Downstream = Mainstream: Der Niedergang von Lebens-Qualität in Deutschland – finanziell und kulturell

Dabei hat sich die regierende „Elite“ in Deutschland – nur drei Prozent der Bevölkerung sind in Parteien organisiert, aus denen die von allen zu wählenden Volksvertreter ausgefiltert werden – mit ihren Wahlversprechen schwer ins Zeug gelegt; Themenschwerpunkte sind „Kinder/Familie“, „Bildung“, „Arbeit“, „Migration“, „Gesundheit“, „Umwelt“, „Europa/Deutsche Einheit“. Kultur/Sport wird als „mitlaufendes Sorglos-Paket“ von der Politik zwar genutzt, aber aus der Betreuung weitgehend ausgeklammert (s. Fußball, Film). – In allen Themenschwerpunkten leuchten die Mängel und signalisieren die „Bedürftigkeit“ unserer Politik-Manager: Es gibt zu wenig Kindergartenplätze und das, obwohl es zu wenig Kinder gibt; in fast allen begehrten Studiengängen gibt es die Numerus-Clausus-Situation; die Arbeitslosenstatistik kaschiert die Zahlen für Aufstocker, 1-€-Jobber, Teilzeitbeschäftigte und Zeitarbeiter sowie lohngedumpte Leiharbeiter, außerdem ist nicht erkennbar, daß ca. 60.000 Ingenieure auf Jobsuche sind; Problemlösungen stehen an für die Zuwanderung Geringqualifizierter, Religionskonflikte, Ghettos, Gewalt, Sprachprobleme; Arznei- und Arztkosten sowie Versicherungskosten belasten die Versicherten in unerträglicher Höhe; Atomkraftwerke mit ihrer Laufzeitverlängerung samt Entsorgungsproblemen stehen zur Lösung an; der Soli ist zweckentfremdet und wird als unangemessene „Abzocke“ betrachtet,  die Kosten für die griechische „Rettung“ erscheinen als Belastungs-Gefahr für den deutschen Steuerzahler.

Offensichtlich ist der volkswirtschaftlich bereits reale, sozialpolitische Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft von unseren politischen Managern nicht ausreichend analysiert und in seinen Konsequenzen berücksichtigt worden.

Die Industriegesellschaft des letzten Jahrhunderts ist passé, heute gilt in den entwickelten Industrieländern das Prinzip der Dienstleistungsgesellschaft. Die politischen Parteien in Deutschland haben ihre politisch-sozialen Ziele zwar entsprechend gesteckt und Kindererziehung und Bildung, Gesundheit und Umwelt, Migration und internationale Zusammenarbeit auf ihre Schilde gehoben, allerdings ist diese so positiv klingende Prioritätensetzung nur vordergründig realisiert, hat sich doch in den letzten dreißig  Jahren, in denen der dramatische Wandel zur Dienstleistungsgesellschaft  vonstatten ging,  weder die Gesellschaft noch die hierzu verpflichtete Politik mit den tatsächlichen Herausforderungen dieser Umstrukturierung beschäftigt und konsensfähige Methoden angemessener Reaktionen erarbeitet. Die „Dienstleistung“,  die diesen Namen längst nicht mehr in vielen Bereichen verdient, hat einen schier unglaublichen Machtzuwachs erfahren: So wird z.B. das Bankwesen mit 800 Mrd. € Bürgschaft seitens des deutschen Staates abgesichert – das ist fast das Dreifache des jährlichen Bundeshaushalts, in dem ja alle Ressorts untergebracht sind: Familie und Soziales, Wirtschaft, Arbeit, Finanzen, Verteidigung, Inneres usw.!  Alleine die Hypo-Real-Estate-Bank wurde mit mehr als 500 Mrd. € gestützt! Das geschah, weil Gutachter (?) definiert hatten, dass die Systemrelevanz gegeben sei, d.h. dass bei Liquidation dieser  Bank-Institute Staat und Demokratie in Gefahr seien. Wesentlicher Grund ist hierbei, dass die aktuell hohe Staatsverschuldung über einige wenige Banken „läuft“, bei deren „Absturz“ unkontrollierte Abhängigkeiten des Staates entstehen können. Mangelnde Seriosität des Managements dieser Banken und mangelnde marktwirtschaftlich gebotene Streuung und Steuerung der Staatsverschuldung haben diese Situation bewirkt. Die tatsächlich kleine Gruppe von Finanz-„Dienstleistern“ hat offensichtlich das politische Staatsmanagement – und darüber strategisch die gesamte Volkswirtschaft – „im Griff“. Hat  unsere politische Führung den Wechsel zur Dienstleistungsgesellschaft doch nicht erkannt? Oder hat sie nur noch keine angemessenen „Dienstleistungsgesellschafts-Managementstrategien“ entwickelt? Die Zeit dazu drängt!

