Die bunte Ecke Schönhauser – Ein gelungener Versuch der farbigen Abbildung

© Lehmstedt

In den letzten Jahren sind dort die Foto-Bände von Roger Melis, Gerd Danigel und Bernd Heyden erschienen, behutsam lektoriert und in feine Beleuchtung gerückt. Bertram weist im Vorwort des vorliegenden Farb-Bildbandes Klöppels auf die direkten Vorgänger hin; mit „Berlin-Ecke Prenzlauer“ von Bernd Heyden und „Berlin-Ecke Greifswalder“ von Eberhard Klöppel selbst bildet dieses Buch den Abschluss einer Trilogie. Nicht ohne sich dem gleichnamigen Spielfilm „Berlin-Ecke Schönhauser“ (Wolfgang Kohlhaase 1956) verpflichtet zu fühlen.

 „Wir können auch Farbe“, möchte der Betrachter verwundert ausrufen, der sich in den vorangegangenen überwiegend schwarz/weiß Bild-Bänden des Lehmstedt-Verlages  nostalgisch zu suhlen pflegte. Und das Experiment glückt! Ebenfalls ein geistiger Sohn der Leipziger Schule, beglückte Klöppel als Fotograf der „NBI“ („Neue Berliner Illustrierte“, Magazin mit 6-stelliger Auflagenhöhe) über 15 Jahre lang die bildhungrigen Leser mit Serien aus dem wirklichen Alltag der DDR. Den unverstellten Blick hat sich der Fotograf durch Systembrüche hinweg bewahren können und zeigt jetzt ein komplexes Ab-Bild eines geliebten und metamorphosierten Stadtteils, der zu den lebendigsten der einigen Hauptstadt zählt.

Was jüngste Attacken gegen Schwaben, Mütter und Touristen implizieren, zeigt auch Klöppel – auf den ersten Seiten. Die Dramaturgie seiner Prenzlauer Berg Serie ist preiswürdig! Vom Hochbahnviadukt des U-Bahnhofes Eberswalderstraße, wo die halbe Jugend der westlichen Welt schon einmal aus- oder eingestiegen ist, geht es die Treppen derselben hinunter, an einem Cafe vorbei. Zum Fahrrad-Verleihladen, unter dem Viadukt mit der radelnden Mutti entlang, über die Kreuzung und vor Bus und Straßenbahn. Stopp, hier kommt die erste Geschichte ins Bild! Zwei kunstpelzbemützte junge Menschen streifen einander mit Blicken, sie trägt Lederjacke und einen roten Schal, er dreht sich über die Schulter zu ihr zurück – ein und aussteigen, kommen und gehen. Rufen sie sich ihre Nummern zu, wird einer von beiden hier zur gleichen Zeit am nächsten Tag auftauchen? Wir wissen es nicht.

Entlang der Schönhauser Straße, zum Kollwitzplatz und Wasserturm, durch Kulturbrauerei, Dock 11, Kneipen und Cafés, vorbei an Haltestellen, Kirchen und Imbiss-Läden führt uns der Fotograf schließlich in den Mauerpark. Immer näher an den Menschen heran, immer tiefer hinein in Tattoos und Falten, Kopfsteinpflasterstraßen, Demos und Tanzgelage.
Mehr Bild-Themen sollen nicht verraten werden.

Lobenswert an diesem vielschichtigen Bildband ist die scheinbare Leichtigkeit, mit der ein Künstler lichte Augenblicke zu formen versteht. Ihm gelingt das Kunststück, das Miteinander verschiedener Zeitläufe und Lebensentwürfe nicht als Dissens abzubilden, sondern als Facetten einer einzigen Lebensvielfalt. Der Prenzlauer Berg als Konglomerat vernarbter Fassaden und schriller Jugendwelthauptstadt, mit tanzenden Nonnen und träumenden Mädchen. Currywurst und Hundegebell, Schnorrern und Bankern, Kinderwagen und Akkordeonspielern.

Einziger Wermutstropfen – das irreführende Front- Bild des Covers, das auf Touristen zielt und jene verprellen könnte, die einmal das buntbestuhlte Cantian-Stadion ohne Menschen sehen wollten, geheimnisumwitterte Passanten des Mauerparks oder zwei deutsche Deppen beim Public Viewing in Pratergarten – letztere so beseelt, dass sie wie ein Gegenpart zum berühmten s/w Foto Harald Hauswalds wirken. Der hatte vor fünfundzwanzig Jahre zwei trübtassige FDJ- Aufpasser beim Konzert von Bruce Springsteen in Berlin Weissensee fotografiert,  und es könnten tatsächlich diese beiden Männer sein, die nunmehr bierselig, bemalt und beglückt auf eine Fußball-Übertragung schauen, irgendwo über unseren Köpfen.

Eberhard Klöppel, Berlin Ecke Schönhauser, Alltag in der Großstadt, Fotografien 2010-2012, 144 S., Lehmstedt Verlag Leipzig, Oktober 2012, 24,90 €

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