Die traumatisierte Wahrnehmung – Serie: Über die Verstrickungen in der menschlichen Wahrnehmung als Folge der frühkindlichen Erfahrungen und Prägungen und der Erlösungsmythos (Teil 1/2)

Ein gleiches Verhalten erwartete sie auch von ihrem Umfeld "das müssen die doch sehen…!, … ist doch selbstverständlich!" und konnte zwar oft ihre Aggressionen, wenn die Anderen nicht ihre Selbstverständlichkeiten erfüllten, nach außen ableiten, musste andererseits, um die Harmonie zu erhalten, diese unterdrücken. Platzten doch einmal ihre Gefühle und ihre Befindlichkeit heraus, unterdrückte sie diese wiederum sofort, um keine Angriffsfläche zu bieten. Wie früher fühlte sie sich ständig angegriffen und entwertet. Das Umfeld dagegen war froh, etwas von ihr zu hören, und hielt an dem Herausgeplatzten fest. Dadurch entstand ein Teufelskreislauf. Viele ihrer Bemühungen waren umsonst und führten nicht zu der Erlösung, endlich voll und ganz anerkannt zu werden, im Gegenteil, sie nahm sich immer wieder nicht anerkannt wahr, obwohl sie oft genug anerkannt wurde.

Ein weiterer Teufelskreislauf entstand dadurch, dass sie unter ihrem inneren Druck vor allem ihren Gesichtsausdruck veränderte, ihr Ehemann zur Aufrechterhaltung eines guten Bezuges und seiner Liebe auf ein attraktives Gesicht angewiesen war, weil er ansonsten den bösen und beherrschenden Blick seiner eigenen Mutter hinein sah. Das traf ihn so heftig wie früher bei der Mutter, und er reagierte massiv ablehnend. Dieser beidseitige innere Kreislauf wurde zu einem gemeinsamen Teufelskreislauf.

Einprägung der Erfahrungen und Charakterbildung

"Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr". Dieser Volksmundsatz weist auf die kindliche Prägung durch zwischenmenschliche Erfahrungen und Lernprozesse hin und weist weiterhin darauf hin, dass diese Prägungen oft nicht mehr veränderbar sind. Jeder Mensch braucht zu seinem Wachstum und seiner Reifung ein Umfeld, ansonsten stirbt er. Diesem Umfeld ist er ohnmächtig ausgeliefert und wird von ihm geprägt. Natürlich hat der Mensch auch im späteren Leben mehr oder weniger die Möglichkeit, durch neue Erfahrungen dazu zu lernen. Auf das Mehr oder Weniger kommt es an. Sich einen neuen Erfahrungsschatz zu erwerben, bleibt bis ins hohe Alter durch die Plastizität des Gehirns, wenn auch im schwindenden Maße, erhalten. Sehr frühe Erfahrungen sind der späteren Wahrnehmung entzogen und sehr intensive und sich häufig wiederholende zwischenmenschliche Erfahrungen prägen sich besonders stark in das Gehirn ein und sind kaum korrigierbar. Man denke nur an Sätze, die ständig ausgesprochen wurden, und an die man immer wieder denkt. Diese eingeprägten Erfahrungen werden sozusagen zu Selbstverständlichkeiten, d.h. sie verstehen sich von selbst und sind kaum reflektier- und hinterfragbar.

Alle Erfahrungen der Sozialisation gehen über Generationen hinweg in den Erfahrungsschatz ein, werden im Gehirn in die Neurone eingeprägt und prägen die spätere Sicht der Welt. Die spätere Welt wird also mit inneren Bildern gesehen, die oft auf Erfahrungen früherer Generationen zurückgehen, also transgenerationell weiter vererbt werden. Kinder sind deswegen so natürlich und spontan, weil sie noch weniger innere Bilder verinnerlicht haben, nach denen sie sich verhalten. Da jeder Mensch unterschiedliche Erfahrungen gemacht hat, sieht er die Umwelt mit anderen Augen und Bildern. Dadurch entstehen die Subjektivität der Wahrnehmung und die Individualität des Menschen. Die Wahrnehmung eines Gegenstandes oder eines Menschen kann also nie absolut identisch sein. Von außen betrachtet wie im Spiegelbild gehören zu dieser Umwelt auch das eigene Selbst, die eigene Person und eigene Identität. Die Identität setzt sich also aus den Erfahrungen mit dem primären Umfeld und späteren Erfahrungen zusammen. Sicher kommen noch die Gene und die Veranlagung hinzu, wobei diese von der erworbenen Identität kaum zu trennen sind. Nach den Untersuchungen eines Bereiches der Neurobiologie, der Epigenetik, wirken die Erfahrungen sogar auf die Gene ein.