Die  heutige „verrückte“ Monopolstellung von Banken gegenüber dem Staat hat in Deutschland mit der Wiedervereinigung ihre erste Hoch-Zeit erlebt, als begonnen wurde, jährlich 200 Mrd. DM in das Gebiet der neuen Bundesländer zu transferieren, zum „Aufbau Ost“, wie es hieß. Diese 200 Mrd. DM pro Jahr wurden als Kredite von den deutschen Banken gegen Bürgschaften der Bundesregierung zur Verfügung gestellt. Bei angemessen zu bedienenden Zinslasten. Ein sicheres Geschäft für die Banken, die damit die größten monetären Profiteure der deutschen Einheit wurden. Inmitten ihrer Wachstumsphase erhielt damit die Dienstleistungsgesellschaft in Deutschland einen erheblichen Schub zur weiteren Entfaltung. Und das durch das Bankwesen, das mit der Dienstleistung „Geldverleih“ vor wenigen Jahrhunderten noch so wenig angesehen war, dass die diesen Beruf ausübenden Juden nur außerhalb der Städte wohnen durften. Was für ein Wandel der Gesellschaft!

Ein zweiter Bereich der wachsenden Dienstleistungswirtschaft ist das Versicherungswesen, das zweifelsohne auf dem Gesundheitssektor für die Allgemeinheit von besonderer Bedeutung ist. Für die Krankenversicherung wird in Deutschland jährlich ein Betrag von mehr als 300 Mrd. € aufgebracht  – das ist (s.o.) der Betrag, der dem gesamten Bundeshaushalt Deutschlands entspricht. Bezahlt werden davon mit zwei Dritteln des Betrages die Dienstleistungen der Ärzte und der Krankenhäuser samt angehängten dienstleistenden Institutionen, natürlich auch die Versicherungen selbst, die diesen Schatz verwalten; ein Drittel der Versicherungsleistungen geht an die pharmazeutische Industrie.  Lebens-, Sach- und Risikoversicherungen ergänzen das Spektrum der Versicherungs-Dienstleistungen.

Es sind drei große Dienstleistungsbereiche, die 75 % der Leistung unserer Volkswirtschaft ausmachen: 35 % werden von Banken und Versicherungen, Vermietungen und Unternehmensdienstleistern erbracht,  35 % erbringen Öffentliche und Private Dienstleistungen, die restlichen 30 % werden  vom Handel samt der zugehörigen Logistik plus Gastgewerbe erbracht. Vom Bruttoinlandsprodukt Deutschlands in Höhe von 2.520 Mrd. € im laufenden Jahr 2010 (z.T. hochgerechnet, s. Stat. BA vom 31.08.10) sind das 1.890 Mrd. €, die vom deutschen Dienstleistungssektor erwirtschaftet werden! Wobei die aktuellen (November 2010) Steuerschätzungen die Steuereinnahmen für 2010 um 60-200 Mrd. € erhöht sehen, wovon auf den Dienstleistungssektor zusätzlich 45-150 Mrd. € entfallen.

Die volkswirtschaftliche Bedeutung des Dienstleistungssektors ist also unbestritten.

Betriebswirtschaftlich hat sich die Erkenntnis dieser Bedeutung nur in einigen Bereichen durchgesetzt. Die Höhe der Gehälter spiegelt die Akzeptanz der Bedeutung mit wieder. Beispielsweise sind im produzierenden Gewerbe die Vertriebsleistungen im betrieblichen Gehaltsspektrum am höchsten honoriert, gefolgt von  Entwicklung, Einkauf, Kalkulation, sonstige Administration und schließlich der den Mehrwert schaffenden Fertigung. Innerhalb der Fertigung sind die innerbetrieblichen Serviceleistungen für Sicherheit, Gesundheit und Umweltschutz, Qualität, Instandhaltung von Maschinen und Gebäuden, Logistik auf einem mittleren Gehaltsniveau angesiedelt, mitunter auch durch Outsourcing abgesondert. Diese meist vom Betrieb für sich selbst zu leistenden Querschnitts-Dienste kämpfen also um ihre gehaltliche Anerkennung.  Durch Outsourcing tritt hier ein langsamer Wandel ein, der allerdings den einzelnen Arbeitnehmern noch nicht zugute kommt. 

