Ein Abenteuer, ein Spektakel, ein Rausch! – Oliver Sacks wunderbares Buch über Halluzinationen

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Oliver Sacks, der schreibende und noch immer praktizierende Neurologe von mittlerweile 80 Jahren ist in Deutschland vor allem durch seine Fallgeschichten „Zeit des Erwachens“ (mit Robert De Niro und Robin Williams verfilmt), „ Der Mann, der seine Frau mit dem Hut verwechselte“, „Der Tag, an dem mein Bein fortging“ und „Der einarmige Pianist“ berühmt geworden. Zuletzt erschien „Das innere Auge“ (2011) auf Deutsch. Im vorliegenden knapp 350 Seiten dicken Buch entführt uns Sacks einmal quer durch das Universum unseres Gehirns. Was können wir uns an Linien, Bildern, Gestalten, Gerüchen, Geräuschen und gar Doppelgängern halluzinieren?  Wie wirken sich Sehverlust oder Krankheiten wie Epilepsie, Migräne, Parkinson oder Narkolepsie auf unsere Wahrnehmungen aus? Amüsant, mit Quellenangaben und ausführlichen Querverweisen unterfüttert erzählt Sacks in fünfzehn Kapiteln von Fall- und Literatur-Beispielen. Es tauchen ebenso delirierte Zustände bekannter Dichter wie Absinth-Räusche und LSD-Trips anonymer Briefbekanntschaften (s.o.) auf, es geht aber auch ganz ohne Drogen. Eine eingangs beschriebene Fallgeschichte einer Frau, die uns das Charles Bonnet Syndrom näher bringt, erlebt beim Autofahren die Aufspaltung der vor ihr liegenden Straße in drei oder vier asphaltierte Straßen. Welche soll sie befahren? Was gruselig klingt, wird dennoch als  Halluzination wahrgenommen, nicht als Realität. Das kann noch verwirrender sein, wenn der eigene Körper als Doppelgänger erscheint, ganze Körperteile und -Regionen „verloren gehen“ oder schmerzen, obwohl sie seit Jahren nicht mehr vorhanden sind.

Oliver Sacks spart nicht mit autobiographischen Details, berichtet schonungslos von eigenen Drogen-Phasen und Medikamenten-Abhängigkeit mit entsprechenden Halluzinationen. Forschung und Selbst-Erforschung mit belegbaren Analysen gehen Hand in Hand bei ihm. „Über Menschen mit Halluzinationen“ kann als Höhepunkt und Verinnerlichung seiner jahrzehntlangen beinah fiebrigen Auseinandersetzungen mit dem menschlichen Gehirn betrachtet werden, erfüllt von einer tiefen Liebe zum Gestand seiner Bemühungen. Dem Menschen an sich. Danke, Oliver Sacks!

Fazit: Standardwerk zum Thema Halluzinationen, literarisch wertvolle und einzigartige Aufarbeitung universeller Begegnungen mit uns selbst.

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Oliver Sacks, Drachen, Doppelgänger und Dämonen, Über Menschen mit Halluzinationen, Aus dem Englischen von Hainer Kober, 347 Seiten, Rowohlt Verlag, März 2013, 22,95 €

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