Die kurze Liste in vier Stunden – Serie: Sechs Finalisten zum Deutschen Buchpreis 2010 stellen ihre Bücher im Literaturhaus in Frankfurt vor (Teil 1/2)

Melinda Nadj Abondji

Wer dann am 4. Oktober also den Preis erhält, das bleibt auch nach der Lesung der vier Autoren und zwei Autorinnen spannend. Denn eines kann man zur Auswahl jetzt noch deutlicher sagen, als es die Jury schon tat. Damals hatte Julia Encke, Literaturkritikerin bei der FAZ, gesagt zur Auswahl gesagt: „Wir freuen uns, sechs außergewöhnliche Finalisten zu präsentieren, sechs sehr unterschiedliche literarische Stimmen: poetisch, komisch, experimentell. Es sind Romane, deren Gemeinsamkeiten wohl vor allem in ihrer Welthaltigkeit zu finden ist.“

Hat man die Romane gelesen oder auch nur diesen Abend im Literaturhaus verbracht, kann man den Begriff ’Welthaltigkeit’ präzisieren, daß es sich hier zur Hälfte um aus anderen Sprachräumen, also mit anderer Muttersprache großgewordene Deutschsprachige handelt, zur anderen Hälfte um Autoren, deren Bücher von persönlichen Verlusten handeln, so daß man insgesamt sagen kann, daß teilweise die Form des Schreibens das Innovative herstellt, daß aber bei allen im Mittelpunkt der Mensch steht, der aus seiner Verankerung herausgerissen – oder diese erst gar nicht erfahren darf. Das übereinstimmende inhaltliche Motiv ist tatsächlich bei allen sechs Finalisten die kulturellen Differenzen, die auftreten, wenn man den eigenen Raum verlässt und sich identitätslos, zumindest verunsichert, aufmachen muß, durch Integration oder Widerstand eine neue Identität aufzubauen oder wie im Fall des Peter Wawerzineks „Rabenliebe“, überhaupt erst eine zu gewinnen: Sprachsuche, Muttersuche, Vatersuche, Ichsuche.

Premiere war bei diesem erst das zweite Mal vorgenommenen Lesemarathon des 6. deutschen Buchpreises, daß tatsächlich alle sechs Finalisten anwesend waren. Drei Radiomoderatoren hatten sich die Autoren aufgeteilt, weil der Abend in drei Programmen ausgestrahlt wird. Es begann mit der Moderation von Maike Albath, Deutschlandradio Kultur und Melinda Nadja Abonji und ihrem im Jung und Jung Verlag, Salzburg erschienen Roman „Tauben fliegen auf“. Die Geschichte setzt 1993 ein, Familie Kocsis war aus Jugoslawien in die Schweiz ausgewandert. Erst der Vater, dann durfte die Mutter mit den beiden Töchtern nachkommen, von denen die eine, Ildiko, hier die Geschichte erzählt. Zusätzlicher Hintergrund ist, daß die Familie aus der Vojvodina im Norden Serbiens kommt, wo die ungarische Minderheit lebt, zu der auch diese Familie zählt. Melinda Nadja Abonji wird dann erzählen, daß auch sie ungarisch aufgewachsen ist und sie beim Roman gezwungen war, in der Ich-Form zu schreibend- zum ersten Mal übrigens – , daß es aber nur im Kern um ihre eigene Geschichte gehe, zu der sie viel dazuerfunden hat, weil das eigene Leben abzuschreiben immer viel langweiliger sei als die Konzentration in einem Buch.

Sehr anschaulich berichtet sie von ihrem eigenen Großwerden als Jugoslawin in der Schweiz, dessen erstes Jahr ein sprachloses war. Es könne schon sein, antwortet sie auf die Frage, ob diese Situation den Spracherwerb für sie produktiver gemacht habe, sie also das Deutsche sehr viel intensiver gelernt habe als die, die darin aufwachsen. Beispiel war die Aufführung von Schneewittchen, in der sie – sprachlos eben – einen Baum darstellen mußte, einen schönen Baum mit grüner und brauner Verkleidung für sie, aber: „Irgendwann wollte ich dann auch eine Rolle haben.“ Ihr eigentliche Leidenschaft für die Sprache, die sich erst auf unsicherem Boden bewegt habe, sei mit ihrer „unheimlichen Liebe zu Heinrich von Kleist“ eingetreten. Im Roman arbeiten die Eltern immer, die Voraussetzung, ein Schweizer Bürger zu werden, und nicht nur dies, sondern, daß sie über ihre Heimat und all dem, was dort passiert, nicht reden, das Schreckliche nicht thematisiert wird, führt dazu, daß die Kinder sich Gedanken machen und Dingen auf den Grund gehen.

