Dialektik von Klang und Farbe – Können Educationprojekte Modellcharakter haben?

© Schott

Die Formen des Programms reichen von Familienkonzerten, Schulorchestertreffen, Kompositionswettbewerben, Workshops mit kleinem Programm im Foyer der Philharmonie bis zu dem alljährlichen großen Tanzprojekt in der Arena in Berlin-Treptow. Viele hundert Kinder und Jugendliche werden einbezogen und der Zuschauerkreis reicht von ein paar Dutzend bis zu 2 000. Selbstverständlich ist im Prinzip alles nachahmenswert, was mit Kindern und Jugendlichen zur musikalischen Bildung und zu kreativer Betätigung unternommen wird, aber man muss die materiellen und finanziellen Mittel dazu haben. Das mussten die Berliner Symphoniker schmerzlich erfahren, als sie nach der Streichung der Zuschüsse des Senats ihr Programm der musikalischen Bildung und ihre Familienkonzerte einstellen mussten. Da geht vieles kaputt, was mühsam aufgebaut wurde. Nicht viel anders ist es mit der Streichung von Stellen in den Musikschulen oder mit der Beschneidung des Musikunterrichts.

Viele interessante und mitreißende Konzerte des Education-Programms sind einmalig und hinterlassen unvergessliche Eindrücke. Eine andere Möglichkeit wäre, sie daraufhin abzuklopfen, ob sie Modellcharakter haben, das heißt, ob sie von der Idee oder der Ausführung her nachgenutzt werden können. Man denke an Brecht, der von seinen oder seiner Schüler Inszenierungen Modellbücher anfertigte, um daran lernen zu können.

Etwas Modellhaftes sahen wir bei einer Aufführung der Kinder der 3. Klasse der Nelson-Mandela-Grundschule aus Berlin-Wilmersdorf, die gemeinsam mit Musikern der Berliner Philharmoniker entwickelt und gestaltet und unlängst im Foyer der Philharmonie vor dem Konzert des Orchesters gezeigt und gespielt wurde. Die Idee ist erstaunlich einfach. Gegeben wurde am Abend im Konzert »Tableau«, Stück für Orchester von Helmut Lachenmann. In Lachenmanns Vorstellung werden tonlos geblasene, gestrichene, gewischte und geschlagene Klänge und traditionelle Dur- und Mollakkorde in einer Klangpalette auf einer akustischen »Leinwand« so angeordnet, dass sie ihre traditionelle Wirkung nicht entfalten können, aber in einen fremden und neuen Akkord münden. Soweit die abstrakte Beschreibung im Programmheft. Geschulte Sinne konnten die Feinheiten wahrnehmen.

Nun ist aber ein Tableau auch etwas zum Anfassen. Eine Palette ist farbig. Haben Klänge Farben? Können umgekehrt Farben zu Klängen werden? Dialektik im Realversuch. Man muss darauf kommen, aber die Lösung ist erstaunlich einfach. Unter Anleitung des  Bratschers Matthew Hunter bildeten die Kinder kleine Gruppen von je drei Instrumenten verschiedener Herkunft, zum Teil aus den Heimatländern des multinationalen kleinen Orchesters. Jedes Grüppchen war in eine Farbe gekleidet – im ganzen acht.

Eine Combo, das Ensemble »Sakura«, bestehend aus Saxophon (Manfred Preis), Klavier (Hendrik Heilmann) und Schlagzeug (Simon Rössler) spielte »Sakura« von Helmut Lachenmann, und die Kinder trugen auf einer zehn Meter langen Leinwand, dem Tableau, spontan Farben auf, wie sie sie in der Musik wahrnahmen. Das Tableau nimmt ein wildes Durcheinander von Farben an, welche wieder in Klänge rückverwandelt werden, indem ein Kind mit einem leeren Bilderrahmen langsam die Farbpartitur abschreitet, gewissermaßen einen Code abgreift. Vor den Musikanten postieren sich »Dirigenten« mit Farbtafeln, die sie erheben, wenn ihre Farbe im wandernden Bild erscheint – gewöhnlich mehrere Farben. Die Instrumentengruppe der betreffenden Farbe spielt dann ihren Part. Wird die Farbe gezeigt, spielt die Gruppe laut, verschwindet die Farbe, wird die Musik dann leise oder verstummt. So entsteht ein Stück, das nur einmal zu hören ist, aber für Spieler und Hörer voller Überraschungen ist.

Das ist das Modell, nach dem theoretisch und praktisch mit jedem Musikstück und jeder verfügbaren Instrumentenkombination zum eigenen Spaß Klänge intoniert werden können – auf Schulfesten, in Ferienlagern, eigentlich überall, wo sich Kinder mit Instrumenten versammeln, sei es mit Klopfhölzern, Blechbüchsen, Flaschen, Trommeln, Rohren, Geigen, Flöten – was immer. Das erzeugt nicht nur Krach, sondern vielfältige Klangkombinationen, wenn die Musikanten Spaß am Ausprobieren haben. Bloßer Spaß, aber vielleicht der Anfang gemeinsamen Musizierens. Die Klänge sind nicht reproduzierbar, aber die Methode sehr wohl. Die Musik ist auch kombinierbar mit Tanz, Bewegung, Puppenspiel und anderem.

Die Berliner Philharmoniker haben von ihren schönsten Familienkonzerten das hübsche Buch »Wirbelwind und Saitentanz« von Margarete Zander und John Harrison mit einer DVD herausgegeben. Das ist amüsant und lehrhaft und regt zum Erlernen eines Instruments und zum Musizieren an. Wo aber kollektive Projekte mit Kindern entwickelt werden, wäre es wünschenswert, die Entwicklung von Nach-mach-Formen gezielt zu betreiben, denn nicht jeder hat das Geld für aufwendige Projekte.

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