Der Staatsstreich im Iran drei Monate später

Was auch immer im Verlauf der nächsten Wochen und Monate geschehen mag – das islamische Regime hat seine Festung verlassen, hat den Graben überquert und hat die Zugbrücke hinter sich unwiederbringlich zerstört. Es gibt keinen Weg zurück.

In diesem Artikel werde ich die Gründe für diese Einschätzung darlegen und im Weiteren die Errungenschaften, Schwächen und einige Lektionen für die progressiven Kräfte, die gegen das Regime im Iran kämpfen, beschreiben. Hoffentlich kann es da auch einige Lektionen für die Linke im Ausland geben, die bezüglich der Frage, wie die ihr aus dem Iran zugesandten Bilder zu interpretieren sind, durcheinander zu sein scheint. Für das Verfassen dieses Artikels bin ich Ardeshir Mehrdad, Mitglied von `Rahe Kargar’(ORWI) und Redaktionsmitglied der Zeitschrift “Middle East Left Forum (formerly Iran Bulletin)” zu Dank verpflichtet. Eventuelle Fehler faktischer Art oder der Interpretation oder Analyse sind hingegen einzig und alleine meine.

Der Staatsstreich

Das iranische Volk wachte am 13. Juni auf und sah sich mit einem Regime konfrontiert, dass fundamental verschieden war von dem mit dem es zu Bett gegangen war. Die Nacht zuvor, eine Stunde bevor die Wahllokale schlossen, erschien die Meldung über Ahmadinejads Sieg mit rund 63% der Stimmen auf der offiziellen Pars-Website. Eine meiner Freundinnen sah das und rief in ihrer Überraschung Freunde und ihren Bruder im Ausland an. Als diese sich dann in die Seite eingeloggt hatten, war die Meldung wieder gelöscht worden, um erneut zwei Stunden nach Schließung der Wahllokale aufzutauchen. Die Zahl sollte während der gesamten zwei nächsten Tage, als ein Ergebnis der Ausszählung nach dem anderen hereinkam, mehr oder weniger die gleiche bleiben. Das war ein einzigartiges Beispiel einer Stimmauszählung nach rückwärts. Jeder, der nicht nur an der Tatsache zweifelt, dass ein Betrug stattgefunden hat, sondern dass dieser auch von groteskem Ausmaß war, muss an Ahmadinejads Heiligenschein (1) glauben und an seine Behauptung, in Kontakt mit dem “entrückten” 12. Imam zu stehen. Der Betrug war ganz eindeutig Teil eines Plans, der schon Wochen zuvor von den `sepah pasdaran’ (Revolutionsgarden) festgelegt worden war. Mit einem Steich hatten sie weite Teile des klerikalen Establishments entmachtet.

Die Verfassung der Islamischen Republik ist ein merkwürdiges Amalgam einen von oben nach unten aufgebauten “Kalifats” , an dessen Spitze der vali-e faqih mit absoluter und nichthinterfragter Macht über die gesamte zivile und politische Gesellschaft steht (2). Der andere Arm ist eine von unten nach oben aufgebaute “Republik”, in der ein exekutiver Präsident und eine Parlament – der Majlis – direkt gewählt werden. Das stellt die Zwillingsstruktur der Islamischen Republik dar. Die “Republik” jedoch ist auf jeder Ebene dem “Kalifat” untergeordnet. Nicht nur sind Repräsentanten des Führers in jedes Staatsorgan implantiert, sondern er selbst ist auch Oberhaupt der Justiz und des militärischen- und Sicherheitsapparats. Er wählt den Wächterrat aus, der gegen alle Kandidaten und vom Majlis verabschiedeten Gesetze sein Veto einlegen und sie ohne Umstände ablehnen kann. Dennoch sind die Wahlen nicht einfach nur ein Betrug. Sie haben es den verschiedenen Fraktionen des Regimes erlaubt, den Wahlprozess zu nutzen, um einflussreiche Positionen innerhalb der Machtstruktur zu erringen. Darüberhinaus hat der Präsident (und sein Kabinett) exekutive Macht, und die Führung hängt von dieser ab, um die täglichen Aufgaben im Land zu erledigen.

