Die unendliche Geschichte der menschlichen Traumatisierung im Kindesalter: Häufige Konfliktkonstellationen, die die Traumatisierung auslösen, und deren Folgen – Serie: Über die Psychotraumatisierung in der kindlichen Entwicklung (Teil 2/5)

Angst (Illustration: Detlev Eilhardt)

Ab und zu saß er mit seiner Mutter bei einem gemeinsamen Essen. Wie üblich stritten sie sich. Ein Wort gab das andere, und er glaubte, er habe sich wacker geschlagen. Als er zur Toilette ging, kam seine Mutter aus dem Bad zurück, bemerkte ihn nicht, schlug mit der Faust vor sich hin und sagte „Dem hab’ ich’s aber gegeben, dem hab’ ich’s aber gegeben!“. Der Kollege war zuerst erleichtert, da ihm klar wurde, dass die Aggression nicht ihm galt, sondern einem Phantom in ihm, etwa ihrem Vater oder Bruder. Aber nach der Erleichterung merkte er, dass er doch ganz schön untergegangen, mit Schuldgefühlen belastet war und das Sich-Wacker-Schlagen eher marginal war.

Nebenan war seine Mutter zu einer Geburtstagsrunde älterer Damen eingeladen. Als er mitbekam, dass seine Kinder ein Stück Kuchen bekamen, hatte er auch Appetit und ging später hinüber. Plötzlich hörte er die schrille, befehlende Stimme seiner Mutter „Hans, Du störst!“. In sich verspürte er einen kurz aufwallenden Protest und Wut, dann gab er brav seiner Mutter recht. Diesen Ablauf als frühere und offenbar noch heutige Beziehungskonstante vergegenwärtigte er sich voller Erstaunen, setzte sich über das Verbot hinweg und ging hinüber. Bei den anderen alten Damen war er hoch willkommen. Es entwickelte sich sofort eine Flirtathmosphäre vonseiten der älteren Damen gegenüber dem jüngeren Mann, von Stören keine Spur.

Auf dem Weg zum Briefkasten sah er seine Mutter und grüßte freundlich. Sie schien es nicht zu bemerken. Am Briefkasten traf er einen Bekannten und führte ein kurzes Schwätzchen. Auf dem Rückweg warf die Mutter ihm mit lauter Stimme vor, er habe sie nicht gegrüßt, was sollten die Leute denken, wenn der Sohn nicht mal seine Mutter grüße. Er verteidigte sich, er habe gegrüßt, sie habe es nur nicht bemerkt, schreien habe er nicht wollen und dann eine kurze Unterhaltung geführt. Seine Mutter ließ sich nicht beirren, er habe nicht gegrüßt und habe zu grüßen und damit basta. Für die Mutter galt nur ihre Wahrnehmung als Realität. Andere Wahrnehmungen, Realitäten und Umstände spielten keine Rolle.

Interpretation der Fallvignetten

Diese zwischenmenschlichen Spots zeigen typischen Konfliktsituationen auf, einmal das Hineinsehen früherer Bezugspersonen in das Kind:  Da bei traumatisierten Eltern das Differenzierungsvermögen zwischen früher und heute nicht ausreichend vorhanden ist, neigen diese Eltern dazu, wie das erste obige Beispiel zeigt, in ihren Kindern frühere Beziehungspersonen wahrzunehmen, etwa ihre eigenen Eltern und Großeltern, Tanten oder Onkel oder Geschwister, zu denen sie früher in enger traumatisierender Beziehung standen.

Entsprechend dieser früheren Beziehung nehmen sie ihre Kinder wahr und behandeln sie nach diesen inneren Bildern. Es heißt beispielsweise „Du bist wie der Onkel”¦, die Tante”¦ oder der Opa",  mit allen bösen Eigenschaften versehen. Dann werden die Kinder als die Schwächeren oft so behandelt, wie die Eltern es früher gerne gegenüber ihren Eltern getan hätten, es früher aber nicht wagten. Die Kinder kriegen folglich den ganzen Ärger, die Vorwürfe auf das frühe Umfeld ab und geraten in eine Rechtfertigungsposition. In den Kindern werden also Phantome früherer Bezugspersonen wahrgenommen. Die Kinder verinnerlichen diese Zuschreibungen als ihr eigenes Selbst und geraten in eine Diskrepanz zu sich selbst.

Schmerzliches könnte man dann als einen Phantomschmerz bezeichnen. Auch erzählte dieser Kollege, dass er erst mit über 20 Jahren an manchen Punkten erstaunt festgestellt hatte, dass er gar nicht so war, wie seine Mutter immer behauptet hatte. Das Erstaunen weist darauf hin, dass er bisher daran geglaubt hatte, und auf die Akzeptanz der neuen partiellen Identität. Erstaunen, Verwunderung und Überraschung sind die Entwicklungschancen zur Akzeptanz einer neuen Realität.

