Die Sprache der roten Dächer – Ein Film über die Siedler des Westjordanlandes

Ein verlassenes Dorf in Palästina/ Staat Israel. Quelle: Pixabay

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Es will schon etwas heißen, wenn ARTE einen politisch brisanten Film nicht kurz vor Mitternacht, sondern zur Hauptsendezeit um 20.15 Uhr zeigt. Es geht um die israelischen Siedler der palästinensischen Gebiete der Westbank und im Grunde um die israelische Siedlungspolitik.

Der Film des israelischen Regisseurs Shimon Dotan schlägt den historischen Bogen von der Teilung Palästinas durch die UNO im Jahre 1947 in einen jüdischen und einen arabischen Teil, die als selbständige Staaten konstituiert werden sollten, über die Vertreibung der Palästinenser, den Sechstagekrieg im Juni 1967, den Yom-Kippur-Krieg im Oktober 1973, das Oslo-Abkommen im September 1993, die Intifada des palästinensischen Volkes 1987 und 2000 und den Mord an Ministerpräsident Jitzchak Rabin 1995 bis zur gespannten Lage der Gegenwart.

Er konzentriert sich auf die Menschen, die Aktivisten und Führer der Siedlungsbewegung und auf ihre Organisationen. Dabei spielt die tiefe religiöse Überzeugung der Siedler eine große Rolle, das ihnen von Gott verliehene Land von Judäa und Samaria bewohnen und besitzen zu müssen. Denn ohne eine Massenbewegung könnten heute nicht 400 000 Menschen in 100 Siedlungen und weiteren 125 »Außenposten« inmitten von 2,7 Millionen Palästinensern wohnen. Der fundamentale Impuls ging von einem Aufruf des Rabbiners Zvi Yehuda Kook im Mai 1967 aus, der rhetorisch fragte, wo ist unser Hebron, unser Nablus, unser Jericho? In den Händen von Nichtgläubigen!

Was wie eine spontane Bewegung von gläubigen Juden losbrach, wurde schon bald organisierte politische Gewalt, denn der israelische Präventivschlag gegen Ägypten, Syrien und Jordanien mit einem Sieg nach sechs Tagen konnte nicht unvorbereitet geführt werden. Die Anhänger Kooks empfanden das als Zeichen der Unbesiegbarkeit ihres Glaubens und als Befehl in höherer Mission.

Die Rechtslage wurde von der Regierung alsbald aufgeklärt. Artikel 49 der IV. Genfer Konvention besagt, dass eine Besatzungsmacht ihre Bevölkerung nicht in die besetzten Gebiete transferieren darf. Doch bereits im Juli 1967 wurden nach dem Allon-Plan in den palästinensischen Gebieten »Sicherheitssiedlungen« gegründet.

Die israelische Regierung war zunächst gespalten, stoppte die Besiedlung zeitweilig oder unterstützte sie. Doch die Siedler schufen vollendete Tatsachen. Sie griffen auch zu Partisanenmethoden, indem sie zum Beispiel ein Hotel in Hebron besetzten und dort eine jüdische Gemeinde konstituierten, aus der ein israelischer Teil der Stadt mit tausenden Bewohnern erwuchs. Der Regisseur interviewt viele jüdische Aktivisten, die von ihrem Recht überzeugt sind und das besetzte Land nicht wieder hergeben wollen. Das steigert sich in Phantasien von einem Großisrael vom Euphrat bis zum Nil.

Ist das Fußfassen von hundert Siedlungen allein von einer Volksbewegung zu leisten? Shimon Dotan bestätigt auf Anfrage, dass die israelische Regierung die Siedlungen als Teil Israels betrachtet. Sie werden staatlich unterstützt mit dem Ausbau der Infrastruktur, mit militärischem Schutz, mit Bildungseinrichtungen und so weiter. Das kostet Milliarden, doch es sei wegen der von der Regierung gepflegten systematischen Intransparenz nicht möglich abzugrenzen, welche Mittel für die Siedlungen verausgabt werden. Die Unterstützung der »Outposts« sei politisch heikel, weil sie nicht nur in den Augen des Auslands, sondern auch der Regierung illegal seien. Das verschweige die Regierung vor der israelischen Öffentlichkeit und vor der Welt. Doch die ehemalige Stellvertretende Generalstaatsanwältin Talila Sasson weist in ihrem »Sasson-Bericht« nach, dass die Ministerien und die Kommunen die Außenposten insgeheim finanzieren. Viele Siedlungen werden bewusst zwischen zwei palästinensische Orte gesetzt. Ihre leuchtend roten Dächer können im Kontrast zu den ortsüblichen weißen Städten die Palästinenser »ärgern«.

Neben den religiösen Gründern finden die Siedlungen auch Nutznießer. Nach Ansicht von Experten sind die Siedler zu 80 Prozent unpolitische Wirtschaftssiedler, die in die Westbank ziehen, weil zum Beispiel die Wohnungen billiger sind. Der Staat fördert ihr Gefühl der Sicherheit, indem er getrennt vom palästinensischen Verkehrssystem Schnellstrassen baut, sodass der Siedler, der nicht auf israelischem Staatsgebiet lebt, bei der Fahrt von Jerusalem in seinen Wohnort nie das Gefühl hat, israelisches Territorium zu verlassen.

Der Gesamteindruck des Films wird von Aussagen von Politikern, Militärs, Juristen, Wissenschaftlern und Vertretern der Menschenrechts- und Friedensbewegung in Israel und Palästina gestützt, insbesondere von den offiziellen Untersuchungen Talila Sassons.

Dotan und sein Team fanden unter den Siedlern bereitwillige, offenherzige Interviewpartner. Jedoch ist auch festgehalten, wie ein Kameramann mit einer Eisenstange niedergeschlagen wurde. Auch die politische Diffamierung als eines »überzeugten Linken« blieb Dotan nicht erspart.

Dokumentiert wird die Kraft der Überzeugung der Siedler und die Eigendynamik einer Massenbewegung. Weniger als eine halbe Million hält »das Schicksal Israels und, im übertragenen Sinne, auch das Schicksal des gesamten Nahen Ostens in ihren Händen«, sagt Dotan. Offen bleibt ihr politisches Gewicht unter der Mehrheit des israelischen Volkes von 8,4 Millionen. Jedoch interpretiert der Film die Siedlungspolitik nicht als den Willen des Volkes, sondern als Machtpolitik des israelischen Staates. Die Bestimmung des Osloer Friedensabkommens, keine weiteren Siedlungen zu bauen, wurde gebrochen. Ein Mitglied der Bewegung »Frieden jetzt« meint: Zwischen den beiden Gruppen gibt es per definitionem je nach Abstammung unterschiedliche politische, wirtschaftliche und juristische Rechte. Es ist Apartheid: Besatzung plus Besiedlung. Der Osloer Friedensprozess wird durch die Siedlungen blockiert. General Shlomo Gazit, ehemals Kommandeur der Truppen in den besetzten Territorien, resümiert: »So kann es nicht weitergehen«.

Aus dem Spektrum der Ansichten kann sich der Zuschauer eine Meinung bilden. Trotz »Staatsraison« lässt der Film keinen anderen Schluss zu, als dass die Siedlungspolitik eine Gefahr für den Frieden ist. Es bleibt kein anderer Ausweg als Verhandlungen auf gleicher Augenhöhe.

Die Siedler der Westbank von Shimon Dotan, ARTE/Yes Israel/NDR/BR/HR 2016, 90 min, Sendungen Dienstag, 27.September, 20.15 auf ARTE in zwei Teilen, und Mittwoch, 28. September 2016, 23.30 Uhr, in ARD.

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