Die Hoffnung stirbt zuletzt – Mahsun Kirmizigül erzählt das Drama einer türkischen Familie in “Günesi Gördüm – Ich sah die Sonne”

Die Handlung spielt während des 25 Jahre andauernden Terrors durch die gewaltsam um Autonomie kämpfende kurdische Arbeiterpartei PKK. Terror sagen die andren, die kämpfenden Kurden sehen es als Freiheitskampf. Die seit Generationen in einem kleinen Grenzdorf Kurdistans lebende Familie Altun wurde durch den Konflikt gespalten. Sohn Ramu (Mahsun Kirmizigül) gehört den Terroristen an, sein Bruder Mamu (Murat Ünalmis) der Armee. Nach dem Tod Ramus wagt dessen Familie aus Furcht vor der türkischen Armee nicht einmal, Ramus Foto aufzuhängen. Nicht nur Widerstand, auch Trauer wird unterdrückt. Nach Ramus Tod werden die Altuns wie viele Familien der Umgebung zwangsumgesiedelt. Nachdem das jüngste seiner sechs Kinder ein Sohn ist, hofft Mamu mit seiner Familie in Istanbul ein neues Leben beginnen zu können.

In der Großstadt wagt sein im Dorf ausgeschlossener jüngerer Bruder Kado (Cemal Toktas) ein zaghaftes Ausleben seiner Homosexualität. Doch dem rigiden Verhaltenskodex kann er nicht entkommen. Seine Brüder verfolgen ihn, erst mit Drohungen, dann mit Gewalt. Mamus Onkel gelangt durch illegale Einwanderung nach Norwegen. Das Unglück seines Sohnes, der durch eine Miene ein Bein verlor, führt zu ihrer Aufenthaltsbewilligung. Der Regenbogen schillert über dem norwegischen Wohlfahrtsstaat und vor eben dieser idyllischen Kulisse lässt “Günesi Gördüm” ein vor langem ausgewandertes Mitglied der Familie Altun sein  Heimweh schildern. Das neue Heimatland kann die gefühlte Heimat nicht ersetzen. Unweigerlich wird die Familie zerrissen. Mamu kehrt mit seiner kranken Frau Haydar (Deniz Ordal) in das umkämpfte Heimatdorf zurück. Den ersehnten Sohn hat er durch einen Unfall verloren, die älteste Tochter ist durch dieses Erlebnis traumatisiert.
Der andere Zweig der Altuns lebt in Norwegen als Fremde in der Fremde.

“Günesi Gördüm” bewertet, doch der Film verurteilt nicht. Idealisierung und Verteufelung wie im unrühmlichen Beispiel des türkischen Erfolgsfilms “Tal der Wölfe” vermeidet Mahsun Kirkizigül zugunsten einer ausgewogenen, authentischen Handlung. Im Zentrum seines Dramas stehen dessen Figuren und deren Konflikte. Das Dorf ist weder naturverbundenes Idyll noch rückständige Hölle, die Stadt weder Fortschrittshimmel noch Moloch. Das Land biete Gemeinschaft und Vertrautheit, verhindert in seiner strengen Traditionsverbundenheit jedoch individuelle Entfaltung. Die Freudentänze Momus und der Dorfbewohner über dessen neugeborenen Sohn hinterlassen einen bitteren Nachgeschmack. Die Geburt einer Tochter war zuvor Anlass zu Tränen. Wie viel das Dorfleben den Menschen abverlangt, vermittelt Kirmizigül in unscheinbaren Szenen. Sehnsüchtig blickt die sechsfache Mutter Haydar in einer Schaufensterauslage auf eine Waschmaschine. Die extrem frühe Heirat und alljährliche Schwangerschaft sind direkte Ursache für die Erkrankung der jungen Mutter. Besonders gesundheitsgefährdend hat sich die Geburt des ersehnten Sohnes ausgewirkt. So verliert Mamu seine Frau beinahe durch die Erfüllung seines Kinderwunsches.

