Die Tücken der Menschwerdung – Jonathan Doves „Pinocchio“ in der Oper Bonn

Die Blaue Fee (Judith Kuhn) und Pinocchio (Susanne Blattert). © Foto: Thilo Beu

Viele haben sich literarisch und musikalisch versucht an der Kinderbuchfigur des italienischen Autors Carlo Collodi aus dem Jahr 1881. Zuletzt der Komponist Jonathan Dove auf der Grundlage des Librettos von Alasdair Middleton, das auch die dunklen Seiten der Originalvorlage mit in die Handlung einbezieht wie Bosheit und Kummer, Krankheit und Tod. So wird die Oper „Pinocchios Abenteuer“ zur „Familienoper“, die nicht nur auf kindliche Vorstellungen zugeschnitten ist, sondern auch die Erwachsenenwelt im Blick hat.

Skurrile Gestalten

Wie in der Begegnung Pinocchios mit den skurrilen Gestalten von Fuchs (Jakob Huppmann) und Kater (Taras Ivaniv), die ihm seine fünf Goldstücke abluchsen wollen. Sie führen ihn in eigener Bereicherungsabsicht zu einem „Feld der Zauberei“, in dem sich jedes Goldstück angeblich um ein Vielfaches vermehren soll. Um in Wahrheit jedoch ebenso schnell von dort wieder zu verschwinden, wie es in gutem Glauben eingepflanzt wurde. Ein wirksamer Trick, wie man weiß, den moderne Finanzhaie noch perfektioniert haben.

Nicht weniger aktuell ist die Mär vom „Spaßland“, in der es weder Lernen noch Pflicht, sondern nur Spaß und Spiel gibt. Ein Schlaraffenland der Konsumfreuden, in das hinein ihn sein Mitschüler Lampwick (Tamas Tarjanyi) nur allzu leicht entführt. Mit dem traurigen Ergebnis, dass alle, die die disziplinierte Arbeit an sich selbst vernachlässigen, schließlich in Esel verwandelt werden. In unwissende Dummköpfe, nur noch dazu geeignet, für niedere Dienste verkauft zu werden. Warnende Stimmen wie die der Grille (Stefanie Wüst) werden dabei nur allzu leicht in den Wind geschlagen.

Leistung und Gegenleistung

Doch auch für Kinder und Heranwachsende bietet der Opernstoff eine Fülle von Situationen, die eine richtige Entscheidung erfordern. Soll man beispielsweise statt der süßen Bonbons lieber die bittere Medizin zu sich nehmen, um gesund zu werden? Für Pinocchio keine leichte Entscheidung, bis schließlich vier phantasievoll herausgeputzte Sargträger den Überlebenswillen in ihm anstacheln. Oder wie ungeduldig darf man sein, wenn die Schnecke (Anjara I. Bartz) beim Öffnen der Haustür nicht das gewünschte Tempo vorlegt?

Auch muss Pinocchio auf der „Insel der fleißigen Bienen“ lernen, dass Leistung und Gegenleistung, Geben und Nehmen sich entsprechen müssen. Bis ihm der Hunger zur Einsicht verhilft, doch lieber selber Hand anzulegen, um sich aus seiner misslichen Lage zu befreien. Erfahrungen, die vermittelt und gelernt werden müssen, bis sich schließlich die Einsicht in ein faires menschliches Miteinander wie von selbst entwickelt.

Lautmalerische Klangerlebnisse

Der Komponist bedient sich dabei kontrastierender Musikwelten, um die in dem Werk verarbeiteten Widersprüchlichkeiten erkennbar zu machen. Eindeutig nachvollziehbar die Welt des Pinocchio, spaß- und energievoll, voller Leben uns Abwechslung. Daneben die lyrisch-geheimnisvolle Klangwelt der Blauen Fee, sobald ihr rettender Zauber auf den Plan tritt. Dazu die vielen Tierstimmen (Algis Lunskis, Georg Zingerle, Asta Zubaite), die ungewohnte lautmalerische  Klangerlebnisse hervorbringen sowie die Zirkuspuppen, die dem venezianischen Karneval entsprungen sein könnten (Christian Specht, Brigitte Jung, Enrico Döring).

Besonders schön auskomponiert ist beispielsweise jene Anekdote, bei der Pinocchio unverhofft im Bauch des Walfisches mit seinem inzwischen ergrauten „Vater“ Geppetto zusammentrifft. Eine zu Herzen gehende Passage, sensibel interpretiert vom Beethoven Orchester Bonn unter der Leitung von Johannes Pell, das bei lustvollem musikalischem Einsatz der anspruchsvollen Partitur durchweg gerecht wird. Ebenso der Chor, der sich, besonders in der Strandszene am Ende des ersten Aktes zur Höchstform steigert.

Schlichtheit und Motivfülle

Als ausgesprochene Leckerbissen erweisen sich auch das Bühnenbild und das Kostümbild von Francis O’Connor sowie das Lichtdesign von Davy Cunningham. Konzipiert zur Uraufführung des Werkes vor sechs Jahren in Leeds in Kooperation mit dem Opernhaus Chemnitz, hat die Produktion in ihrem ständigen Wechsel zwischen spartanischer Schlichtheit (Werkstatt Geppettos) und überbordender Motivfülle (Jahrmarkt im „Spaßland“)  nichts von ihrer Überzeugungskraft verloren. So sieht es auch das Publikum, das in frenetischem Applaus diese außergewöhnliche Produktion würdigt.

Weitere Aufführungen: 8., 15., 26., 28. Dezember, bis 29. März 2014

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