Seine Mutter hatte immer Angst zu stören. Sie ging mit ihrer Angst um, indem sie, wenn sie unangemeldet kam, entweder demütig erschien oder polternd, ununterbrochen redend einbrach. In beiden Formen des Auftretens und ihrer Reaktion auf ihre Angst störte sie. Es ist ihre Tragik, dass ihre Angst infolge ihres Verhaltens zur sich selbst erfüllenden Prophezeiung mutierte und in beiden Fällen die Ängste bestätigt werden. In ihre Angst hatte sie ihren Sohn narzisstisch einbezogen und hielt ihn differenzierungslos auch dort für einen Störer, wo es völlig unangebracht war, wie im obigen Beispiel. Sie selbst fühlte sich in ihrem Sohn gestört, aus Angst zu stören. Der Sohn stellte in der zeitlichen Abfolge voller Erstaunen in sich zuerst seinen Protest und dann seine Unterwürfigkeit und Anpassung fest, sozusagen der Mutter recht zu geben. Außerdem realisierte er noch deutlicher seine eigene übernommene Angst zu stören und bei anderen Menschen unwillkommen zu sein.

Das dritte Beispiel zeigt, wie unerschütterlich manche Leute an ihren Wahrnehmungen als alleinige und einzige Wahrheiten festhalten. Der traumatisierende Hintergrund der Mutter mag gewesen sein, dass ihr in ihrer Kindheit ihre Wahrnehmung abgesprochen wurde, da subjektive Wahrnehmung und objektive Wahrheit verwechselt wurden, und sie deshalb zur Selbstbehauptung umso unerschütterlicher festhalten musste. Außerdem sah sie ihre Wahrheit in das Umfeld hinein, ihren Sohn nicht gut erzogen zu haben, dass er sie noch nicht einmal in der Öffentlichkeit grüße, also nach ihren Maßstäben seine Ehrerbietung der Mutter gegenüber entzog.

Typische Konfliktkonstellationen

Im Folgenden werden einige typische schicksalhafte Konfliktkonstellationen, Eltern-Kind-Schicksale, Abläufe und Zusammenhänge in der kindlichen Entwicklung und in der zugrunde liegenden Familiendynamik innerhalb traumatisierter Familienverhältnisse dargestellt. Diese Schicksale, Aspekte und Zusammenhänge überlappen sich oft gegenseitig und sind nicht scharf zu trennen. 

Traumaerfahrungen und die resultierenden Ängste werden dabei zu Risikofaktoren im späteren Leben. Durch das Trauma geht die Differenzierung der Zeit verloren, dass oft früher ganz andere Umstände als heute herrschten. Als Folge werden sie zeitlos. Einige besonders häufige Konstellationen werden vorweg angeführt. Die angeführten Punkte sind nur eine Auswahl, können beliebig erweitert werden und werden nicht streng nach den einzelnen Punkten abgehandelt, da sie alle miteinander verquickt sind. Die Folgen werden in den näheren Ausführungen beschrieben:

1. Bedrohungen für das Kind

2. Bedrohungen im oder durch das Kind

3. Vernachlässigung und Ausbeutung bis zur Rollenumkehr     (Paternalisierung)

4. Fehlende und/oder falsche Fähigkeit, sich in das Kind hinein zu versetzen (Empathie, Einfühlungsvermögen)

5. Familienstreitigkeit auf dem Rücken des Kindes

6. Massiv widersprüchliche Ansprüche und Rollenzuschreibungen

7. Als Folge der Bedrohungen rigide Normen, Gebote, Verbote und Tabus

8. Das Kind als negatives Selbstobjekt, projektive Identifizierung

9. Das Kind als Erretter und Erlöser

10. Hineinsehen früherer Objekte in das Kind, wie oben ausgeführt

11. Die Tendenz der Bewahrheitung negativer Zuschreibungen

12. Gleichsetzung von Wert und Recht. Wer wertlos ist, ist auch rechtlos oder erhöhter Wert bedeutet vermehrte Rechte.

13. Alle diese Punkte werden als Katastrophe erlebt, für andere harmlose Inhalte katastrophisiert

Bedrohungen für das Kind

Haben die Mutter oder die Eltern traumatisierende Bedrohungserfahrungen aus eigener Erfahrung oder transgenerationell überliefert, fürchten sie diese sozusagen fokussiert im Kind und neigen zu einer Kontrolle dieser Bedrohungen. Das können Verlusterfahrungen, schwere Krankheiten sein, die mit mangelnder Hygiene aus früheren Zeiten zusammenhängen. Die im Folgenden beschriebenen Ängste entsprechen den psychosozialen Entwicklungsstufen eines Kindes nach Freud, der Oralität, Analität und Sexualität.