Dienstleistungen des Betriebes für andere, vor allem für Kunden, enthalten ein riesiges wirtschaftliches Potential, insbesondere im internationalen Bereich. Dieser industrielle Service, der vor allem auch im After-Sales-Geschäft enthalten ist, kann durch Sicherung für den Hersteller der deutschen Exportwirtschaft zusätzliche Impulse geben, die das einzelne Geschäftsvolumen mehr als verdoppeln können: langfristige Serviceverträge, Vor- Ort-Präsenz mit Ersatzteilen und Servicepersonal, BOT-Strategien. Diese After-Sales-Strategie zum erfolgreichen Customer-Relation-Management führt gleichzeitig zur Eindämmung der ergebnisschädlichen Piraterie, die sowohl bei den Kernprodukten als auch bei den zugehörigen Serviceleistungen zu verzeichnen ist. Bei den im Ausland zu erbringenden industriellen Serviceleistungen für von deutschen Herstellern gelieferte Waren liegt der Umfang der von deutschen Unternehmen erbrachten Leistungen im einstelligen Prozentbereich. Welche Dimensionen hier brachliegen, zeigt beispielsweise der Vergleich mit dem inländischen Pkw-Markt: hier liegt das Reparatur- inkl. Ersatzteilgeschäft volumenmäßig höher als das Neuwagengeschäft.

Damit das industrielle Service-Geschäft funktioniert, müssen vor allem die Humanressourcen in geeigneter Form zur Verfügung stehen: motivierte, gut ausgebildete, gesunde Mitarbeiter/Manager. Die Dienstleistungen zur Sicherstellung dieser Ressourcen erbringen die Personalentwicklungen der Unternehmen z.T. selbst, zum größten Teil werden sie aber von privaten und öffentlichen Dienstleistern erbracht, unterstützt von der Politik und der Administration. Kindergärten, Schulen, Hochschulen, Krankenhäuser sind die Einrichtungen, die diese  Ressourcen „produzieren“. Diesen Bereichen gilt die besondere Aufmerksamkeit. Hier entstehende Fehler wirken sich langfristig aus! Die personelle und sachliche Ausstattung dieser Einrichtungen entscheidet über die Zukunft der Volkswirtschaft. Es geht also beispielsweise nicht darum, „wie diese Personalressourcen möglichst schnell und möglichst billig produziert werden“, sondern darum, „wie diese Personalressourcen in der benötigten Zahl und Qualifikation zur Verfügung stehen können“.

 Kontraproduktiv ist hierbei also die Strategie des Sparens am falschen Objekt: Sollen die Schüler gemäß „Pisa“ besser qualifiziert werden, müssen die Ausbildungsbedingungen verbessert werden: kleinere Klassen, Aktualisierung des Unterrichtsstoffes, bessere Qualifizierung der Lehrer, bessere Bezahlung der Lehrer, bessere Sachmittelausstattung der Schulen; ein Besuch als interessierter Alumni eines Gymnasiums in Berlin überzeugt sofort davon, daß Schüler und Lehrer total überlastet sind, daß Sachmittel fehlen – Schüler und Lehrer verschleißen, bevor ihr Produkt, ein reifegeprüfter Schüler oder eine reifegeprüfte Schülerin, auf das Leben losgelassen werden kann.

Das geht beispielsweise bei den nachfolgenden Ausbildungsstufen im Hochschulbereich so weiter: 80 % der in Deutschland Studierenden der Ingenieurwissenschaften besuchen eine der 150 Fachhochschulen; die dort tätigen Professorinnen und Professoren haben eine Lehrverpflichtung von 19 Unterrichtsstunden pro Woche, plus Vor- und Nachbereitung, plus Klausurkorrekturen, plus Studentenberatung, plus Engagement in der Hochschulverwaltung und plus – last not least – dringend erwünschter Forschungsleistung, für die es selten genug Freistellungen von der Lehrverpflichtung gibt. Die Bezahlung ist bei alledem mehr als bescheiden: brutto gibt es für W2-besoldete Professoren monatlich 3.800,- €, was  bei dem oben geschilderten Aufwand einem Stundensalär von weniger als 15 € entspricht.  Netto bleiben davon ca. 60 %, wovon neben den Lebenshaltungskosten und Miete  auch noch beruflich benötigte Sachmittel wie Computer, Drucker/Kopierer usw. bezahlt werden müssen. In der Räumlichkeit der Hochschule entspricht die professorale Ausstattung der unangemessen niedrigen Besoldung: kein persönlicher Arbeitsraum, Sekretariatsbetreuung nur über das Dekanat usw.; wo soll hier z.B. geforscht werden, wo soll der Lehrstoff aktualisiert werden. Als Folge dieser Misere wird ein qualitativer Abfall der Ausbildungsergebnisse unvermeidbar; das ist für die auf Ingenieurleistung angewiesene deutsche Wirtschaft eine wahrhaft katastrophale Perspektive.

