Deutschland wird Jamaika – Manchmal hat man keine andere Wahl

Wahlplakate in Berlin.
Auf dem Mittelstreifen des Weltstadtboulevards Kurfürstendamm bereits vereint: CDU, Bündnis90/Die Grünen und FDP. Rechts daneben steht übrigens noch ein Plakat. Es ist von der AfD. © 2017, Foto/BU: Andreas Hagemoser

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Unabhängig von persönlichen Präferenzen ergab sich bei den vergangenen Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus realistisch betrachtet folgendes: Die CDU zu schwach zum Koalieren, die AfD verfemt und isoliert, die SPD fast keine Volkspartei mehr, zudem in Berlin, das als einziges Bundesland eine Wiedervereinigung innerhalb der Stadtgrenzen vollziehen musste. Die Umfragen bestätigten dies: Wenn die AfD nicht für Koalitionen infrage kommt, bleibt nur eine Landesregierung aus SPD, Linken und Grünen.

Genauso kam es dann auch und der Senat der Hauptstadt bildete sich aus diesen drei Parteien, ohne dass dies die Lieblingslösung der Wähler gewesen wäre.

Auch nicht die Lieblingslösung der drei Parteien. Die SPD hätte natürlich lieber allein regiert, hatte dazu aber nur in West-Berlin die Chance; Bündnis 90/Die Grünen wollten lieber rot-grün und die Linken wollten natürlich wie immer was anderes, auch wenn die Kürzel SED und PDS inzwischen aus dem Parteinamen verschwunden waren.

Dankbar konnten die Wähler dennoch sein, wenn man die ziemlich hohe 5-Prozent-Hürde als gegeben hinnimmt und die Tatsache, dass die „Alternative für Deutschland“ (AfD) eben das nicht sein darf, selbst wenn es, wertfrei betrachtet, zunächst einmal nicht mehr und nicht weniger hätte sein können. Eine Alternative. Für Deutschland, denn wir Bundesdeutschen wählen eben nicht in Italien oder Belgien.

Übrigens sind wir in der Bundesrepublik wirklich verwöhnt. Zum einen dauert die Legislaturperiode fast immer bis zu ihrem voraussichtlichen Ende von etwa vier Jahren. Die Große Koalition, die die deutsche Verfassung, das Grundgesetz, mit den Notstandsgesetzen änderte und die 68er auf die Palme brachte, ging genauso in die Geschichte ein wie ein schwächelnder Helmut Schmidt, dessen sozialliberale Koalition sich durch Spaltung der Liberalen auflöste. Da die FDP der 1970er zwar ziemlich stabile Ergebnisse erzielte, für eine Aufteilung in zwei Parteien über 5% aber einfach zu klein war und der größere Teil an der Macht bleiben wollte (und dann lieber rechts), gingen die ausgetretenen SPD-nahen Liberalen in der Folge einfach unter oder zogen sich aus der Politik zurück.

Der nächste sozialdemokratische Kanzler konnte sein Ende auch nicht abwarten. Mit der Ausrede „I did it my way“ versuchte er eine Variante des Schmidt-Kohlschen selbstherbeigeführten Misstrauensvotums und erreichte vorzeitige Neu- und Abwahlen.

Warum das von Vorteil sein soll? Italien ist bei den G7 ein ziemliches Schlusslicht. Die Lega Nord denkt, das läge am mafiaverseuchten Süditalien. Es könnte auch sein, dass die ständig wechselnden Regierungen mit häufigen Neuwahlen samt einiger Streiks dazu beitrugen.

Jedenfalls war es in Rom selten, dass ein oder zwei Parteien eine Regierung bildeten. Oft verhandelten vier oder fünf Koalitionspartner.

Auch in Belgien ist das möglich. Kein Wunder, sind doch die ehemaligen österreichischen Niederlande in sich schon gespalten und sprechen nicht eine Sprache. Das Belgische wurde noch nicht erfunden.

Insofern sind wir Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland doch gut dran.

So weit so gut.

Für Demokratie sein heißt gegen Große Koalitionen sein

Doch wer für die Demokratie ist und für das Grundgesetz, das eher zu häufig als zu selten geändert wurde, sollte von „Großen Koalitionen“ die Finger lassen. So großartig, wie der Name suggeriert, sind sie nämlich nicht. Nicht in den 1960ern, nicht 2005 und nicht 2013. Sie sind eine Notlösung. Nicht weil sie Notstandsgesetze beschließen können, die im Notfall die Verfassung aushebeln.