Selektive Wahrnehmung nach traumatischen Erfahrungen

Für menschliche Probleme, Persönlichkeitsstörungen und Krankheiten, soweit sie von innen und nicht von außen kommen, sind die traumatischen Erfahrungen entscheidend. Diese können vom menschlichen Gehirn nicht bewältigt werden und stoppen beim Kind den Reifungsprozess des Gehirns und die Persönlichkeitsentfaltung. Der Mensch bleibt weiterhin in einer selektiven Wahrnehmung auf diese Traumata und vor allem auf deren zukünftige Verhinderung fixiert und sieht kaum noch andere Gegebenheiten. Diese Erfahrungen prägen also den Zukunftsentwurf. Gute Erfahrungen vermitteln Hoffnung und Zuversicht und schlechte Hoffnungslosigkeit, obwohl die Umstände und der Bezugsrahmen später ganz anders sein können. Ein negativer Selbstwert vermittelt ein schlechtes Selbstwertgefühl und engt das Selbstbewußtsein auf diese selektive Wahrnehmung ein.

Traumata können etwa Verlust einer wichtigen Bezugsperson, Vernachlässigung, überfordernde Aufträge wie bei der Paternalisierung, der Rollenumkehr (siehe den obigen Fall, wobei die Tochter die Mutter vor der Schande schützen muss), intensive oft nicht ausgesprochene Ängste und Aggressionen des Umfeldes, verbitterte, unauflösliche Streitigkeiten, Misshandlungen und körperliche und sexuelle Gewalt sein. Diese Erfahrungen sind normalerweise mit intensiven Entwertungen, Demütigungen, rigiden Normen und Verboten, Schuld, Schande und Blamage, einer narzisstischen Entwertung, verbunden. Sie gehen also mit einer massiven Herabsetzung im Selbstbild einher. Als Folge sieht sich der erwachsene Mensch mit diesen verinnerlichten und fixierten Bildern und nimmt sich auch in der Umwelt herabgesetzt wahr, wie im Anfangsbeispiel beschrieben. Er mag sich gedemütigt fühlen, muss seinen Stolz aufrechterhalten, oder angeklagt oder beschuldigt, so dass er sich rechtfertigen und entschuldigen muss. Hätte er diese Bilder nicht in seiner selektiven Sicht, wäre dies alles nicht nötig.

Da diese Herabsetzungen und Entwertungen als Wahrheit vermittelt werden, macht er sich diese zur eigenen Wahrheit und kann nicht mehr wahrnehmen, dass andere das ganz anders sehen können. Im griechischen Mythos ist dieser Zusammenhang im berühmten Beispiel der „Blendung des Ödipus " beschrieben. Ödipus wollte seine Schande in den Augen der Bürger von Theben nicht sehen, obwohl diese in Kenntnis der tragischen Zusammenhänge eher Verständnis, Mitleid und Nachsicht hatten. Er sah sich selbst in den Augen des Umfeldes. Für den Traumatisierten geht die Subjektivität der Wahrnehmung, die vom beobachteten Gegenstand, vom Standpunkt des Beobachters, also der Perspektive, der Beleuchtung durch frühere Erfahrungen, den Interessen und dem Zeitpunkt der Wahrnehmung bestimmt ist, verloren. Diese Wahrheiten werden zu einer einzigen, ewigen Wahrheit, wie dies bei monotheistischen Religionen besonders deutlich wird.

Verlust der eigenen Persönlichkeit

Da der in der Kindheit traumatisierend geprägte Mensch gelernt hat, dass er in seiner eigenen Person, seinen Interessen und in seiner Befindlichkeit nicht wahrgenommen wird, übernimmt er diese Sichtweise und nimmt sich selbst nicht mehr wahr. Er sieht sich mit den Augen der primären Umwelt und sieht nur das und nimmt das wahr, was ihm beigebracht oder sogar eingetrichtert wurde, die negativen Bewertungen und Bedeutungen, Gebote und Verbote, Zwänge, Normen und Regeln. Durch die negative Sichtweise infolge der Traumatisierung geht das Differenzierungsvermögen verloren, zwischen gut und böse zu unterscheiden. Im negativen Selbstbild und Fremdbild malt der Traumatisierte sozusagen den Teufel an die Wand, sieht überall Katastrophen, man spricht auch von Katastrophisieren, und muss mit allen Mitteln diese Bedrohungen verhindern und dagegen ankämpfen. Auch lässt die spätere Katastrophensicht Rückschlüsse auf die erlebte Kindheit zu.