Die jüngsten “Wahlen” waren das letzte Kapitel in einem von den Pasdaran (die Revolutionsgarden) und der Osulgran(Prinzipalisten)-Fraktion ausgedachten politischen Projekt, dessen fundamentales Ziel darin bestand, das Land ein für allemal von dem Fraktionalismus zu befreien, der die herrschende Elite von Anfang an erstickt hatte (3). Nachdem sie zuvor die Stadträte und dann den Majis erobert hatten, war es nun wichtig sicherzustellen, dass das Präsidentenamt in den Händen der Osulgran verbleibt. Das sollte das letzte Kapitel des Projekts, sich des Fraktionalismus des Regimes zu entledigen und Yekparchegi (ungefähr mit `Uniformität’ übersetzbar) zu sichern, sein, ein seit den ersten Tagen des Regimes stets bestehendes Ziel. Schluss mit der Fähigkeit der verschiedenen Fraktionen, den Wahlprozess für Manöver um Macht und Einfluss zu nutzen. Schluss mit der zweiten Hälfte der “Islamischen Republik”, der “Republik” nämlich. Die Revolutionsgarden und eine Handvoll Mullahs, die mehr oder weniger dem Obersten Führer, Khamenei, verbunden waren, hatten den Boden für das unbehinderte “Kalifat” bereitet – oder?

Der Protest

Das Ausmaß des Betrugs war derart, dass das Volk explodierte. Die Straßen Teherans wurden von Menschen überflutet, die über die Unverfrorenheit der Ergebnisse überrascht waren. Jeder hatte ein gewisses Maß an Betrug erwartet, aber nicht eine so offenkundige Fälschung. Ahmadinejad glaubte ganz eindeutig an das Göbbels-Diktum, dass, wenn die Lüge nur groß genug ist, das Volk sie auch glauben wird – wie könnte jemand so unverschämt lügen, wenn es nicht wahr ist? Aber die Leute hatten die Höhe der Wahlbeteiligung gesehen und das Vorwahl-Fieber wahrgenommen. In den letzten 30 Jahren hatte dieses Maß an Wahlbeteiligung stets bedeutet, dass der Anteil der Proteststimmen höher sein würde. Die Pasdaran waren wirklich geschockt, und ich denke, dass die Revolutionsgarden überrascht waren. Sie hatten sich schon vorbereitet, indem sie den SMS-Dienst auf Handys gestoppt, andere Sicherheitsvorkehrungen getroffen und für eventuelle Proteste mobilisiert hatten. Aber diese Menge von Menschen in den Straßen Teherans hatten sie nicht vorhergesehen. Deshalb hielte sie sich zurück als die Proteste bis auf nahezu drei Millionen Menschen am dritten Tag esklalierten. Dann, als die Proteste schrittweise ihren natürlichen Schwung verloren, griffen sie ein und gingen scharf gegen die Protestierenden vor, bis nur noch Demonstrationen von höchstens einigen Hunderten möglich waren. Man muss betonen, dass in den ersten Tagen der gesamte Sicherheitsapparat des Regimes mobilissiert war. Sie hatten alle Stöpsel gezogen. Wenn sie diesen Tag verloren hätten, dann ist es schwer, sich vorzustellen, was als nächstes geschehen wäre. Sie nahmen nicht das Risiko der Konfrontation auf sich, sondern spielten auf Zeit in der Hoffnung – einer korrekten, wie sich zeigen sollte -, dass Straßenproteste langsam von selbst ermüden.