Sondern auch, weil sie keine nennenswerte Opposition übrig lassen. Die Koalitionspartner der CDU seit dem Machtwechsel 2005 sind auch nicht glücklich geworden. Die SPD regierte 2005-09 noch mit, doch das war’s denn auch. 2009 nach der Finanzkrise gab es keine Rückkehr zu Rot-Grün, sondern das für unmöglich gehaltene Schwarz-Gelb.

Die blaugelbe FDP, die mit vielen Methoden Aufmerksamkeit auf sich zog, bekam oft mehr Stimmen als ihr Zustand. Leihstimmen von der CDU/CSU. „18%“ hatten sich manche auf die Fahnen und Hemdkragen tätowieren lassen. Nach dem Größenwahn der tiefe Fall. „Fast drei Prozent“ = F.D.P., das war lange keine Häme, sondern Realität.

Die Bündnisgrünen zierten sich 2013, mit der CDU/CSU ein Bündnis einzugehen. Die Gründe sind (un-)bekannt, Angst war auch dabei. Sicher ist: die ungeliebte Große Koalition, orwellsch Groko genannt, wurde wieder Notnagel. Und Sargnagel der SPD.

Nie war weniger TV-Duell als diesmal, Fernsehen: ja, Duell: nein. Wenn eine Partei seit Jahrzehnten Volkspartei ist, erweckt das auch ein Vertrauen beim Wähler, dass es darum ginge, diese Richtung oder die andere zu wählen. Nur Partikularinteressenten, Freiberufler und Rechtsanwälte etwa oder ewignörgelnde Anti-Atomler, die unbedingt gesundes Gemüse essen wollen, wählen dann etwas anderes.

Jetzt, nachdem die SPD kleingekriegt worden ist, Deutschland 16 Bundesländer hat und eine Flüchtlingswelle später gibt es vier (4!) Parteien, die um die 10% erhalten könnten, die Union, die zwischen 30 und 40 Punkten schwankt in den Umfragen und die SPD, die zweistellig ist mit einer zwei „vor dem Komma“. Einige unken, dass sich die Sozis glücklich schätzen können, wenn die zwei da bleibt und keine eins wird.

Berlin hat es vorgemacht. In vielen Bezirken und auch landesweit ist der Abstand zwischen den „Volksparteien“ und den vier anderen verschwindend gering. In manchen Berliner Parlamenten, die Bezirkverordnetenversammlungen mitgezählt, kann man sich dank der Reihenfolge der Stärke der Fraktionen die Augen wischen.

Was bleibt denn dann, wenn etwa 10% ungültig wählen oder unterhalb der Hürde verpuffen?

„Der Tagesspiegel“ vom Montag der Wahlvorwoche bildete sechs Möglichkeiten in Farben ab. Da niemand mit der AfD will und die Union nicht mit den ehemaligen Sozialisten, kommt blau nicht vor und rosa nur einmal in „Rot-rot-grün“.

Ob das ein Vorbild für den Bund sein kann, ist fraglich. Doch weder die sozialistisch roten noch die Grünen/Bündnis 90 sind im Bund so stark zu erwarten wie in Berlin.

Die Wahrscheinlichkeit also gering. Dass es zu einer Großen Koalition als Plan E reichen könnte, erscheint gleichzeitig wahrscheinlich und garantiert unerwünscht. Niemand von den Beteilgten kann sich das ehrlich und guten Gewissens wünschen.

Die Regierung trägt Verantwortung auch für das System. Und die Große Koalition zersetzt das System, wenn sie zum Normalfall wird, zur Bequemlichkeit.

Nach der Weltwirtschaftskrise 1929 wurde in der Weimarer Republik mit Notverordnungen regiert. Mit etwas Mut hätte man das nach 1930 ändern können. Doch wer die Macht schon in den Zügeln hat, lässt sie ungern wieder los und geht auf Nummer sicher.

Deutschland hat in den 30er und 40er Jahren teuer für diese Bequemlichkeit bezahlt.

Heute haben wir eine wahrhafte Demokratie, und sie ist zweifelsohne spannender geworden.

Nie wussten so wenige Möchtegern-Wähler, was sie denn nun wählen sollen.

Wenn wir diese Entscheidung mal außen vor lassen und wie in Berlin jüngst nur schauen, was ginge, und ein bisschen dahinschielen, was gut sein könnte, dann landen wir bei Jamaica ohne Gelb, bei Jamaika ohne Grün oder bei Voll-Jamaika.

Wäre das wirklich so schlimm?

Oder wäre es nicht sogar gut – für dieses Land?

Für Angela Merkel, die Alternativlose, gibt es als Kanzlerin keine Alternative. Dafür braucht man kein Hellseher zu sein.

Doch allein wird sie es mit Seehofer nicht schaffen.