Tabu der Selbstwahrnehmung

Die Selbstwahrnehmung im doppelten Sinne, sich selbst wahrzunehmen, als auch seine Interessen zu verfolgen, fehlt jedoch oft nicht nur, sondern sie ist sogar verboten, wenn die Eltern mit ihr Ängste und Befürchtungen verbinden. Wie tief darüber hinaus in der Beziehung von Eltern zu Kindern oft Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung verboten sind, zeigt in unserer christlich geprägten Kultur an einem mythischen und religiösen Beispiel die biblische Schöpfungsgeschichte. Die transgenerationelle Übertragung, versinnbildlicht in der Erbsünde ist eingeschlossen. Da die Eltern selbst, symbolisiert durch Gottvater, die Selbstwahrnehmung und -bestimmung nicht vermitteln können, muss diese von außen kommen, dem Teufel. Der Apfel steht für die Verführung und das Böse, vom Baume der Erkenntnis und die Übertretung des Gebotes für die frevelhafte Gottgleichheit. Diese Verbote und die Versündigung gehen ebenfalls in die fehlende positive Selbstwahrnehmung über Generationen hinweg ein, dem irdischen Jammertal, das der Erlösung harrt. Sie alle wissen – von wem, natürlich einer männlichen Figur entsprechend der Hoffnung, dass der Vater aus der Verstrickung mit der Mutter heraus führt.

In deutschen Märchen ist der Erlöser der Prinz, bei Aschenputtel dank einer bösen Stiefmutter aus einem grauen, entwerteten Alltag, bei Dornröschen aus einem hundertjährigen Lebensstillstand, dem Schlaf, hinter Mauern und Dornen. Bei Schneewittchen steht der Apfel für das Gift der Entwertung durch die Mutter, verschoben auf die Stiefmutter – Mütter sind ja heilig, die guten Mütter (siehe den Artikel über den „Gute-Mutter-Mythos) – in allen Fällen infolge einer missgünstigen und eifersüchtigen Mutter. Missgünstig ist die alternde Mutter in ihrer selektiven Wahrnehmung, wobei sie nur die Nachteile und nicht die Vorteile des Alterns sieht, auf die aufblühende Jugend und die mögliche Zukunft der Töchter, während sie in sich nur den Verfall sieht, und eifersüchtig auf die besseren Chancen beim Vater und den Männern. Ihr Gift zerstört die Tochter. Ähnliches gilt natürlich für die Beziehung zwischen Vätern und Söhnen und für Gott in der biblischen Schöpfungsgeschichte. Manch guter Christ mag mich für frevelhaft respektlos gegenüber der heiligen Religion halten.

Gegenreaktionen der Größe, Stärke, Heiligkeit und Macht

Demütigungen, Ohnmacht und Ausgeliefertsein stellen jedoch eine narzisstische Kränkung, eine Herabsetzung im Selbstbild, dar. Bei in der Kindheit und später erlebten traumatisierenden Kränkungen und Verletzungen besteht die Neigung, ein Gegenbild von Größe, Stärke, Macht, Unverletzlichkeit, sozusagen über allem zu stehen, alles im Griff zu haben und vor Verletzungen gefeit zu sein, in Religionen der Heiligkeit, und eine Kontrolle vor Bedrohungen und Demütigungen aufzubauen. Vielleicht setzt sich auch das ursprüngliche Größenbild des kleinen Kindes fort und kann nicht realitätsgerecht revidiert werden. Dieses kann auch in der Kindheit vermittelt – das Kind ist das Größte – und verinnerlicht und/oder aufgrund späterer negativer Erfahrungen errichtet werden.

Deswegen vermitteln oft Angstkranke ein Bild der Souveränität und Stärke. Sie haben starke Angst, durchschaut zu werden, sind sogar oft überzeugt, man sehe ihnen ihre Schwäche und Angst an. Traumatisierte Jugendliche und Rechtsradikale bevorzugen ein Stärkebild. Macht und Kontrolle vor allem in totalitären Systemen, an der nicht gerüttelt werden darf und hart bestraft wird, weisen auf den Kern der Traumatisierung hin. Die Außenwirkung von Stärke und Heiligkeit dient auch dem Versuch, im späteren Leben durch die Außenwahrnehmung das Innenbild der Schwäche und Angst zu korrigieren. Dieses Verhalten, immer den Helden zu spielen, und die Angst vor der Schwäche und dem Durchschautwerden führen zu einer Überforderung und Krankheitsanfälligkeit.