Die Errungenschaften

Der Tag als drei Millionen Paar Füße über die Straßen Teherans trampelten, war der Tag, an dem die reformistischen Führer die Demonstranten instruierten, schweigend zu marschieren. Sie taten das, nachdem in den Tagen zuvor Parolen wie “Tod dem Diktator” und “Tod dem Khamenei” zu hören gewesen waren. Es konnte kein besseres Beispiel für die Begrenztheit der reformistischen Bewegung geben. Feststeckend zwischen dem Wunsch, im Rahmen der Verfassung der Islamischen Republik zu bleiben, und dem offensichtlichen Druck von unten, darüber hinaus zu gehen, mussten sie absurde Verrenkungen machen wie das Statement, dass “friedliche” Demonstrationen verfassungsgemäß seien. Sie wissen ganz genau, dass in der selben Verfassung steht, dass es der Wächterrat ist, der darüber bestimmt, was “legal” ist. Und als Khamenei, der Oberste Führer, dem Volk sagte, es solle aufhören, sich über ein paar Millionen Stimmen aufzuregen (4) und nach Hause gehen, hatten die Reformisten die schwere Wahl, den Mund zu halten oder sich der realen Opposition gegen das Regime anzuschließen. Die endgültige Todesagonie der Reformisten ist einer der Hauptgewinne der Bewegungen nach den Wahlen.

Ebenso wichtig war die Entwicklung der Parolen, die die reformistische Führung zunehmend marginalisierte und die letztlich drohte, sie zu überholen und überhaupt zu negieren. Es fing an mit “Was ist mit meiner Stimme geschehen?” und ging über “Tod dem Diktator”, “Tod dem Ahmadinejad”, “Tod dem Khamenei” schließlich bis hin zu “esteqlal, azadi, jomhuri irani” (“Unabhängigkeit, Freiheit, iranische Republik”) Das haben sie in den Straßen gerufen, und als das nicht mehr möglich war nachts von den Dächern der Häuser. Alle wichtigen roten Linien wurden überschritten. Der fast heilige “Führer” wurde nicht nur Ziel von Witzen, sondern die Leute verlangten sogar seinen Tod. Das war seit 30 Jahren nicht vorgekommen, und wäre für die Mehrheit der Iraner noch vor wenigen Monsaten unvorstellbar gewesen. Tabu auf Tabu wurde gebrochen.

Die Bedeutung des letztgenannten Slogans darf nicht unterschätzt werden. “Unabhängigkeit, Freiheit, Islamische Republik” war die zentrale Parole der Revolution von 1979, wobei die ersten beiden Begriffe den Inhalt und der letzte das Werkzeug beschrieben, mit dem diese vermeintlich zu realisieren wären. Das war eine demokratische, antiimperialistische Revolution, die die Illusion hatte, dass diese Ziele durch ein islamisches Regime zu erreichen seien. Indem die Islamische Republik ausrangiert wurde, die ersten beiden Bestandteile aber beibehalten wurden, stellten die Menschen, die diese Parolen riefen, einen klare Verbindung mit der Revolution von 1979 her, erklärten sie als unbeendet, bekräftigten ihre demokratischen und antiimperialistischen Ziele und verlangten nach dem neuen Werkzeug, um diese zu realisieren. Während der Slogan erst noch in den Kinderschuhen steckt, zeigen sich in ihm doch die Keime einer wahren Erhebung gegen die Islamische Republik, die gleichermaßen demokratisch wie unabhängig von ausländischen Einfluss ist. Keine Rede hier von einer “bunten Revolution”!

Die dritte Errungenschaft war die Herstellung von Verbindungen und das rudimentäre Skelett unabhängiger Organisationen. Die Teilnahme der Jugend, und insbesondere der Studenten, an den Aktivitäten in den Wahl-Hauptquartieren der reformistischen Kandidaten machte es möglich, neue Bekanntschaften zu schließen, Freundschaften und politische Beziehungen zu knüpfen, die im Zuge der nachfolgenden Straßendemonstrationen weiter gefestigt wurden. Es muss betont werden, dass in einer Reihe von Fällen die Führung dieser Straßen- und Nachbarschaftsaktionen von Linken übernommen wurde.

