Die letzen Sechs! Zum Zweiten. – Serie: Deutscher Buchpreis 2010 (Teil 5/5)

Hat große Chancen auf den kuriosesten Buchtitel des Jahres: Der aktuelle Roman von Jan Faktor

Jan Faktor also hat ein schwergewichtiges Werk vorgelegt, was den Umfang von 636 Seiten angeht. Aber, wie er das macht, hat eher etwas von Leichtgewichtigkeit, denn er bindet das Psychogramm einer Familie, seiner eigenen, von der Georg als Icherzähler berichtet, zusammen mit dem Porträt einer alten, derzeit heruntergekommenen Stadt, dem ewigen Prag, zu einem funkelnden Kaleidoskop von Wünschen und Wünschelruten, die er legt. Völlig zu Recht also kommt im Titel Prag vor, wie auch der auktoriale Erzähler Georg, an dem das aberwitzig Besondere ist, daß er sich nur um die Vergangenheit Sorgen macht, aber einer strahlenden Zukunft gewiß ist.

Vom Verlag Hanser also hat es nur Thomas Lehrs „September. Fata Morgana“ in die kurze Liste geschafft. Denn dieser Verlag, mit einem pfiffigen und besonders fachkundigen Verlagsleiter bestückt, hatte noch drei Romane auf der Zwanzigerliste versammelt und ist unseres Wissens derjenige Verlag, der bis heute überhaupt die meisten Nominierungen zu den Deutschen Buchpreisen erhielt. Wir vermissen also „Madalyn“ von Michael Köhlmeier, den wir eben besonders gerne lesen, und auch Martin Mosebach mit „Was davor geschah“, ein Roman, den viele als Favoriten einstuften, den es geht um Liebe, um Gutbetuchte und all das, was zwischen Gefühlen und dem Verwirklichen durch Leben dazwischensteht, ein Roman also, der ein besonders großes Leserecho erhält, der uns aber ein wenig allzu gut geschrieben ist, will sagen: ein Wortekünstler, der von sich selber weiß, wie gut er formulieren kann und uns sein Urteil über seine literarischen Qualitäten immer schon selbstverliebt vorweg nimmt, was einem Leser aufstößt. Einer Leserin auch.

Auch in „September. Fata Morgana“ geht es um Familie, allerdings um zwei, die noch dazu weit voneinander entfernt leben, in den USA und im Irak, wobei hier der Begriff Familie auf die Väter und Töchter beschränkt bleibt. Noch schlimmer: es bleiben gegen die Gesetze der Natur nur die Väter übrig, da die Töchter sterben. Keinen kleinen privaten Tod, sondern die eine am 11. September 2001 in New York im World Trade Center, die andere 2004 in Bagdad durch ein Bombenattentat. Nicht dramatisch, packend, sondern poetisch verfremdend schreibt Thomas Lehr über zwei Kulturen und ihren Zusammenkrach wie Zusammenbruch. Das Schriftbild ist so aus den Fugen geraten wie die ganze Welt drumherum. Die Wichtigkeit der Aussage wird nicht durch Fettdruck oder bedeutungsschwere Wörter vermittelt, sondern durch die Absätze oder Groß- und Kleinschreibungen. Thomas Lehr stand schon einmal auf der kurzen Liste, beim allerersten Deutschen Buchpreis 2005 mit „42“, damals im Aufbau Verlag erschienen.

Kommen wir zu den beiden Frauen. Würde man Bücher nach dem Aussehen kaufen – was sicherlich so mancher Käufer macht – dann würde man wie von alleine nach Melinda Nadj Abonji greifen und „Tauben fliegen auf“ aus dem Verlag Jung und Jung, Salzburg. Denn nur hier ist – anders als die Schreibwüsten auf den Titeln aller anderen ausgewählten Romane – auf lila-fliederfarbenem Hintergrund und hellbrauner Rückseite endlich einmal wieder ein Bild zu sehen. Sehr dezent in den Farben und eher graphischer Anordung einer Straße mit Bäumen vor Hügeln kommt breit und auffällig ein dicker amerikanischer Wagen daher. Es geht um einen schokoladenbraunen Chevrolet, mit dem die noch Namenlosen schon in der ersten Zeile des Romans in die Kleinstadt einfahren. So sinnlich, wie die Aufmachung des Buches, so sinnlich wird von Melinda Nadj Abonji auch erzählt.