Ernährungsangst

Bestehen Erfahrungen von Hungersnöten oder falscher und unzulänglicher Ernährung, fürchten die Eltern diese im Kind und haben die Neigung, das Kind übermäßig zu füttern, vor allem mit dem, was für das Kind besonders gut sein soll. Die Folge kann sein, dass das Kind Übergewicht entwickelt, oder wenn die Nahrung seinem Geschmack nicht entspricht, es sich dagegen wehrt und das Essen wieder erbricht. Durch das Erbrechen wird das Kind zu einer Bedrohung für die Eltern. Das Auskotzen kann Aggressionen bei den Eltern hervorrufen – in ihren Augen haben sie das Beste getan und ernten das Gegenteil, wobei die Strafe bis zu grausamen Ritualen führen kann, wobei das Kind das Erbrochene wieder essen muss.

Das führt beim Kind zu einer demütigenden Situation und einer Aversion gegen die Nahrungszunahme. Die übermäßige Fütterung kann vom Erwachsenen verinnerlicht werden, so dass er sich selbst vermehrt füttert und nach seiner früheren Erfahrung noch dazu glaubt, dadurch Harmonie mit sich selbst und dem Umfeld zu erlangen. Essen steht dann für zwischenmenschliche harmonische Beziehungen, und ist ein Ersatz für diese. Wenn ein inneres und/oder zwischenmenschliches Defizit und Konflikte herrschen, wird gefressen. Die Krankheitsfolgen von Übergewicht wie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes sind bekannt.

Die Verweigerung von Nahrung und die Verinnerlichung der früheren Zwischenmenschlichkeit können zu Krankheitsbildern wie Magersucht oder Bulimie (Freß-Kotz-Sucht) führen. Die Nahrungsverweigerung steht für Autonomie und Selbstbestimmung und wird oft genug glorifiziert und idealisiert. Durch diese Bedrohung ist natürlich die Empathie der Eltern für die Bedürfnisse des Kindes verloren gegangen, und das Kind kann keine Geborgenheit und Sicherheit in intimen Beziehungen erleben.

Darmangst

Jedoch nicht nur der Eingang des Magendarmtrakts, die Oralität, sondern auch der Ausgang, die Analität, kann zu Konflikten und Machtkämpfen führen. Manche Mütter sind stolz, früher sicherlich häufiger als heute, wenn ihr Kind schon mit einem Jahr sauber ist. Frühere Erfahrungen von Unsauberkeit und damit verbundenen Seuchen können den Hintergrund bilden. Dann wird das Kind auf Sauberkeit gedrillt, es gehorcht oder protestiert. Der latente Protest kann sich in verlängertem Bettnässen und Einkoten äußern, das wiederum in oft demütigenden Machtkämpfen gebrandmarkt wird. Die häufige Folge sind chronische Verstopfung, auch eine Neigung zu Durchfällen, in denen, wie es böse Psychosomatiker symbolisch sehen, die Primärpersonen angeschissen werden oder eine Angstsymptomatik zum Ausdruck kommt (Angstschisser).

Manche Familien sind voll auf Verstopfung hin programmiert. In einer längeren Urlaubsvertretung hatte ich beispielsweise nach den Gepflogenheiten des Praxisinhabers jedem Familienmitglied jede Woche ein Rezept voller Abführmittel zu verschreiben. Chronischer Abführmittelmissbrauch führt zu weiteren Folgeerkrankungen des Darmes. Bei einem Hausbesuch im Notdienst wurde ich zu einer jüngeren hübschen Frau gerufen, die wegen ihrer längeren Verstopfung in Not war. Die ganze Familie leide darunter. Auf ihre Magerkeit hin angesprochen, meinte sie, aus Angst vor Verstopfung wage sie kaum noch zu essen. Manche Heranwachsende werden von ihren Müttern geradezu auf eine Verstopfung gehoben, mit Leinsamen, Sauermilch und Hefe traktiert. Die Fixierung auf diese Bedrohung führt in einer self-fulfilling prophecy meist zu den Problemen.