Viertens: wenn sogar Teile der herrschenden Elite gezwungen sind zuzugeben und sogar dagegen zu protestieren, dass Prügel, Folter und gar Vergewaltigung vorgefallen sind, dann weiß man, dass alle Vorhänge in Fetzen sind. Sie haben sogar den Sohn eines Mitglieds der Osulgaran, der Sieger der Wahlen, gefoltert. Folter ist natürlich für das Regime nichts Neues und ist von Menschenrechtsorganisationen ausführlich dokumentiert worden. Diejenigen reformistischen Führer, die heute dagegen protestieren, wissen das sehr gut – einige hatte sogar an Verhören teilgenommen und in der Regierung gedient als Folter und Hinrichtung in industriellem Ausmaß praktiziert wurden. Das Gleiche gilt auch für Vergewaltigung, die in einem bestimmten Stadium systematisch gegen weibliche politische Gefangene vollzogen wurde, um sicherzustellen, dass sie nicht in den “Himmel” kämen (5). Trauernden Familien wurde 1981-83 nicht nur die Kugel überreicht, die ihre Lieben getötet hatten (die Kosten mussten sie dann tragen), sondern auch ein “Ehe”-Ring durch den Pasdar, der sie vergewaltigt hatte. Das war das makabre Ritual einiger dieser Vergewaltigungen, die in den Gefängnissen des Regimes stattfanden. Andere Gefangene wurden einfach so vergewaltigt. Diesemal wurde Vergewaltigung sowohl von Männern als auch von Frauen als Terror-Waffe benutzt. Das zuzugeben, bedeutet, eine weitere rote Linie zu überschreiten. Die ethischen Ansprüche der ersten “Herrschaft Allahs auf Erden” (6) in der modernen Zeit liegen in Scherben.

Fünftens ist die Tatsache, dass die Protestbewegungen im allgemeinen unter dem “grünen” Schirm gehalten wurden, ein Zeichen für die Reife des iranischen Volks. Es gibt nicht eine grüne Bewegung, sondern verschiedene, oder, wie jemand sagte, viele Farben werden unter dem grünen Banner versammelt. An dem einen Extrem finden wir die Anhänger der besiegten Kandidaten, Musavi und Karrubi. Am anderen radikale Teile, die klar das islamische Regime stürzen wollen. Und dann gibt es die Linke. Dazwischen haben wir verschiedene Schattierungen von Gruppierungen, die überwiegend überhaupt nicht klar definiert sind. Wichtiger noch ist, dass sie sich in einem Zustand des Fließens befinden. Das ist eine Bewegung, die sich in einer Entwicklung befindet. Die meisten Tendenzen in ihr sind gallertartig und nicht deutlich von anderenTendenzen abgegrenzt. Die amorphe Masse von Protestierenden ist untereinander durch das verbunden, was sie nicht wollen. Was sie wollen, befindet sich im Prozess der Entwicklung und entwickelt sich in unterschiedlichem Tempo und manchmal widersprüchlich. Deshalb können zu jedem gegebenen Augenblick von den selben Individuen unvereinbare Positionen und Ansuichten vertreten werden. Manchmal versehen die reformistischen Führer die radikalen Elemente mit einem Schirm relativer Sicherheit. Dass das physische Durchgreifen, so hart es gewesen ist, weniger hart war als damals als das Regime seine Feinde, die sich eindeutig außerhalb seines eigenen Kreises befanden – die Linke und die Mojahedin – , liquidiert hat, ist offensichtlich.