Der auf die Studierendenwirkende Stress entsteht zum einen durch den Leistungsdruck an der Hochschule, zum anderen durch die finanzielle Zwangssituation der meisten Studierenden: Präsenz und Eigenleistung werden immer stärker gefordert; Studiengebühren und steigende Lebenshaltungskosten zwingen zum Jobben. Dieses Dilemma führt immer mehr zu leeren Unterrichtsräumen (bei hohen Einschreibungszahlen) und damit zu „schwachen“  Leistungsergebnissen. Schwache Absolventen schaden der Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen. Hier muß von der Politik gegengesteuert werden: weg mit den Studiengebühren, mehr Stipendien, bessere Ausstattungen der Hochschulen, bessere Bezahlung und mehr Freiräume für Professorinnen und Professoren!!! Wo will Deutschland denn in Zukunft seine für den internationalen Wettbewerb so nötigen Innovationen hernehmen, wenn nicht aus den Ingenieurausbildungsstätten, den Schmieden der Innovatoren!

Warum ist die Kultur ein so stiefmütterlich behandeltes Kind in der gegenwärtigen Gesellschaft? Liegt es nur an dem Mangel an Zeit seitens der Konsumenten? Oder hat unsere heutige Zeit wirklich zu wenig Platz für die Pflege kulturell anspruchsvoller Verhaltensweisen? Warum sind in der Öffentlichkeit so wenig „Kulturträger“ in Erscheinung? Wo ist Grass mit seinen politischen Kommentaren? Ist „Ballermann“ auf der einen und „Bayreuth“ auf der anderen Seite alles, was von Mozart, Bach, Goethe, Schiller, Fichte, Hegel, Mann und Böll geblieben ist. Die Jugend jedenfalls dürstet nach kulturellen Vordenkern, bedenkenswerten Leit-Ikonen aus Theater und Musik; der Slogan „arm aber sexy“ zieht nur kurzfristig, bei „ich bin Berlin“ geht es ab in die Identitätskrise. Die Selbstverwirklichung – höchste Stufe der menschlichen Bedürfnispyramide – ist an Kultur gebunden.

Im Kultursektor liegt  der größte Nachholbedarf der Dienstleistungsgesellschaft! Das Sehnen nach Kultur ist  nicht wegschiebbar, es hat etwas Individuelles und gleichzeitig Vereinendes und Prägendes. Dabei hat die Vielfalt möglicher Kulturangebote für jeden etwas zu bieten: sie umfaßt Musik und Sport, Theater und Film, Religion und Literatur, Philosophie und Bildende Kunst. Kultur ist nicht nur monetär zu fassen, sie ist allgegenwärtig. Der Kulturgenuss beruht auch auf Dienstleistung.

Der Wandel unserer Gesellschaft sollte sich auch in Bildungsstrukturen abbilden. In den nach der Grundschule weiterführenden Schulen ist Wissensmanagement zu betreiben, um den zu vermittelnden Wissensbedarf definieren zu können: welche Schule unterrichtet die Schüler in „Bankwesen“ oder „Zeitmanagement“, „Methoden des Lernens“, „Schnell-Lesen“ oder „Kostenplanung und –Kontrolle“? Vielleicht fehlt den Schülern dieses Wissen wirklich und sie können es durch Selbststudium –  z.B. aus Zeitmangel – nie lernen.

Die Vielfalt der Ansprüche, die sich aus dem gesellschaftlichen Wandel gegenüber jedem Einzelnen, besonders aber gegenüber unseren Politikern, ergeben, ist  groß.  Sie mündet in der Forderung, diesen Wandel zu nutzen.

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