, sehr zum Vorteile des Buches, alle vordergründigen Aktualisierungen des Stoffes.

Gerade hierin liegt die Größe des Buches: Der Autor ist ein ausgezeichneter Kenner jener Zeit über die er schreibt. Leider nicht selbstverständlich in diesem Genre! Er kann sich in diese Epoche hineindenken, -fühlen, -leben. Dadurch gelingt es ihm auch, zu vermeiden, seinen Figuren Haltungen, Denkweisen, Motive, Mentalitäten und Redeweisen von Menschen des 20. bzw. 21. Jahrhunderts zu unterschieben. Diese Marie ist eine emanzipierte Frau ihrer Zeit, die mit viel Courage gegen Vereinnahmung durch Macht und Geld, für ihre Freiheit und ihr Glück kämpft. Aber ihr Glück bleibt natürlich ein bürgerliches. Er macht aus ihr keine Karrierefrau with hundred lovers. Gesamturteil: Dieser historische Roman ist ein Stück wahrhaft großer Literatur und so ein Urteil fälle ich nicht oft.

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Werner Meffert: “Maries Schuldschein – Historischer Roman“, Droste Verlag GmbH, Düsseldorf 2008

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