Erkältungsangst

Die Angst vor bedrohlichen Erkältungen ist weit verbreitet, und das Kind wird vermehrt eingepackt. Sie alle kennen diese Eltern. Einerseits kann sich das Kind durch die Überwärmung leichter erkälten und andererseits kann es nicht eine normale Resistenz auf Infektionen hin entwickeln und wird auch dadurch wiederum besonders gefährdet sein. Als Erwachsener werden es diese Ängste begleiten, und es wird bei Schmutz und Erkrankungen in Spannungen geraten, die wiederum stressen können, wobei dieser Stress wiederum  gesundheitsgefährdend sein kann.

Die Zwischenmenschlichkeit in der Ansteckung kann beim Begrüßungshändedruck zum Ausdruck kommen, bei der der Erkältete den Handdruck nicht wagt, um nicht andere anzustecken, oder selbst fürchtet, von anderen angesteckt zu werden. Hinter der Angst vor der körperlichen Ansteckung durch Viren oder Bakterien, steckt also eine zwischenmenschliche oder psychosoziale Ansteckung. Nach meiner Erfahrung übertragen sich Erkältungen nur bei starker Virulenz des Erregers oder bei vorhandener Schwächung des Immunsystems, die wiederum im Sinne der Psychoimmunologie psychosozial erfolgen kann. Die Viren und Bakterien kann man auch als Symbolik für die frühere Ansteckung mit den Ängsten der Eltern sehen. Die Tragik ist wie bei allen Vermeidungsversuchen, dass gerade durch diese die Angst bestätigt wird.

Sexualitätsangst

Besonders die Sexualität wird nach Erfahrungen von Vergewaltigung, sexuellem Missbrauch, sexuellen Seuchen wie früher die Syphilis, heute Aids, und familiären Konflikterfahrungen etwa bei Untreue in fast allen Kulturen als bedrohlich erlebt und als Folge kontrolliert. In der Abwehr der Ängste können Reinheit und Keuschheit zu Idealen erhoben werden. Wenn die Sexualität von Männern ausging, wird diese im Mann verteufelt. Heutige Slogans sind „Männer wollen nur das Eine!, ”¦benutzen Frauen als Sexualobjekt!“, wobei die Zwischenmenschlichkeit auf die Sexualität fokussiert und reduziert wird und andere Aspekte verloren gehen. Die sexuelle Kastration des Mannes wird im Priestertum noch zur Tugend erhoben. Auch Ängste der Männer vor Frauen, vor allem in der Übertragung vor den kastrierenden Müttern, die sich in Potenz- und Fruchtbarkeitsstörungen äußern können, sind die Folge. In anderen Kulturen, vor allem im mittleren afrikanischen Gürtel, wird den Frauen Sexbesessenheit und Mannstollheit unterstellt und ihnen zur Erhaltung der ehelichen Treue in der Beschneidung die Genitalien verstümmelt. Auch findet in unserem christlichen Kulturkreis eine Spaltung etwa in Nonne und Hure statt.

Paternalisierung

All dies Beispiele zeigen deutlich, dass das Kind durch sein Verhalten, etwa, zuerst wird es eingepackt, dann packt es sich selber ein, die Mutter vor ihren Ängsten und später sich selber vor diesen vermeintlichen Gefahren schützen muss. Das kann soweit gehen, dass das Kind in eine beruhigende und tröstende Mutterfunktion gerät. Verhält es sich nicht nach den Ansprüchen der Mutter, wird es zu einer Bedrohung für diese. Seine Aufgabe ist, die Verantwortung für die Mutter wie bei einem ängstlichen Kind zu übernehmen. Man nennt diese Rollenumkehr Paternalisierung. Die durch ihre Ängste und Verhinderungsbemühungen überforderte Mutter überfordert ihr Kind, und das überforderte Kind ist ebenso wie seine Mutter verstärkt krankheitsanfällig. Dadurch kann eine gemeinsame Krankheitsspirale entstehen. In seinen Grundbedürfnissen wie Wärme, Geborgenheit und Sicherheit wird das Kind dadurch massiv vernachlässigt.

Die Ängste und Spannungen der Mutter gehen auf das Kind über, das ebenfalls in Spannungen gerät, und nicht mehr Ruhe und Geborgenheit, die es notwendig zu seiner Reifung braucht, erfahren kann. Die Geschichte kann sich noch verstärken. Wenn das Kind einen Unfall, Schmerz oder eine Krankheit erleidet, kann dies bei der Mutter schwere Ängste hervorrufen, so dass sie nicht mehr beruhigen und trösten kann, sondern sie selbst beruhigt und getröstet werden muss. Diese Ängste und Sorgen verstärken wiederum das Leiden des Kindes. Als Folge neigen viele Kinder dazu, nicht mehr zur Mutter kommen, und alles Leid einschließlich den von der Mutter übernommenen Ängsten mit sich selbst alleine ausmachen, vor allem, wenn sie dann noch die Mutter trösten müssen. Die zwischenmenschliche Zuwendung durch die Mutter in Beruhigung und Tröstung gehen verloren.

