Der Vergessenheit entrissen – Ein betörendes Farbenspektakel von Harald Hauswald

© Lehmstedt

Lautet die erste Strophe eines Gedichtes von Wolfgang Hilbig. An den Titel dieses Gedichtes fühlt sich der Betrachter erinnert, wenn er den Bildband „Ferner Osten, die letzten Jahre der DDR“ in die Hand nimmt. Unter „fragwürdige rückkehr“ beschrieb Hilbig das Wiederbetreten einer verlassenen Fabrik irgendwo bei Leipzig, und fragwürdig könnte sich das Wiederbeleben komplexer visueller Erinnerungen an die letzten Jahre der DDR gestalten. Farbe birgt Gefälligkeit. Nicht bei Harald Hauswald. Fernab jeder Ostalgie gilt er als wichtiger Chronist ostdeutschen Alltags. Ein ruheloser wie furchtfreier Indianer, der überall dabei war, sich anschlich und abdrückte. In der Subkultur war er zu Hause, seine Ausflüge galten Massenaufläufen, Pressefesten und FDJ-Treffen. Dem legendären Havelberger Pferdemarkt oder dem Lausitzer Osterreiten. Hauswald ist bekannt für seine schwarz/weiß Aufnahmen, dass er seit 1985 zweigleisig auch in Farbe fotografierte, ist eine glückliche Überraschung!

Beim Durchblättern des großformatigen Kataloges fallen wunderbaren Straßenszenen auf, zur Ewigkeit geronnene Momentaufnahmen der Stadtbewohner. Eindringlich vor allem die Alten, die gruppenweise das Stadtbild bevölkern. Zum Beispiel auf Seite 41. „Eisern Union“ ist in dünner schwarzer Schrift auf zwei grauen Verteilerkasten zu lesen, davor stehen zwei Holzbänke. Zwischen ihnen ist vielleicht ein Meter Platz, beide Bänke sind dicht besetzt. Jeweils vier Ältere sitzen auf einer Bank, links außen und rechts außen zwei Männer, zur Mitte hin je zwei Frauen. Eine zufällige Symmetrie. Zwei Frauen und ein Mann schauen auf den Boden, zwei Frauen und ein Mann in die Kamera. Der Mann rechts außen blickt seitlich weg, der links außen blinzelt oder hat die Augen geschlossen. Die alten Leute wirken erschöpft, wie hingegossen auf die Bänke, nur ein Mann und eine Frau haben die Beine überschlagen. Sitzen entspannt. Die Männer tragen Anzüge, grau bis schwarz. Die Frauen Kittelschürze oder Mantel, eine ein hellgestreiftes Sakko. Drei Frauen halten  Handtaschen in den Händen bzw. auf dem Schoß, die legere im Sakko hat einen blauen Beutel neben sich stehen. Nur eine Frau benötigt einen Stock, den sie nicht weggestellt hat. Drei paar weißer Damenschuhe, ein paar hellgraue Herrenschuhe, die anderen braun. Ein rotes Herrenhemd, ein hellblaues. Im Hintergrund auf der anderen Straßenseite sind ganz klein Menschen in Bewegung zu erkennen, rote Tupfer, weiß, hellblau. Die Haare der aufgeweckten älteren Dame mit überschlagenen Beinen, die übrigens einen gelb-braunen Marmorkuchen auf dem linken Handteller hält, sind rötlich gefärbt. Mit einem Stich ins orangefarbene. Wie der Ton ihrer Strickweste, die sie unter dem Sakko trägt. Das Bild enthält eine Vielfalt, die erst durch ihre Farbigkeit ins poetische driftet. Acht Geschichten, acht Möglichkeiten, einen wolkenverhangenen Tag im Prenzlauer Berg der achtziger Jahre fortzuleben.

Die Alten kehren wieder. Beim Hoffest im Hirschhof der Oderberger Straße taucht die Dame mit Stock und Brille auf, statt Kittelschürze trägt sie zur Feier ein grün-geblümtes Kleid unter blauem Sommermantel, den Stock hat sie ihren Stuhl gelehnt. Einige Seiten weiter glaubt der Betrachter, in einer langen Schlange vor der Fleischerei Duft in der Oderberger Straße einen der alten Männer zu erkennen, und hier, bei der Tanzveranstaltung im Pratergarten, da drehen doch zwei der Damen miteinander einen Walzer, während neben ihnen junge Frauen die Arme schwingen. Es ist passiert. Die Farbwelt des Harald Hauswalds infiziert, polarisiert. Verzaubert. Man liebt sie oder lässt sie nicht geschehen.

Nicht alles ist unwiederbringlich vorbei. Auch diesen Sommer werden sonnengegerbte Fischer in den Häfen Hiddensees auf das Stadtvolk schauen, etwas skeptisch, etwas spöttisch. Liegen Boote im Dunst manch eines wolkenverhangenen Sonnenuntergangs. Der Pferdemarkt in Havelberg lockt weiterhin an jedem ersten Septemberwochenende tausende Besucher an, die handeln, lachen und trinken. Leider ist das grau/braun/ockerfarbene Fachwerk-Viertel in Halberstadt verloren, Berlins Altbauten sind keine abblätternden Ruinen mehr. Die 1. Mai-Demo und die Pfingsttreffen der FDJ finden nicht mehr statt. Zum Glück.

170 Seiten Farbfotografie. Eine Auswahl aus 4000 Aufnahmen, die sich, selbst für den gelernten Fotografen überraschend, nach 25 Jahren in seinem Archiv fanden. Möglich wurden sie durch das Hamburger Magazin GEO, das ihn ab 1985 ausreichend mit Farbfilmen von Kodak versorgte und deren Entwicklung im Westen organisierte (in der DDR gab es nur ein einziges, überwachtes Farb-Entwicklungslabor). Mathias Bertram, der die hervorragende Fotografie-Reihe „Bilder und Zeiten“ im Leipziger Lehmstedt Verlag verantwortet, beschreibt in der Nachbemerkung des Herausgebers die Auffindung der vorliegenden Bilder und deren Entstehungsgeschichte. Viele der Serien wurden nie veröffentlicht. Er sei selbst überrascht gewesen von manchen Aufnahmen, erzählte der 1954 in Radebeul Geborene kürzlich dem MDR und man glaubt es sofort. Harald Hauswald ist dafür bekannt, die unüberschaubare Zahl seiner noch unentwickelten Filmrollen, Archivkisten und Kasten selbst wie ein Mysterium zu betrachten. So bleibt zu hoffen, dass noch einiges dem Vergessen entrissen werden kann. Wir sind gespannt!

Harald Hauswald, Ferner Osten, Die letzten Jahre der DDR, Fotografien 1986-1990, hrsg. von Mathias Bertram, 175. Seiten, Lehmstedt Verlag, Februar 2013, 29,90 €

Buchvorstellung: 23. April, 20 Uhr, DOK 11, Kastanienallee 79, II Hof

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