Die Welt kann bleiben wie sie ist – „Der gute Mensch von Sezuan“ in der Schaubühne, intelligent inszeniert von Friederike Heller

Szene

Ernst Stötzner als Wang, der Wasserkäufer, erhebt sich lässig und beginnt, mit dem Publikum zu plaudern. Er ist der Moderator, der auch den Kontakt vermittelt zwischen den Menschen und den Göttern, die angereist sind, um einen guten Menschen zu finden, der ihnen für eine Nacht Obdach gewährt.

So leicht, wie Wang sich das vorgestellt hat, ist das nicht, denn die Götter genießen kein hohes Ansehen. Niemand will sie aufnehmen. Nur die Prostituierte Shen Te ist bereit, ein Zimmer zur Verfügung zu stellen.

Die Götter sind erleichtert, denn laut höchstem Beschluss kann die Welt „bleiben, wie sie ist, wenn genügend gute Menschen gefunden werden, die ein menschenwürdiges Dasein leben können.“ Shen Te wird also zum guten Menschen erklärt, damit die Welt nicht verändert werden muss.

Shen Te selbst hält sich nicht für gut, obwohl sie gern gut wäre. Mit diesem Willen zum Guten begnügen sich die Götter. Weil sie aber doch begreifen, dass die Armut Shen Te dazu zwingt, gegen die Gesetze der Ethik zu verstoßen, bezahlen die Götter ihr Nachtlager so großzügig, dass Shen Te nicht mehr als Prostituierte arbeiten muss.

Damit ist das Vorspiel beendet, und die Show beginnt. Ein schwarzes Portal fährt herein mit goldschimmernden Vorhängen. Sabine Kohlstedt, verantwortlich für Bühnenbild und Kostüme, hat nun auch Shen Te mit einem eleganten Brokatjäckchen ausgestattet.

Shen Te hat sich vom Göttergeld einen kleinen Tabakladen gekauft. Sie will Gutes tun und den Armen helfen, die auch sofort auftauchen, um an Shen Tes Wohlstand Teil zu haben. Shen Te ist glücklich. Sie stellt fest, wie leicht es ist, zu geben. Dank erntet sie jedoch nicht, und was sie besitzt, reicht längst nicht aus, um alle hungrigen Mäuler zu stopfen. Um sich durch ihre Freigebigkeit nicht völlig zu ruinieren, aktiviert Shen Te ihre dunkle Seite und erscheint als ihr skrupelloser Vetter Shui Ta.

Die äußere Verwandlung der guten Shen Te in den bösen Shui Ta geschieht schnell und unkompliziert. Jule Böwe entledigt sich ihrer High Heels, schlüpft in einen Bademantel und setzt eine Mütze auf. Die innere Verwandlung kündigt sich vorher an, wenn Shen Te hilflos erkennt, dass sie nicht alle in Not geratenen Menschen retten kann, wenn sie erschöpft und verzweifelt wirkt und die Bittsteller nicht mehr anzusehen wagt.

Shui Ta verschließt sich vor dem Elend. Bei seinem ersten Besuch erledigt er nur das Nötige, rettet die Existenz von Shen Te und damit auch Alle, die von ihr unterstützt werden. Es fällt ihm schwer, unbarmherzig zu sein, er setzt zu einer Bitte an und zwingt sich dazu, sie zu einem Befehl zu machen.

Was Shui Ta mühsam erworben hat, teilt Shen Te mit leichter Hand an die Bedürftigen aus. So muss Shui Ta wiederkommen, und er wird immer entschlossener, rücksichtsloser und grausamer.

Schließlich scheint es nur noch Shui Ta zu geben, aber da wird er als Mörder seiner Kusine angeklagt, und das Spiel mit der Verkleidung hat ein Ende.

Jule Böwe gestaltet Shen Te sehr zurückgenommen, verinnerlicht und mit großer Wahrhaftigkeit. Was sie sagt und tut, geschieht selbstverständlich, sie ist scheu, manchmal unsicher, erfüllt von einer unsentimentalen, ganz aufrichtigen Liebe zu ihren Mitmenschen. Wenn sie sich in Shui Ta verwandelt, erstarrt Jule Böwe. Die Leichtigkeit ihrer Bewegungen verschwindet, ihr Körper ist angespannt, jede Geste und jeder Schritt ist wirkungsvoll eingesetzt, ihre Gefühle scheinen erloschen, und sie sieht durch andere Menschen hindurch.

In Friederike Hellers Inszenierung ist Jule Böwe als Shen Te der einzige Mensch auf der Bühne. Alle anderen Personen sind hingetupfte Entwürfe oder skurril oder grotesk überzeichnete Typen.

Niels Bormann, Ulrich Hoppe und Urs Jucker sind die drei verunsicherten Götter, erscheinen aber auch in anderen Rollen. So verkörpert Ulrich Hoppe mit dezenter Eleganz die boshafte Hausbesitzerin Mi Tzü, Urs Jucker gestaltet derb komisch Frau Yang, die Übermutter des Fliegers Yang Sun, und Niels Bohrmann gerät zu sehr ins Klamaukige als gierige Witwe Shin und als fescher Polizist.

Sebastian Schwarz ist Yang Sun, der Flieger, in den Shen Te sich verliebt, ein Unglücklicher, dem sie hilft, der sie aber nur ausnutzt, ein Angeber und ein brutaler Mensch, der schließlich von Shui Ta als Antreiber der Fabrikarbeiter erfolgreich eingesetzt wird.

Ernst Stötzner erscheint als Wasserträger wie auch als Barbier Shu Fu, Shen Tes reicher Gönner und trägt die körperliche Auseinandersetzung der Beiden mit sich selbst aus.

Die Notleidenden sind in dieser Inszenierung eher zum Lachen als Mitleid erregend. Pathetische Anklagen gibt es hier nicht. Diese Armut ist würdelos, voller Neid, Gier, Missgunst und Bosheit, und so befremdend, dass sie komisch erscheint und verrückt in dieser temporeichen Show mit Musik, obwohl die das Bedrohliche doch wieder spürbar macht.

Die Band Kante hat die Kompositionen von Paul Dessau bearbeitet und so den Songs von Brecht eine unsentimentale Direktheit verliehen.

Der Epilog des Stücks mit dem populären Zitat: „Wir stehen selbst enttäuscht und sehn betroffen / den Vorhang zu und alle Fragen offen“ ist in Hellers Inszenierung gestrichen.

Am Schluss gesteht Shen Te, dass sie auch Shui Ta ist und das Gute ebenso in sich trägt wie das Böse. Die Götter halten jedoch daran fest, dass Shen Te der gute Mensch ist, den sie gesucht und gefunden haben.

Shen Te erklärt wieder und wieder eindringlich: „Ich bin Beides.“ Die Götter und alle anderen Mitwirkenden übertönen jedoch Shen Tes Stimme mit dem hymnischen Chor:

„Gepriesen sei, gepriesen sei / Der gute Mensch von Sezuan.“

Es ist alles in Ordnung, und die Welt muss nicht geändert werden.

Das Parabelstück „Der gute Mensch von Sezuan“ von Bertolt Brecht hatte am 21.04. Premiere in der Schaubühne Berlin. Weitere Vorstellungen: 27., 28. u. 29.04.2010.

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