Neurodermitis und ADHS

Es entsteht  eine vermehrte Krankheitsanfälligkeit. Diese kann zu einer Bedrohung werden. Den zwischenmenschlichen Ablauf möchte ich an zwei verbreiteten Krankheitsbildern des Kindes, der Neurodermitis und dem neueren so genannten Krankheitsbild des ADHS, dem Aufmerksamkeit- Defizit- Hypermotilitäts-Syndrom, das viele für eine Krankheitserfindung zum Zwecke des Absetzens der Pharmaprodukte halten, gut veranschaulichen.

ADHS:

Die Aufmerksamkeitsdefizit-Diagnose ist eine nach dem Wortlaut sich selbst erklärende Diagnose. Das Kind ist essentiell auf die positiv zugewandte Aufmerksamkeit der Mutter, die Seelennahrung, angewiesen. Fehlt ihm diese, fehlt ihm die innere Ruhe und Sicherheit bzw. Aufgehobenheit beim anderen, dem Containing.

Es muss in einen Unruhezustand geraten und voller Unruhe die Ruhe suchen  In der Unruhe die Ruhe zu suchen, ist ein Teufelskreislauf und natürlich zum Scheitern verurteilt. Manche Mütter und Eltern haben alles andere im Kopf, als ihren Kindern Aufmerksamkeit zu widmen. Ihnen geht es um die Verhinderung von Bedrohungen. Sie sehen nicht mehr das Kind, sondern im Kind die Bedrohungen, die es mit allen Mitteln zu verhindern gilt. Durch die Erfahrung der ausgebliebenen oder mangelnden Aufmerksamkeit ist das Kind auf diese fixiert. Es braucht diese noch für sein inneres Gleichgewicht.

Als Folge ist es ausschließlich mit dem inneren Fehlen der Aufmerksamkeit von außen beschäftigt und wird alles zu tun, um diese noch zu erreichen, wenn nicht im Guten, dann im Bösen. Sie alle kennen die Kinder, die im Bösen, Aggressivität und Fehlverhalten alles tun, was nicht erlaubt ist, um Aufmerksamkeit suchen. Auf diese Rolle kann das Kind bis ins Erwachsenenalter festgelegt sein. Eine weitere Folge kann sein, dass es oft sich nicht mehr eigene Dingen wie etwa dem Lernen in der Schule aufmerksam zuwenden kann, in Unruhe ist, den Unterricht stört, aggressiv ist, oft sogar nicht mehr wahrnimmt, wo ihm positive Aufmerksamkeit zuteil wird.

Diese Unruhe setzt sich oft bis ins Erwachsenenalter fort. Durch die langjährige Erfahrung, dass der Erwachsene  in sich selbst Ruhe und Aufmerksamkeit nicht finden kann, neigt er dazu, diese bei anderen zu suchen und gelingt ihm auch dies nicht, sich Ersatzaufmerksamkeiten, -anerkennungen und -bestätigungen auf Ersatzgebieten zu suchen wie Alkohol und Drogen, Fressen, Perversionen und grenzenlosen narzisstischen Bestätigungen. Diese dienen sozusagen dazu, Lücken im eigenen Selbst zur Erhaltung des inneren Gleichgewichtes und der Ruhe zu stopfen.

Das kann sich so fortsetzen, dass derjenige bei seiner Selbstdarstellung in der zwischenmenschlichen Kommunikation unbewusst mehr damit beschäftigt ist, ob ihm zugehört und auf ihn eingegangen wird als mit der Darstellung seines Anliegens, im zwischenmenschlichen Dialog innerlich abgeblockt ist, dadurch Pausen einfügt und ihm schwer zuzuhören ist. Die Neigung abzublocken, resultiert zusätzlich aus der Erfahrung, dass auf ihn/sie in ängstigender oder aggressiver Weise eingegangen wurde.

Von manchen Patienten hörte ich, dass sie im Schulunterricht sich kaum mündlich melden konnte, weil bei etwas längeren Ausführungen ihr Gehirn wie abgeblockt war. In ihrer Kindheit hatten sie wenig positive Bestätigungen ihrer Aussagen und Handlungen bekommen. Ihnen wurde wenig zugehört, an dieser Stelle ist für sie sozusagen eine Leerstelle, die für sie schon eine Bedrohung darstellt. Darüber hinaus dürften bei ihren Aussagen und Verhalten oft negative Reaktionen erfolgt sein, die sie wiederum fürchten. Viele können am Schulunterricht nicht aktiv teilnehmen oder sich nur in einem Wort oder einem kurzen Satz äußern. Insofern wird die mündliche Beteiligung im Unterricht mangelhaft. Auch im späteren Leben kann sich diese Angst als Blockade äußern, etwa vor vielen Leuten zu sprechen.