Regisseur Kirmizigül beweist in “Günesi Gördüm” sein Gespür für die Komplexität des Schicksal seiner Figuren. Der Unfall, dem das Baby schließlich zum Opfer fällt, ist eine Verkettung von Zufällen. In der gelungensten Sequenz des Films folgt die Kamera dem roten Ball, den die älteren Töchter hochwerfen. An die gleißende Sonne erinnert ermeinst du den ball? Dann musst du weiterschreiben, den Mamu seinem Kind.., der Mamu sein Kind nach dessen Geburt entgegen hebt. Mit der Betreuung des Babys überfordert, sind die Mädchen spielen gegangen. Die jüngeren Töchter wollen den Bruder waschen. “Günesi Gördüm” zeigt fast nichts, kein Schockmoment, nur stummen Schrecken. Hilflos müssen der blinde Großvater und die Kinder miterleben, wie sich die Trommel mit dem Baby darin dreht.

Vor Kummer stürzt der Vater auf Arbeit bei der Todesnachricht zu Boden. Die Kiste mit Fisch fällt ihm aus den Händen, wie die sterbenden Tiere wälzt er sich zuckend am Boden. Den verzweifelten, zum Scheitern verurteilten Überlebenskampf seiner Figuren vermittelt Kirkizigül mit dieser Metapher. “Die Maschine ist Schuld.”, tröstet Mamu seine Töchter. Der Satz ist bezeichnend für den Handlungskonflikt. Dessen Ursache liegt außerhalb des Einflusses der Protagonisten: der Staatsapparat, der für die Zwangsumsiedlungen und kriegerischen Auseinandersetzungen verantwortlich ist. “Günesi Gördüm – Ich sah die Sonne” interpretiert diese militaristische Gewalt als männlich, doch nicht im positiven Sinne. Das Drama setzt ihr die fürsorgliche feminine Staatsmacht entgegen, verkörpert durch Bildungssystem, Wohlfahrt und Gesundheitswesen.

Als typisch könnte man die Familiengeschichte der Altuns bezeichnen. Die filmische Dramatik macht sie außergewöhnlich. Vor in der konservativen Türkei brisanten Themen wie Homosexualität, Prostitution und Generationskonflikt scheut sich der Film nicht. Dabei ergeht sich der Autor und Regisseur nicht in Sentimentalität, auch wenn die peinvollen Trauerszenen auf ein westliches Publikum so wirken mögen. Lautes Weinen ist Teil der türkischen Trauerriten, die hierzulande wesentlich emotionaler wirken. Während er einerseits die festigende Wirkung solcher Traditionen wie auch der Familienbindung vermittelt, wendet sich der Film gleichzeitig aufgeschlossen der Moderne zu. Zum Märtyrer wird kein Soldat, sondern der zum selbstbewussten Individualisten reifende homosexuelle Bruder. Dass der kriegsversehrte Sohn dank einer Prothese wieder laufen kann, deutet die Hoffnung eines Heilens der Wunden an, selbst wenn es nicht spurlos von statten geht. “Zuerst kommt der Mensch.”, heißt es von einem Mitglied der Altuns. Auch wenn solche Sätze floskelhaft klingen, zeugen sie von dem Umdenken der Kriegsgeneration. Die Antwort auf den gewalttätigen Konflikt ist nicht Rache, sondern Frieden. “Ich habe die Sonne gesehn” ließe sich der Titel ebenfalls übersetzen. Doch endgültig muss die darin anklingende Abwesenheit des Hoffnung spendenden Lichts nicht sein.

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Originaltitel: Günesi Gördüm

Genre: Drama

Land/Jahr: Türkei 2009

Deutscher Titel: Ich sah die Sonne

Kinostart: 16. April 2009

Regie und Drehbuch: Mahsun Kirmizigül

Darsteller: Cem Aksakal, Sarp Apak, Erol Demiröz, Altan Erkekli, Demet Evgar

Verleih: Kinostar

Laufzeit: 120 Minuten

FSK: Ab 12

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