Verhalten nach der Wahrnehmung

Der Mensch verhält sich nach dem, was er glaubt, was ist und sein wird, seiner gegenwärtigen und zukünftigen Wahrnehmung, seinen Zukunftsentwürfen, auch wenn er von falschen Annahmen ausgeht. Diese Annahmen entsprechen ja den Erfahrungen und inneren Bildern. Sie müssen aber nicht der späteren Realität entsprechen. Durch die Umsetzung seiner Wahrnehmungen in Handlung schafft er Realitäten, die seinen Annahmen, auch den falschen Annahmen, entsprechen können. Also hat er recht gehabt. Dadurch kann das Leben zu einem Kreislauf von falschen Vorhersagen und Prophezeiungen werden, die sich dann als richtig herausstellen, einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung, self fulfilling prophecy. Dieser Kreislauf kann hoffnungslos werden. Oder es besteht die Möglichkeit, die neue Realität nach den alten Mustern umzudeuten. Im griechischen Mythos und wiederum in der Ödipus-Sage wird diese Tragik so dargestellt, dass gemäß der Prophezeiung der Sohn seinen Vater erschlagen und seine Mütter heiraten wird. Ohne diese Prophezeiung wäre dieses tragische Geschehen wohl kaum passiert. Die selektive Wahrnehmung wird an der Bedeutung des bedrohlichen Zukunftsentwurfes nach katastrophalen Ereignissen in den Orakeln wie dem Berühmtesten von Delphi und an den „blinden Sehern“ aufgezeigt, sowohl die Blindheit der Ratsuchenden als auch die Blindheit und Hellsichtigkeit der Seher.

Auch beim sogenannten Mobbing, wenn dieses von der negativen Sichtweise des Opfers ausgeht, zeigt sich diese Tragik. Häufig sieht sich der Gemobbte zuerst herabgesetzt, interpretiert etwa ein Lachen als Auslachen oder Aussagen negativ als Verletzungen, Demütigungen und Beschuldigungen, so wie er es früher erlebt hat, wehrt sich und bringt die anderen gegen sich auf, die ihn dann tatsächlich herabsetzen und mobben. Der Arbeitsplatz artet zu einem Kampf aus, einer negativen Gegenseitigkeit statt einer positiven, in der alle gegeneinander arbeiten, anstatt sich zu ergänzen.

Überforderung.

Durch den Verlust der Identität und dem Kampf, diese wieder zu finden, entsteht eine massive Überforderung, Überlastung und als Folge eine Krankheitsneigung. Da der Mensch in seiner Anlage auf die Aufrechterhaltung eines positiven Selbstbildnis und einer positiven Welt ausgerichtet ist, gerät er in Spannung und Diskrepanz zu sich selbst, einer inneren Zerrissenheit, und gerät in eine weitere Überforderung. Die Entwertungen werden ja nicht als subjektive Wahrheiten gesehen, die man verschieden sehen könnte, sondern als objektive oder sogar absolute, insofern einzige Wahrheiten.

Treten nun verschiedene Ansichten und Auffassungen in den Vordergrund, äussern sich Menschen völlig unterschiedlich, etwa Ärzte über Krankheiten, ist die Folge eine Verwirrung oder ein inneres Chaos. In der einzigen Wahrheit kann es nicht verschiedene Wahrheiten geben!, siehe die monotheistischen Religionen, die meines Erachtens hinsichtlich der Verschiedenartigkeit und Relativierung einen Rückschritt des Menschen darstellen. Die Verwirrung überfordert. Vergleichbar ist es so, als ob jemand eine Münze hin und her wendet in dem Glauben, die Münze habe nur ein Aussehen. Meine eigene Religiösität nach einer streng katholischen Erziehung war weitgehend vorbei, als ich als Jugendlicher auf die Idee kam, vielleicht durch teuflische Anregung, „Es gibt verschiedene Religionen, die alle von sich behaupten, die einzige und alleinige Wahrheit gepachtet zu haben. Verschiedene einzige Wahrheiten kann es nicht geben. Also stimmt etwas nicht!“.

Deswegen werden Eindeutigkeit und eine klare Linie gefordert, die es jedoch nicht geben kann. Dazu sagte mir ein höherer Wirtschaftmanager „Das Auf und Ab wird in Industrie und Wirtschaft gerade noch geduldet, aber das Hin und Her, der Zickzackkurs, ist zutiefst verpönt, obwohl überall gang und gäbe“. Diese Aussage zeigt die Entwertung der Normalität. Da jedoch alle Dinge ihre guten und schlechten Seiten haben, also immer eine Ambivalenz herrschen muss, meist sogar nach unbewussten Gesichtspunkten, nach der sich je nach Sichtweise verhalten wird, der Ambitendenz, stellen die Eindeutigkeit und der klare Weg eine Schein(er)lösung und weitere Überforderung dar.

Im zweiten Teil wenden wir uns den Krankheitsfolgen und den Chancen von Erkrankungen zu, die in ihnen stecken.

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