Schwarzgelb? Diese Kombination, die auch Wespen und Hornissen wählen, sticht nicht nur durch die Farbgebung, sondern auch sonst unangenehm hervor. Das Land hatte dadurch Nachteile, die FDP hatte Nachteile und – es wäre nichts neues!

Also Schwarzgrün? Da ist Musik drin, Schäuble wollte die Kombi in Baden-Württemberg schon 1984, doch Teufel scherte sich einen Teufel drum.

Schäuble wollte schwarz-grün auch 2013 und Seehofer hätte mitgemacht.

Wie gesagt – alles ist besser als eine neue große Koalition. Alles guten Dinge sind drei. Es reicht mit drei Grokos. Sonst schnappt das Krokodil zu.

Aber alle guten Koalitionspartner sind wohl auch drei, wenn wir die einige Union als einen Partner zählen.

Was hätte die Union davon? Sie wäre im Verhältnis viel stärker als gegenüber der SPD und könnte das auch einfordern.

Was hätten die Grünen davon, außer Regierungsbeteiligung und grünen Themen, die umgesetzt würden?

Nach Baden-Württemberg, das nun schon mehrfach grün-schwarz regiert wird, könnte man erstmalig auf Bundesebene zeigen, dass es geht. Wenn schon nicht schwarzgrün, dann wenigstens mit den Freien Demokraten.

Falls was schiefginge, könnte man das nicht nur auf die Union, sondern auch noch auf die Liberalen schieben. Und 9% für die Grünen und 36 für die Union reichen eben nicht im Bundestag.

Zudem handelt es sich bei Christdemokraten wie Grünen um Konservative. Die CDU/CSU will Werte bewahren, die Grünen die Umwelt, die Tierwelt – den Planeten.

Konservativ sind sie also beide.

Wenn man den Planeten nicht bewahren kann, dann bleiben auch keine Werte, die man bewahren könnte.

Und die FDP? Wünscht sich wie immer mehr, punktet in Berlin damit, dass sie Tegel retten will, grundsätzlich eine gute, volksnahe Idee, die nur wahrscheinlich ein bisschen spät kommt.

Da viele an Schwarzgelb nach 2000 keine gute Erinnerung haben, könnten die Liberalen, wenn es nicht so läuft, erzählen, ihr Scheitern habe an den anderen gelegen.

Eine Win-win-win-Situation

Wie heißt eigentlich das Wort Win-win-Situation, wenn nicht beide gewinnen, sondern gleich alle drei oder sogar vier alle?

SPD und AfD könnten in der Opposition zur Besinnung kommen und zeigen, dass es in der Bundesrepublik Pluralismus gibt.

Das Volk, immerhin der Souverän, der dieses Land regiert und sich lediglich im Parlament vertreten lässt, könnte neue Hoffnung schöpfen.

Sozialliberal, schwarzgelb, rot-grün, Große Koalition – alles hinlänglich bekannt und jahrzehntelang ausprobiert.

Sehnsucht nach der Karibikinsel

Die Lösung für die Aufgaben der Zukunft, die gewiss nicht geringer werden, kann nur eine Kombination aus Bewährtem und Neuem sein. Viel spricht für Schwarzgrün und Jamaika und beides hat man auf Bundesebene noch nicht ausprobiert.

Die jamaikanische Flagge hat zwei schwarze Dreiecke, zwei grüne Dreiecke und ein gelbes – oder goldenes! – Andreaskreuz.

Und so sind die drei Farben der deutschen Flagge (schwarz-rot-gold) für Rotgrünblinde ( von denen es unter den Männern erstaunlich viele gibt) von den drei Farben der jamaikanischen überhaupt nicht zu unterscheiden.

Ein bisschen Sonne, ein bisschen Reggae …

Ein bisschen Jamaica täte der Bundesrepublik Deutschland gut. Ein bisschen Reggae, ein bisschen Dschungel – die Haartracht ist bereits allerorten angekommen.

Ein bisschen mehr Sonne, ein bisschen mehr Lächeln. Deutschland ist auch eine Insel, die der Seligen und des seligen Arbeitsmarktes – und was könnte Deutschland verlieren?

Die weltbesten Bobfahrer?

Es sage niemand, Jamaica hätte keine Bobmannschaft, und es ist wahrscheinlich die populärste der Welt. 1988 nahmen die Viererbob-Sportler von der Karibikinsel an den Olympischen Spielen in Calgary in Kanada teil.

1993 machte ein Walt-Disney-Film diese Jungs um Derice Bannock endgültig weltberühmt („Cool Runnings – Dabei sein ist alles“).

Für Olympia in Pyeongchang 2018 soll das Team noch Spenden sammeln …

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