Schließlich auch hat die Fähigkeit der Protestierenden, alle modernen Kommunikationsmittel – SMS, Facebook, Twitter, YouTube – einzusetzen, jede Bewegung, jeden Protest, jede Schlacht, jedes Niederknüppeln und die meisten Schusswaffeneinsätze weltweit verbreitet. Blogs und Internet-Seiten haben die Welt auf Minutenbasis auf dem neuesten Stand gehalten. Eine sich mit dem Internet auskennende Jugend hatte alle Bemühungen, den Informationsfluss zu blockkieren, ins Leere laufen lassen. Zahllose Server im Ausland wurden genutzt, um die Blockaden des Regimes zu umgehen. Die iranische Protestbewegung wurde wahrhaftig international. Die ganze Welt sah die letzten Augenblicke von Neda Aqa-Soltanis Sterben. Ihre kindlichen unschuldigen Augen, als sie vom Tode gezeichnet schauten, blickten uns alle an und prägten sich unauslöschlich im globalen Gedächtnis ein. Die brutale Auslöschung von Nedas jungem Leben, ein Leben mit soviel Hoffnung, so unschuldig, so mutig, war auch die Sterbeglocke für das Regime, das den Abzug betätigte.

Die Kosten

Die Errungenschaften wurden mit Blut bezahlt. Mehr als Hundert Menschen wurden getötet, Tausende geschlagen, gefoltert und vergewaltigt. Viele wurden gebrochen und gezwungen, im Fernsehen, absurde Geständnisse von Beziehungen zu ausländischen Botschaften und Agenten abzulegen. Massenprozesse. Weitere Geständnisse – einige wie das von Said Hajjarian, ein früherer Verhörbeamter und ein Theoretiker des reformistischen Bewegung, die ans Komische grenzten, als er ausländiche an den Universitäten benutzte Lehrbücher für die Korruption der Jugend verantwortlich machte. Und jetzt das erste Todesurteil (7). Das war der Preis, der gezahlt wurde und gezahlt wird, wo Tausende weiter im Gefängnis sitzen und es täglich neue Festnahmen gibt. Der Preis ist hoch. Aber ohne die Brutalität kleinreden zu wollen, ist er doch viel geringer als das , was wir 1979 beim Angriff auf Kurdistan, bei der blutigen Niederschlasgung der Linken und der Mojahedin 1981-83 und beim Masaker an Tausenden von politischen Gefangenen zum Ende des Iran-Irak-Krieges 1988 erlebt haben.

Vielleicht sollten wir unter die Unkosten auch die von der Opposition begangenen taktischen Fehler aufführen. Die reformistische Führung ist von den Ereignissen bei jeder Wendung überholt worden. Musavi hat in den ersten Tagen selbst zugegeben, dass er dahin folgte, wo das Volk hinführte. Da, wo die Reformisten Führung gaben, waren das oft Fehler, da die Reformisten durch ihre widersprüchliche Position gehandikapt waren, einerseits Insider des islamische Regimes zu sein und andererseits an der Spitze einer eine Oppositionsbewegung zu stehen, die keine andere Wahl hat, als über das Regime hinauszugehen, wenn sie ihre Ziele erreichen will. Die Millionen (8) an dem einen Tag, an dem der Vorteil ihrer überwältgenden Zahl den Revolutionsgarden (zuminderst in Teheran, wo das Regime alle ihm zur Verfügung stehenden Kräfte mobilisiert hatte) einen ernsten, wenn nicht gar potentiell tödlichen Schlag hätte versetzen können, zum Schweigen zu verurteilen, war ein gewaltiger taktischer Fehler. Und das war es auch, sie Tag auf Tag in abnehmender Zahl gegen einen zunehmend selbstbewussten und brutalen Sicherheitspparat auf die Straße zu schicken. Sie aufzurufen, sich an den absurdesten Plätzen zu versammeln, so vor dem Parlament, wo sie ganz deutlich die Schwankenden unter den Majlis-Abgeordneten beeindrucken sollten; alles, was das bewirkte, war ein paar Tausend Menschen auf einem Platz festzunageln, von dem es keine wirklichen Fluchtwege gibt, und sie gegen rabiate Revolutionsgardisten und Bassij (“Mobilisierung” – eine eine Million Mann starke Miliz) und ihre Schläger in Zivil zu stellen. Die Straßen waren während der Revolution von 1979 genau deshalb eine Kampfarena, weil die Menge dort immer größer wurde. Wenn es offensichtlich wurde, dass die Zahl derer, die bereit waren, ihr Leben zu riskieren und mit fast absoluter Sicherheit, verprügelt zu werden, kleiner wurde, wäre ein Wechsel der Taktik für jede Führung mit Vorstellungskraft geboten gewesen.