Das schweizerische Leben wird noch intensiver, als die Eltern ein Café übernehmen, in einer gutbürgerlichen Gegend, wo auch die Mehrheit der Gäste aus bürgerlichem Lager kommen, aber bei den Angestellten nur eine Schweizerin ist. Wie auch das Baugewerbe sei das Gastgewerbe in der Schweiz in jugoslawischer Hand. Das Buch selbst handelt in den sehr berührenden Teilen von den Besuchen in der Heimat, vom Zusammentreffen mit der so geliebten Großmutter und all dem Sinnlichen, sprich Essen, Trinken, Feiern, das auch zu den kulturellen Unterschieden gehört und das oft als einziges übrig bleibt, wenn man weggeht und sich dann in zwei so verschiedenen Welten nicht mehr so viel zu sagen hat, vor allem nach dem Zerfall Jugoslawiens gar nicht mehr sagen durfte, denn diese so liebevoll geschilderte Heimatwelt-Fahrten brachen 1990 ab. Das, was Jugoslawien zerriß, kann man nachempfinden bei den aus den verschiedenen Teilen Ex-Jugoslawien kommenden Angestellten im Café. Nach der Lesung großer Beifall.

Alf Mentzer, hr2-kultur, sagte als erste Frage gleich seine Meinung zu „Fata Morgana“ von Thomas Lehr im Hanser Verlag, einem Roman, dessen: „Erste Seite irritiert, zweite Seite packt, dann auf 587 Seiten nicht mehr loslässt“. Im Buch geht es um den deutschamerikanischen Germanistikprofessor Martin, der mit seiner Tochter in den USA lebt und parallel um den irakischen Arzt Tarik und dessen Tochter im Irak. Beide Töchter kommen um, die eine, weil sie am 11. September 2001 im World Trade Center war, die andere fällt einem Bombenattentat in den letzten Kriegstagen in Bagdad zum Opfer. Naheliegend die Frage an Lehr, wie er den 11. September erlebt hat. Er saß am Schreibtisch, hat erst um 17 Uhr durch den Anruf eines Freundes davon erfahren, CCN eingeschaltet und die ganze Nacht angeschaut. „Ein Schock, von dem ich mich nicht lösen konnte. Ich habe die Sendungen auf CNN angesehen und auf Video kopiert.“ Für Lehr sind durch die Fernsehbilder neue Realitäten geschaffen. „Die Figuren machen die mediale Erfahrung, das wirkt auch auf die, die das direkt erlebt haben“, das Fernsehen nimmt also diesen Menschen ihre eigene Erfahrung und überlagert sie mit den Fernsehbildern, ein Vorgang, der natürlich nicht auf New York beschränkt ist. Allerdings sieht jeder in die Bilder auch sich selbst hinein. „Mein Held Martin sieht die Bilder, sieht die aber anders, weil seine Tochter dabei ist.“ In Situationen im Krieg wiederum, wo Ausgangssperren sind, sehen Menschen auf dem Fernseher, was vor ihrer Haustür passiert. Unaufhörlich, „eine Mischung von medialer Erfahrung und eigenem Erleben.“

„Wann war Ihnen die Form klar?“, beantwortet Lehr mit: „Sofort, was die Strukturierung auf zwei Seiten angeht. Jede Auseinandersetzung in einem Krieg muß man aus beiden Perspektiven erzählen. Das habe ich von Homer gelernt, der beide Seiten zu Wort kommen läßt, wodurch der Krieg noch viel schrecklicher wird.“ Lehr berichtet, daß er mit Absicht Figuren genommen hat, die artikulationsfähig sind, „das nutzt ihnen aber nichts“. Aber ihm als Schreiber, denn so konnte er vieles „in Dialogen darstellen, die auf der Ebene erzählen können.“ Warum er sich um die Attentäter im Roman und ihre Motive nicht weiter kümmere: „Mich hat die Perspektive der Opfer interessiert. Martin versucht, sich in sie hineinzuversetzen auf zehn Seiten, aber das ich nicht meine Perspektive.“ Daß eine tragende Rolle der west-östliche Diwan einnimmt, erklärt Thomas Lehr: „ Wenn man so ein schwieriges Thema nimmt, sucht man unwillkürlich Hilfestellungen und Goethe denkt sich über Hafis in die östliche Welt hinein. Aber Martin muß Tarik erfinden, um einen Gesprächspartner auf Augenhöhe zu haben. Tarikpassagen sind Fata Morgana also Luftspiegelungen, ja, es wird die Goethezeit verglichen mit der Jetztzeit.“