Da ist man schnell bekannt mit der Familie Kocsis, die in die Schweiz ausgewandert ist, aber doch eigentlich im Norden Serbiens zu Hause ist und auch ständig wiederkommen muß, denn noch wird der Begriff „Familie“ als lebendiges Konstrukt gefühlt. Man ist also dabei bei Hochzeiten, selten Geburten und Geburtstagen, sicher aber wieder bei Beerdigungen. Hier geht es einmal nicht um die inneren Beweg- oder Abgründe eines einzelnen, sondern um das Zusammenleben in einem zerklüfteten Europa, das einem umso wunderlicher vorkommt, je selbstverständlicher die Autorin uns darin herumführt.

Judith Zander schließlich mit „Dinge, die wir heute sagten, erschienen im Deutschen Taschenbuch Verlag, legt ihren ersten Roman vor. Er war unser neunzehnter der Zwanzigerliste und ist noch nicht gelesen. Das macht aber nichts, denn alle sechs ausgewählten Titel der kurzen Liste, stellen wir in Einzelrezensionen vor der Preisverleihung noch vor. Demnächst also mehr aus diesem Theater.

Info:

Der Träger des Deutschen Buchpreises, der Börsenverein, gibt – in fragwürdigem Deutsch! – zudem bekannt: Auszüge aus den nominierten Romanen stehen über www.libreka.de kostenlos zum Download bereit. Sie können auf einen Computer oder E-Book-Reader herunter geladen und dort gelesen werden. Anlässlich der Nominierung der Longlist-Titel gibt die MVB Marketing- und Verlagsservice des Buchhandels GmbH, eine Wirtschaftstochter des Börsenvereins, das "Lesebuch zur Longlist Deutscher Buchpreis 2010" heraus. Darin werden Leseproben und Hintergrundinformationen zu den auf der Longlist nominierten Romanen veröffentlicht. Es ist ab kommender Woche in Buchhandlungen erhältlich. Zudem finden im September in sechs deutschen Buchhandlungen und in fünf Goethe-Instituten im Ausland Blind Date-Lesungen mit den Nominierten statt.

Was unsere bisherigen Artikel ausführten, ist vom Börsenverein noch einmal zusammengefaßt: Der Jury für den Deutschen Buchpreis 2010 gehören neben Julia Encke an: Jobst-Ulrich Brand (Focus), Thomas Geiger (Literarisches Colloquium Berlin), Ulrich Greiner (Die ZEIT), Burkhard Müller (Süddeutsche Zeitung), Ulrike Sander (Osiandersche Buchhandlung, Tübingen) und Cornelia Zetzsche (Bayerischer Rundfunk). Von den Titeln der Longlist benennen die Juroren in einem nächsten Schritt sechs Titel für die Shortlist, die heute, am 8. September 2010 veröffentlicht wird. Erst am Abend der Preisverleihung des 4. Oktober 2010 erfahren die sechs Autoren, an wen von ihnen der Deutsche Buchpreis geht. Der Preisträger erhält ein Preisgeld von 25.000 Euro; die fünf Finalisten erhalten jeweils 2.500 Euro.

Der Deutsche Buchpreis wird von dem Börsenverein des Deutschen Buchhandels Stiftung vergeben. Partner des Deutschen Buchpreises sind Paschen & Companie, die Stiftung der Frankfurter Sparkasse, die Frankfurter Buchmesse und die Stadt Frankfurt am Main. Die Deutsche Welle unterstützt den Deutschen Buchpreis bei der Medienarbeit im In- und Ausland. Die Preisverleihung findet am 4. Oktober 2010 zum Auftakt der Frankfurter Buchmesse im Kaisersaal des Frankfurter Römers statt. Deutschlandfunk und Deutschlandradio Kultur übertragen die Preisverleihung live im Rahmen von ‚Dokumente und Debatten‘ auf den LW 153 und 177 kHz, der MW 990 kHz sowie als Livestream im Internet unter www.dradio.de

Ab dem 22. September 2010 werden zudem Auszüge aus den Shortlist-Titeln in englischer Übersetzung und ein englischsprachiges Dossier zur Shortlist auf dem Internetportal www.signandsight.com präsentiert. Auszüge aus den 20 Romanen der Langen Liste sind abrufbar unter www.libreka.de.

www.signandsight.com

www.deutscher-buchpreis.de

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