Die Stille in Berlin”¦ – Rezension zum Roman „Nationalstraße“ von Jaroslav RudiÅ¡

Jaroslav RudiÅ¡ und Martin Becker. © Andreas Geil
Mit solchen Zeilen in der U-Bahn durch den wenig feinen Berliner Feierabendverkehr kommend, landet man auf dem Kurfürstendamm Ecke Fasanenstraße. In weiches gelbes Licht getaucht, die feinen Bürgerhäuser in fast Weihnachtlicher Stimmung.  Das  Berliner Literaturhaus wie ein Schloss im Schnee, von der Freitreppe kommt mir die Radiofrau anmutig entgegen geschwebt, im Schloss Café der Autor selbst, offen und fröhlich angespannt. Das Haus ist heute Abend ausverkauft.  
Doch die Party ist schon lange vorbei, nicht nur in Prag, eigentlich auch in Berlin, Wien und Bratislava. In seinem gefeierten Roman „Die Stille in Prag“ schrieb Jaroslav Rudis 2012: „Jeder Aufbruch hat einmal ein Ende. Die Revolution, die Anfang der 90er Jahre das Leben in Prag zu einer einzigen großen Party machte, ist längst vorbei. Jetzt ist Spätsommer, das Licht ist bereits schwach und träge geworden. Doch bevor sich der Sommer endgültig dem Ende zuneigt, wird für fünf Menschen nichts mehr so sein, wie es vorher war ”¦“  Die Kritik war begeistert  und die SZ jubelte zu Recht "Endlich wieder einmal ein Prag-Roman, und zwar ein guter."
Mit Nationalstraße legt das Multitalent Jaroslav RudiÅ¡ nun eine radikale Innenansicht auf sein schönes melancholisches Tschechien vor, die man sich schon bei den ersten Zeilen, als Theaterstück und Konzeptalbum vorstellen kann.  Sein Held Vandam, ein junger Polizist, ein Vorstadt-Held oben in der Plattenbausiedlung des neuen Prag, die dem Wald abgetrotzt mitten in rauer Natur liegt. Fünfundzwanzig Jahre später wohnt Vandam immer noch in der Plattenbausiedlung seiner Kindheit. Längst ist er kein Held mehr, sondern ein Verlierer: Wegen Gewaltexzessen aus dem Polizeidienst entfernt, prügelt er sich als einsamer Schläger durch Tage und Nächte und hebt im Fußballstadion regelmäßig die rechte Hand zum Hitlergruß. »Ich bin ein Römer. Kein Nazi. Warum sollte man in Europa nicht mit dem römischen Gruß grüßen dürfen? Ich bin ein Europäer. Ihr etwa nicht? Heil dem Volk! Heil Europa! Neger raus. Zigos raus. Sozialschmarotzer raus. Schwuchteln raus. Böhmen den Tschechen.«
Dieser Vandam und seine Freunde sprechen eine blumige und gewaltbereite Sprache, der es an Direktheit und Entschlossenheit, dem faulen Frieden der Spätdekadenz nicht länger tatenlos zuzuschauen,  nicht im geringsten fehlt. Ein Buch, was wie ein Echolot auf die aktuellen wiederkäuenden Diskussionen in Prag, Berlin, Athen, Paris und Brüssel reagiert; wie eine verstörende Innenansicht jenseits sämtlicher Europamythen und politischer Korrektheit.
Jaroslav RudiÅ¡ führt diesen brachial starken Monolog im Kopf und Körper eines Schlägers: »Da wird mir das alles zu viel, meine Hand zuckt schon wieder, mein Herz pocht, ich spüre, wie sich alles in mir staut, wie es raus will, wie mein ganzer Körper kribbelt. Ich atme tief ein und aus, zum Schluss habe ich mich wieder. « RudiÅ¡ Geschichte ist wie ein  Schlag ins Gesicht der besorgten Bürger. Wie immer bei  Jaroslav RudiÅ¡ ist die Figur extrem authentisch und basiert auf einer realen Figur. Beim Lesen im voll besetzten Literaturhaus bewegt sich der Autor wie beim Tanzen auf seinem Stuhl hin und her, Stimme und Körper agieren gemeinsam. Trotz der hintergründig ernsthaften Geschichte gibt es auch viel Witz und gesundes Lachen in den feinen Räumen an der Fasanenstraße.