Ein Patient schilderte, bei einem Gespräch mit seiner Ehefrau habe er plötzlich überrascht festgestellt " sie hört mir ja zu! ". Durch diese überraschende Feststellung realisierte er, er war unbewusst immer davon ausgegangen, ihm werde nicht zugehört. Unbewusst blieb meines Erachtens deswegen dieser Vorgang, weil er sich schon in der frühen Kindheit abspielte und deswegen dazu keine bewusste Wahrnehmung bestand. Eine latente Depression mit körperlichen Begleitzuständen oder appellativer Aufmerksamkeitssuche ist deshalb allzu natürlich, wenn ein Mensch davon ausgeht, dass er bei anderen nicht oder negativ ankommt und ihm nicht zugehört wird. Aber nicht nur fehlende Aufmerksamkeit, sondern auch ungünstige Aufmerksamkeit wie Ängste und Sorge, Schuldgefühle und Aggressionen auf das Kind können diesen Zustand des Aufmerksamkeitsdefizits hervorrufen.

Das ADHS wird zunehmend mit Aufputschmitteln, am häufigsten und am weitesten verbreitet Ritalin, das paradoxerweise beruhigend wirkt, und dem SSRI (selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer) Strattera behandelt. Pharmakritiker halten das ADHS für eine Krankheitserfindung, für die die Pharmaindustrie neue Absatzmärkte mit Milliardengewinnen geschaffen hat. Normale, aber auffällige Kinder werden zu Kranken umdefiniert, Eltern beunruhigt, von Ärzten und Pharmaindustrie verführt, das Glück in der Pille zu suchen, und durch eine Gewöhnung an die Drogenbehandlung die Wege zu späteren lukrativen Absatzmärkten vorbereitet. Eltern müssen schon ein schlechtes Gewissen haben, wenn sie ihren Kindern nicht Ritalin verordnen. Da Ritalin dem Kokain chemisch eng verwandt ist, kann man das so sehen, dass Kinder schon frühzeitig zu Junkies erzogen werden.

Neurodermitis

Eine andere zunehmend häufige Reaktion des Kindes auf die Befindlichkeit der Mutter kann die Neurodermitis sein. Die Spannungen wie Ängste, Aggressionen und Schuldgefühle der Mutter übertragen sich auf das Kind, so dass dieses im eigenen Spannungszustand mit der Haut, dem körperlichen Grenzorgan, reagieren kann. Typischerweise steht bei der Mutter neben anderen traumatischen Erfahrungen Verlustangst dahinter, wenn sie während der Schwangerschaft oder später ein Kind verloren hat. Diesen Verlust fürchtet sie im weiteren Kind und gerät ebenso wie das Kind in Spannungen. 

Dazu drei Beispiele: Vor einigen Jahren geriet ich zufällig in eine Fernsehsendung, wo ein Professor zu Wort kam, der eine Klinik aufgebaut hatte, die neurodermitiskranke Kinder gemeinsam mit ihren Müttern aufnahm und behandelte. Er führte diese Krankheit auf die Verlustangst der Mutter nach einem verlorenen Kind, etwa in der Schwangerschaft, zurück. Eine Mutter kam zu Wort, die sagte, sie denke manchmal, ihre Angst könne sich auf das Kind übertragen, woraufhin der Professor sofort intervenierte „Nein, das könne auf keinen Fall passieren!“ Ich dachte mir dazu, wenn er die Behandlung allein auf die Mutter beschränkte, wäre ja sein schönes Klinikkonzept in Frage gestellt.

Ein Angstpatient rückte nach einigen Monaten mit dem Problem heraus, sein kleiner Sohn habe eine Neurodermitis entwickelt. Sie, die Eltern, seien schon von Arzt zu Arzt gelaufen, jeder hätte etwas anderes gesagt, hätten gesalbt und geschmiert, alles ohne Erfolg. Er schilderte aufgeregt und dramatisch in den buntesten Farben das zukünftige schreckliche Schicksal seines Sohnes. Ich ließ mir die Geschichte durch den Kopf gehen und erklärte ihm, schon bei Erwachsenen übertragen sich Spannungen von Mensch zu Mensch, um wie viel mehr bei einem Säugling, der dann irgendwie reagieren müsse.

