Ein Hauch von Apokalypse – George Benjamins „Written on Skin“ in der Oper Bonn

© Foto: Thilo Beu

Doch noch ist es nicht soweit. Denn immer weiter stolpert der Mensch als des Menschen Wolf ins Halbdunkel der Bühne eingetaucht durch die raue Gegenwart. Seine Mitmenschen auf dem gemeinsamen Lebensweg drangsalierend bis hin zur Gaskammer, mit deren Duschköpfen sich bereits eine Vorwegnahme der Apokalypse anzukündigen scheint. An der Seite der Rastlosen eine rotierende Beförderungsanlage, auf der sich das mitgeführte Reisegepäck eine Zeitlang zügig voran bewegt. Bis es schließlich am Ende des Bandes in die Tiefe stürzt, um dann schnell im Orkus des Vergessens zu verschwinden.

Das Zentrum  des Bühnengeschehens in der Inszenierung und Ausstattung von Alexandra Szemeredy und Magdolna Parditka  jedoch bildet die eigenwillig gestaltete schiefe Ebene eines Wohnraums. Hier residiert der Landbesitzer (Evez Abdulla, Bariton), der anmaßend die Vollmacht für sich beansprucht, in seinem häuslichen Bereich wie ein Gott zu richten über Lebende und Tote. Makellos kommt er sich dabei vor, selbst wenn er es jenseits des guten Geschmacks sichtlich genießt, seine Hände hin und wieder in Blut zu baden.

Er ist der dunkle Schatten über dem Mädchen Agnes (Miriam Clark, Sopran), das ihm als seinem „Protector“ anvertraut ist. Doch statt rollenkonform für ihr Wohlergehen zu sorgen, spielt er sich in seiner Menschenfeindlichkeit und Frauenverachtung  auf wie ein Zwillingsbruder von König Blaubart. Indem er die ihm Anvertraute durch eine lange Halskette zähmt und kontrolliert wie ein Stück Vieh, nimmt er ihr die Luft zum Atmen und zwingt sie, ihm stets bedingungslos zu Diensten zu sein.

Von häuslicher Harmonie also keine Spur. Vielmehr ein Abhängigkeitsverhältnis, das von beiden nicht infrage gestellt wird. Dabei stimmlich markant der Protector, das Geschehen zunächst dominierend, und bei seinen wuchtigen Einschüchterungsversuchen keinen Widerspruch duldend. Entsprechend zurückhaltend Agnes, die es nicht wagt, gegen ihren Peiniger aufzubegehren

Das Blatt wendet sich jedoch, als der Protector einen jungen Künstler (Terry Wey, Countertenor) dazu  verpflichtet, seinen Ruhm mit Hilfe eines kostbaren Buches zu verewigen. Ein Kunstwerk aus Pergament, das – „written on skin“ – die von ihm praktizierte tyrannische Ordnung dokumentieren soll. Als ein nach seinen persönlichen Wertmaßstäben und Vorstellungen verfasstes und dekoriertes Werk für den eigenen Hausgebrauch, um dem wahren „Buch des Lebens“ zuvorzukommen?

Doch gerade in diesem Versuch, die bestehenden Verhältnisse für alle Ewigkeit zu zementieren, liegt ungeahnt etwas Katalysatorisches. Denn in dem Maße wie Agnes als heranreifende Frau in sensiblen bis ausdrucksstarken Dialogen ihre Gefühle für den jungen Künstler entdeckt, sieht sie nun auch sich in einem neuen Licht. Verbittert und immer mehr auf Augenhöhe mit ihrem Peiniger, fordert sie von diesem das ihr bislang verweigerte Geständnis ein, längst kein Kind mehr zu sein.  

„Wer ist würdig, das Buch zu öffnen?“ leuchtet es inzwischen in blutroten Lettern von der Hauswand des Protectors herab. Es ist der junge Künstler, der mit dieser zentralen Frage aus der Johannes-Apokalypse gedanklich zurückführt zum wahren „Buch des Lebens“. Und damit auf der Suche nach einer Antwort  verweist auf die im Vordergrund deutlich erkennbare Gestalt des Lammes. Über dem jedoch veranstalten zwei schwarz gekleidete Engel (Victoria Simmonds und Tamas Tarjanyi) ein rätselhaftes und zugleich leidenschaftlich geführtes Würfelspiel mit ungewissem Ausgang.

Es ist eine Inszenierung prall gefüllt  mit nicht immer leicht zu entschlüsselnden symbolischen Anspielungen. Zugrunde liegt ihr das Libretto von Martin Crimp, der darin thematisch  auf die Erzählung des provencalischen Troubadours Guillem de Cabestanh aus dem 13. Jahrhundert zurückgreift. Ein hochmittelalterliches Erbe also, das von Petrarca bis Ezra Pound wegen seines kantigen Inhalts stets neu das literarische Interesse auf sich zog.

Und nun auch das musikalische. George Benjamin wählte den Stoff  als Handlungsrahmen für seine erste Oper, die er als Kompositionsauftrag im Sommer 2012 für das Festival d’Aix-en-Provence ablieferte. Deutlich darin erkennbar die enge musikalische Beziehung zu seinem Lehrer  Olivier Messiaen sowie seine Auseinandersetzung mit der experimentellen zeitgenössischen Musik. So entstand ein musikalisches Werk, das den verstörenden Handlungsablauf  mit seinen dissonanten Klängen unmittelbar zugänglich macht und veranschaulicht.

Besonders im furiosen Finale, in dem der Protektor seine Gewalttätigkeiten ungebremst auf die Spitze treibt. Zunächst dadurch, dass er nach Art eines Aztekenpriesters dem jungen Künstler als Quittung für dessen Verstrickung in den häuslichen Umbruch das Herz herausschneidet. Und dieses – für den Betrachter nur schwer erträglich – mitsamt seinem Blut der herangereiften Frau zur Speise darbietet. Letztere hängt, von ihm festgenagelt an ihren eigenen Ketten, wie eine Gekreuzigte an der Wand. Beschmiert mit dem Blut ihres Geliebten, das der thematischen Formel „Written on Skin“ nun eine unerwartete neue Bedeutung verleiht.

Leib und Blut gar als die biblisch verstandenen Bestandteile der Eucharistie? Denn schnell stellt sich heraus, dass der junge Künstler nicht von dieser Welt ist. Eine Sphäre, die er nach seiner Auferstehung  über eine gewundene Himmelsleiter in liturgischer Schlichtheit verlässt. Einer der wenigen tröstlichen Momente in dieser die Fantasie vielfach beflügelnden Produktion.

Durchweg beeindruckend auch das Beethoven Orchester Bonn, das unter der Leitung von Hendrik Vestmann die moderne Partitur einfühlsam zu einem für die Zuhörer nachvollziehbaren Klangerlebnis ausgestaltet. Entsprechend ausgiebig der Beifall des Publikums an alle Beteiligten, gespendet in dem Bewusstsein, ein Stück moderner Opernliteratur neu für sich entdeckt zu haben.

Weitere Aufführungen: 28. Nov., 05. Dez. 2013

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