Vor wenigen Tagen erklärte uns Jaroslav RudiÅ¡ in einem beachtenswert klaren und aufgeklärten Interview im Tagesspiegel, woher diese Fremdenangst in Tschechien, wo es kaum Fremde gibt, eigentlich kommt: „Etwas, was in allen mitteleuropäischen Ländern passierte, die unter Sowjetdominanz standen. Man wollte in den 90er Jahren weit weg vom Osten, wir wollten uns sogar vom Osten in uns selbst trennen. Der Westen waren nicht nur Deutschland und Frankreich, das war Amerika. Jetzt schlägt das Pendel zurück, das Östliche in uns wird wieder beschworen, man findet Putin doch nicht so übel. Ich fühle mich manchmal wie beim Schunkeln in der Kneipe. Und ich meine, wir sollten den Bierkrug endlich mal absetzen.“  Obwohl der Versuch von PEDIGA, sich in Prag vor einigen Wochen auszubereiten, gescheitert ist, sieht man in Tschechien, ähnlich wie in Polen und Ungarn die Tendenz zur Abschottung als Politikziel.“ Es macht traurig zu sehen, dass Tschechien wieder eine kleine Insel sein will. Ich bin froh, dass ich das Ende der Sowjetzeit noch erlebt habe. Hoffentlich hat es mich gegen die Inselmentalität immunisiert. Die ist bei uns stark, vielleicht liegt es auch daran, dass wir keinen Zugang zum Meer haben wie die Polen. Wir schotten uns zu gern von der Welt ab. Die Berge um Böhmen und Mähren sind eigentlich nicht besonders hoch, aber sie scheinen eine enorme Hürde zu sein. Als ich in meiner Prager Stammkneipe „Zum ausgeschossenen Auge“ vor 15 Jahren erzählte, ich würde ein Jahr ins Ausland gehen, waren alle fassungslos. Wer geht, gilt bei einigen sofort als Verräter, man hört auch Emigranten nicht gern zu. Da heißt es dann: Du weißt nichts von uns, erzähl uns nichts, du hattest ein schönes Leben in Frankreich oder in Frankfurt. Was es bedeutet, Emigrant oder Flüchtling zu sein, dafür gibt es wenig Gefühl.“
In seinem Buch, das als innerer Monolog geschrieben ist, erzählt uns Jaroslav RudiÅ¡ nicht nur von einer tschechischen Haltung  und deren Ursuppe aus Politik, Neoliberalismus und Zeitgeschichte, sondern legt, wie in schon in „Die Stille in Prag“, eine Blaupause für die meisten Europäischen Staaten vor.  Ein beachtenswerter  Roman, der breite Öffentlichkeit und  entsprechend mediale Beachtung verdient, denn sein Autor ist eine starke Stimme mit einer starken Haltung. Im Nachwort zur deutschen Ausgabe heißt es: „Ich wollte ein Buch schreiben über die absurde Einsamkeit, in der wir heute leben – mitten in Europa. Ich wollte ein Buch schreiben über unsere tschechische Angst. Über Vorurteile.  Über Unsicherheit. Über Hass. Über Aggression. Über den verbreiteten Mythos, uns als die ewigen Opfer der Geschichte zu betrachten und davon überzeugt zu sein, dass wir niemanden etwas Böses angetan haben. Schuld sind immer die anderen.“
Berlin ist friedlich in dieser gefühlt vorweihnachtlichen Nacht, ein stiller Ort, voller Menschen und voller unausgesprochener Gefahren.
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Jaroslav RudiÅ¡, Nationalstraße, Roman, Deutsche Erstausgabe, Aus dem Tschechischen von Eva Profousová,Originaltitel: Národní­ tří­da, Originalverlag: Labyrint, Paperback, Klappenbroschur, 160 Seiten, 13,5 x 20,6 cm, ISBN: 978-3-630-87442-5, Preise: 14,99 Euro (D), 15,50 Euro (A) und 20,50 CFr * (* empfohlener Verkaufspreis), Verlag: Luchterhand Literaturverlag, NEU, Erschienen: 29.02.2016
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