Das Bestehen auf Parolen, die nur das Thema der Wahlen ansprachen, ist ein weiterer Fehler, der von den Reformisten gemacht wurde und der ebenfalls aus ihrem realen Dilemma hervorgegangen ist. Das schwächte die Fähigkeit der Wahlproteste, sich mit anderen sozialen Bewegungen – z.B. der Frauenbewegung oder den nationalen Bewegungen – zu verbinden. Es hätte Sinn gemacht, sich Parolen zu eigen zu machen, die die verschiedenen anderen demokratischen Forderungen der Völker und Nationen Irans verteidigt hätten. Das ist eine einzigartige Gelegenheit, die verschiedenen sozialen Bewegungen in einer größeren Masse zu vereinigen, und auch um die Bevölkerung Süd-Teherans, der Barackensiedlungen und der ärmeren Gebiete der verschiedenen Städte einzubeziehen in etwas, was vorherrschend, wenngleich nicht ausschließlich, eine jugendliche Protestbewegung in den nördlichen Vororten war.

Am kritischsten ist das Versäumnis, sich mit der schnell eskalierenden Arbeiterbewegung zu vereinigen. In der gleichen Zeit befanden sich Arbeiter überall im Land in zahlreichen Streiks, machten Sit-Ins, nahmen Geiseln, führten Besetzungen durch, Straßenblockaden und Demonstrationen. Die Wirtschaft des Landes befindet sich in freiem Fall, und die Inflation nimmt rasant zu.

Weite Teile der iranischen Industrie befinden sich am Rande des Bankrotts. Hunderttausende Arbeiter werden entlassen oder sehen ihre Jobs unmittelbar bedroht. Die Präkarisierung der Arbeit, die Entlassung von Arbeitern mit ordentlichen Ganztagsstellen und ihre Ersetzung durch Zeitkontraktarbeiter – die sogenannten Leiharbeiter(9) – hat das Leben der arbeitenden Menschen im Iran unmöglich gemacht. Die Inflation hat bereits arme Arbeiter ins Elend gestürzt. Hier befindet sich ein Minenfeld aktuellen und potentiellen menschlichen Materials für Selbstorganisation und Protest.

Schließlich und endlich bleibt der Protest vorwiegend auf die Hauptstadt Teheran begrenzt. Es hat zwar ähnliche Proteste in Isfahan, Shiraz, Mashad, in Kurdistan und anderen Gebieten gegeben, aber sie waren dort weniger groß.

Die Lehren

Was wir vor uns haben, ist weniger eine Bewegung als vielmehr deren Keime. Was fehlt, ist eine entschlossene Organisation. Und was auch fehlt, ist eine vereinigte Linke mit einer klaren Vorstellung über ihre Ziele, einer klaren Strategie und einem Verständnis der notwendigen taktischen Schritte, um eine amorphe und vielgesichtige Massenbewegung in eine Bewegung mit klaren politischen Zielen und klarer Richtung zu verwandeln. Das ist ein Moment, der nur einmal in einer Generation kommen mag. Wie der Barde sagte: “In den Angelegenheiten der Menschen gibt es Gezeiten, und wenn man die Flut nutzt, führen sie einen in die Zukunft. Es ist Flut, und die Chance könnte in vorhersehbarer Zukunft nicht erneut kommen.”