Da im Roman sehr realistisch erzählt wird, schließt sich die Frage von Mentzer an, woher er das Faktenwissen habe. Darauf reagiert Lehr sehr gelassen, daß dies ja nun schon sein fünfter Roman sei – der vierte „42“ gehörte übrigens auch zu den letzten Sechs des ersten Buchpreises 2005 – und er Routine habe, zu recherchieren: Bücher, Filmmaterial. Er habe das Schreiben des Buches erst nach drei Jahren erst angefangen und auch die Orte zu bereist. Was beim Lesen des Romans als erstes auffällt, ist: „Sie haben konsequent auf Punkt und Komma verzichtet. Warum?“, fragt Mentzer, worauf der Autor antwortet und es später beim Vorlesen beweist: „Sie merken beim Lesen gar nicht, daß die fehlen. Der Text ist ein Oratorium, der Text macht Pausen, auch beim Reden machen wir kein Punkt und Komma.“, und bezieht sich auf die Entwicklung der Literatur: „Das früheste Werk das wir haben, ist ein Gedicht.“ Und zum Titel äußert er, daß die Bilder sind so nahe seien, die „ Fata Morgana“ aber das Flirrende ausdrücken soll, das Visionäre und Unsichere, was er künstlerisch wiedergeben wollte. Er liest dann die Passage, in der Martin nach New York zieht, um dem Tod der Tochter nahe zu sein, ab Seite 158.

Gerwig Epkes, SWR2, stellt Judith Zander und „Dinge, die wir heute sagen“ aus dem Deutschen Taschenbuch Verlag vor. „Bei Debütroman, zögere ich, weil, wenn man den Roman gelesen hat, glaubt man, es sei nicht der erste.“ „Ist es aber“, antwortet schnurstracks die Autorin und diese Buchvorstellung bleibt den ganzen Abend die unterhaltsamste, wenn man sie unter dem Blickwinkel betrachtet, wie ein Autor die dann oft doch sehr vorhersehbaren und auch gemeinplatzbehafteten Fragen unterläuft und das sagt, was einem wichtig ist. Bisher hat sie nur Lyrik geschaffen, „ und es scheint mir, es bleibt auch dabei, es ist mir nicht mehr vorstellbar“ einen Roman zu schreiben. Ihr Literaturstudium in Leipzig hat sie abgebrochen, ist nun dafür „diplomierte Schriftstellerin“. Wie kam es zum Roman? „ Nachvollziehen kann ich das auch nicht mehr. In einer frühen Erzählung gibt es den Kern. Und auf einmal hat sich das ausgeweitet. Die Figuren tauchten von alleine auf und wollten erzählen.“ Sie erzählen im fiktiven Dorf Bresekow, wo Anna Hanske gestorben ist. Tochter Ingrid war in Westdeutschland, hat dann in Irland eine Familie gegründet und kommt zur Beerdigung. Dann klärt die Autorin ein Frage, die sich beim Lesen stellt, wenn die Protagonisten immer die Elpe aufsuchen, die man erst für ein Gewässer hält, aber: „die Elpe ist die Abkürzung einer Abkürzung, nämlich von LPG.“

Die Figuren im Roman sprechen alle einzeln, so heißen die Überschriften Ecki, Peter &Paul, Romy etc., meist aber Ingrid, die Tochter. „Warum nicht ein allwissender Erzähler, der darüber spricht.“, fragt also Epkes und Judith Zander antwortet: „ Die Figuren waren da und hatten alle eine eigene Stimme. Die Figuren haben mehr zu sagen, als ich hätte erzählen können.“ Auf das Lob, sie habe mit dem Titel der Beatles, die auch im Roman eine Rolle spielten, für Eltern und Kinder einen Roman über den gesamtdeutschen Generationswechsel geschrieben, reagierte sie abwehrend: „Das sollte man aber nicht. Die Beatleszitate in schlechten Übersetzungen bilden einen Trost, in dem sich alle wiederfinden, das kann schon sein.“ Ingrid, die Tochter, duzt sich im Reden in ihren Kapiteln, weil sie weit von sich entfernt ist, obwohl sie dicht an sich dran bleibt.“ Auch das war eine vieldeutige Antwort auf einfache Fragen. Sie hatte sich gewünscht, weniger gefragt zu werden, mehr lesen zu können, was sie mit dem Kapitel von Ingrid über die Peter-Geschichte über ihren älteren und wichtigen Bruder von Seite 61 bis 69 tat.

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