Ich schlug ihm vor, das vermeintliche zukünftige Schicksal des Kindes sich nicht so stark zu eigen zu machen, Kind Kind sein zu lassen und gar nichts zu machen. Durch die Beruhigung der Eltern ging es dem Kind deutlich besser. Die Mutter hatte bei den ersten beiden Schwangerschaften ihre Kinder wegen Blutungen beinahe verloren und stand nicht nur deswegen unter ständigem Angst- und Sorgendruck. Das können jedoch nicht alle Angstkranken, auch bei den bestgemeinten Ratschlägen nicht. Oft gehen die Ängste der Eltern auf den Arzt über, der dann ebenfalls die schlimmsten Krankheitsverläufe vor Augen seiner zukünftigen Patienten heranzüchtet.

Bei einem Essen bei Freunden erzählte die Hausherrin, ihre erwachsene Tochter litte seit der Kindheit an Neurodermitis. Ich sagte etwas von psychosomatischen Faktoren und stieß damit in ein Wespennest. Ebenfalls in den blühendsten Farben dramatisierte sie die Krankheit und nach jedem Satz kam „und das soll keine Krankheit sein?!“ Ich war sprachlos und verdattert. Der Vater saß ebenfalls hilflos und verdattert dabei. Hinterher überlegte ich mir den Ablauf, sie hatte offenbar die Erwähnung von „psych”¦“ aufgefasst, als ob das keine Krankheit sei. Ein paar Wochen später traf ich einen anderen Gast, der vorher gegangen war, und schilderte ihm mein Malheur. Er meinte geheimnisvoll, es gehe die Mär, seitdem die Tochter ausgezogen sei, gehe es ihr deutlich besser.

Kürzlich erzählte mir eine Bekannte, dass ihr zweijähriger Bruder ertrunken sei, während sich die Mutter wegen ihres Schreiens um sie als Säugling gekümmert hatte. Verschärfend kam hinzu, dass die Mutter ihr an dem Tod ihres Bruders die Schuld gab. Später konnte sie deswegen kein Kind bekommen, weil sie fürchtete, es sterbe. Sogar, wenn sie betreuend ein Kleinkind ins Bett bringe, fürchte sie, dass dessen Atem aussetze.

Projektive Identifizierung

Da ein Kind in einem sozialen Umfeld aufwächst, dies für es lebensnotwendig ist, wird es immer mit Bildern anderer konfrontiert und übernimmt diese. Das ist das Schicksal eines jeden Menschen. Die Frage ist nur, welche Bilder und Erfahrungen dies sind, ob förderliche, die ihm ein gutes Selbstbild vermitteln und Lebensraum zur Entfaltung lassen oder nicht. 

Im traumatisierten Zustand der Eltern und der resultierenden Bedrohungswahrnehmung geht die Differenzierung zwischen den Eltern bzw. der Mutter und dem Kind verloren , wie in Teil 1 und dem obigen Alltagsbeispiel beschrieben, ist für die Entwicklung des Kindes desaströs die Projektion und die projektive Identifizierung entscheidend. Durch die Projektion erlebt die Mutter ihre eigenen negativen Anteile, somit sich selbst im Kind, und das Kind wird nicht mehr als eigene Person wahrgenommen. Auch eigene Positionen und Interessen werden als die des Kindes gleichgesetzt und wahrgenommen. Diese Wahrnehmung ist absolut. Sie kann nicht mehr als persönliche Wahrnehmung empfunden werden. Die absolute Welt der bedrohlichen Erfahrungen beinhalten oft narzisstische Entwertungen wie in Schuld, Schande, Sünde, Verachtung, Scham und Lächerlichkeit. Alles, was ihr selbst geschehen ist, fürchtet sie im Kind. Das Kind wird zu einer Bedrohung für Mutter und Eltern. Wenn sie etwa ein uneheliches Kind hatte, dies ihr als Schande zugeschrieben wurde, fürchtet sie, dass das Kind ebenfalls ein uneheliches Kind empfangen könnte, muss diese Bedrohung als Teufel an die Wand malen und alles tun, das zu verhindern.

Ähnlich ist es mit Drogen, wobei die Drogensucht oft zuerst in den Köpfen der Eltern entsteht, vor Drogen gewarnt wird und Drogen für das Kind erst interessant werden. Hinter ihrer Angst um das Kind steckt zusätzlich die Angst um das eigene narzisstische Selbst, ihre Schande, etwa nicht eine gute Mutter gewesen zu sein und versagt zu haben. Typisch ist, dass sie ihrem Kind vorhält " Du machst mir Sorgen, Kummer und Ärger! ", für Dinge, bei denen andere Mütter keinerlei Sorgen und Ärger hätten, etwa eine mäßige Schulnote oder Trotz, Schmutz und Unhöflichkeit o. ä., meist spiegelbildlich, wie sie es in ihrer eigenen Kindheit erfahren hat. Sie erlebt nicht, dass Sorge und Ärger von ihr ausgehen. Das Kind als eigenes Wesen kommt bei der Mutter nicht an, sondern ist Teil von ihr, also eine interpersonelle Gemeinsamkeit oder Verschmelzung. Es ist eine Selbstobjekt oder ein erweitertes Selbst.

Da sich das Kind mit diesen Projektionen identifiziert, diese als eigenen Glauben von sich selbst übernimmt, nimmt es sich mit den Augen der Mutter wahr. Man spricht nach Melanie Klein von projektiver Identifizierung. Dann ist das Kind das Böse, Egoistische, Rücksichtslose, Undankbare, Schmutzige usw., das die Mutter zwar durch diese Zuschreibung einerseits dazu macht, andererseits vor dem Bösen zu schützen und zu retten sucht. Es ergibt sich eine Spaltung gute Mutter – böses Kind. Dadurch sind die Wahrnehmung von Mutter und Kind verändert und verzerrt. Das Kind kann seinen eigenen Wahrnehmungen nicht mehr trauen. Die Wahrnehmung der Mutter hat höhere Priorität gegenüber der des Kindes, sodass das Kind der Mutter mehr glaubt als sich selbst. Als Folge kann das Kind doppelt leiden, einmal unter sich selbst, zum anderen unter der verinnerlichten bzw. inneren Mutter. Eine weitere Folge kann sein, dass das Kind oder auch später der Erwachsene in Selbstverletzungen oder der Magersucht, sich vom Selbst des Anderen durch Zerstörung des Anderen innerhalb des eigenen Selbst zu befreien sucht. Der Kampf um Selbstbestimmung richtet sich also gegen die eigene Person.

Ein Kind, das öfter als böse bezeichnet wird, wird als natürliche Folge aggressiv und böse werden. Außerdem handelt das Kind nach der eigenen Wahrnehmung und handelt als Böser. Dann hat die Mutter recht und sieht sich bestätigt. Sollte es wagen zu widersprechen, wird es in seine Schranken verwiesen. Es kann aber auch nach den Bildern und Anforderungen der Mutter unter allen Umständen gut zu sein versuchen. Es kommt zu Wahrnehmungsverzerrungen, die sich bis ins Erwachsenenalter fortsetzen, wodurch der Erwachsene in einer Aufspaltung sich selbst als den Bösen oder etwa als den Versager wahrnimmt und die anderen als die Guten und Erfolgreichen.

Als Folge der Projektion sind eine Probeidentifikation, Einfühlungsvermögen bzw. Empathie und Tröstung für die Eltern im Sinne der Befindlichkeit des Kindes nicht mehr möglich. Wie sollte auch eine Mutter, die das Böse im Kind und dieses an ihrem eigenen Leide schuldig sieht, sich in das leidende Kind hineinversetzen und dieses trösten können? Sie würde sich schuldig fühlen müssen. Die Empathie käme als Bumerang auf sie zurück.

Sie hat selber Tröstung nötig, für die wiederum das Kind zuständig ist. Das Kind gerät in eine Elternposition, sozusagen die Eltern als Kind zu schützen. Da die Mutter sich nicht in das Kind, sondern mit sich selbst sich in das Kind hinein versetzt, entsteht eine falsche Empathie. Wenn also eigenes früheres Leiden als Leiden des Kindes gefürchtet wird, obwohl dieses eventuell gar nicht leidet, weil es die aktuelle Situation ganz anders erlebt und in ihm nicht das frühere Leiden der Mutter steckt, wird als Folge aber in einer gemeinsamen Identität das frühere Leiden der Mutter zum Leiden des Kindes. So sagte eine Patientin „Sie leide, weil ihre Mutter an dem Glauben leide, ihr Leben (das der Patientin) sei verpfuscht“.

Diese innere Gemeinsamkeit und Zusammengehörigkeit zeigt sich wie im obigen Beispiel oft, wenn die Mutter oder die Eltern glauben, sich selbst mit ihrem Kind zu blamieren. Diese Blamage, Scham oder Peinlichkeit im Kind wiederum verletzt das eigene Souveränitätsbild der Mutter. Dann muss das Kind sozusagen zum Aushängeschild der Eltern werden und deren Erfolg im Leben repräsentieren.

Illustration: "Angst" von Detlev Eilhardt

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