Leider haben die meisten der Kräfte, die sich entweder als links verkleiden oder wirkliche Linke im Iran (und in der Tat auch außerhalb) sind, eine ziemlich binäre Vorstellung von Politik. Bewegungen müssen entweder voll und ganz unterstützt, oder ebenso abgelehnt werden. Bei genauerer Betrachtung jedoch kann die gegenwärtige Protestbewegung im Iran als ein Kontinuum vieler, sich überlappender Kreise ohne feste, sondern mit stets fließenden und sich verändernden Grenzen gesehen werden. Die Konturen dieser vielfältigen “grünen” Bewegungen sind vage und werden permanent aufgelöst und in neuer Form wiederhergestellt. Diese binäre Sicht auf das Leben und die Politik wird am besten durch die Haltung der Linken gegenüber den Reformisten demonstriert. Entweder werden sie einfach abgelehnt und wird die Tatsache ignoriert, dass die Reformisten, wenn man klug vorgeht, dabei helfen können, den Raum für den Kampf der Arbeiterklasse und den Kampf für demokratische Rechte zu öffnen. Oder sie laufen den Reformisten hinterher und verbreiten lediglich die Parolen, von denen sie denken, diese seien für die Genannten akzeptabel.

Die eine Ansicht hat in Wirklichkeit keine Taktik, um zu ihrer Strategie – sei es eine demokratische Republik oder der Sozialismus – zu gelangen. Die Strategie und das Ziel werden zu Parolen, einem Glaubensartikel wie eine Religion, die wie ein Mantra wiederholt werden. Aber es bleibt eine ferne Utopie, denn die Gruppen haben keine Politik, um von A nach Z zu kommen.

Die andere Ansicht wirft im Wesentlichen ihre Strategie (falls sie eine hat) über Bord und ersetzt sie völlig durch Taktiken. Die Taktik der Einheitsfront wird die Strategie, das Ziel. Diese Gruppen werden zu Anhängseln der Reformisten, sie folgen ihnen einfach und ihre Paroile lautet “hameh ba ham” (jeder mit jedem/alle zusammen). Schlimmer noch agieren sie als die Polizei der Reformisten und fürchten sich vor jeder Parole, die die Balance stören könnte, was in der Praxis bedeutet, nur die von der reformistischen Führung ausgegebenen Parolen zuzulassen.

Keine der beiden Gruppen kann je hoffen, die gegenwärtige Protestbewegung aus ihrer aktuellen Sackgasse herauszuführen. Was gebraucht wird, ist eine Vision, eine Führung, die eine Vielzahl von Taktiken einsetzen kann, um die gegenwärtigen Proteste zu verbreitern und zu vertiefen und vorallem, um sie über das begrenzte Ziel einer Wiederholung der jüngsten Wahlen herauszudrücken. Wir haben die Keime dieser breiteren Bewegung in den Parolen, die wie schon diskutiert hier und da aufgetaucht sind, gesehen. Was jetzt gebraucht wird, sind Taktiken, die diesen Übergang über die vor uns liegenden Gebirgspässe ermöglichen; um die Keime der Bewegung in eine Bewegung im engeren Sinn umzuwandeln. Ich werde ein paar Punkte, die ich für wichtig halte, nennen, ohne irgendwie zu behaupten, sie seien ausreichend.

Zunächst ist es wichtig, sich bewußt zu werden, dass die Reformisten in der aktuellen Lage einen Schirm darstellen, der der breiteren Opposition eine relative Sicherheit verschafft. Die Tatsache, dass das Regime seine fehlgeleiteten “Kinder” (die es “khodiha”, “Insider” zu nennen pflegte) nicht mit der gleichen Gleichmütigkeit und Bestialität abschlachten kann, die es Außenstehenden angedeihen lassen kann, wird vom Ausmaß der jetzigen Repression im Vergleich zu den früheren Repressionswellen bezeugt. Eine wachsame radikale Führung wird diesen Schirm nutzen, ohne unter seinem Schatten zu geraten, und nur so lange, wie er Schutz bietet. Eine radikale Führung wird aber ihr eigenes unabhängiges Programm verfolgen und die Bewegung dahin drücken, Taktiken anzuwenden, die ihre Vertiefung und Stärkung sicherstellen.

Eine davon ist die Herstellung der Verbindung der verschiedenen sozialen Bewegungen, der der Frauen, der Nationalitäten, den religiösen etc. mit der gegenwärtigen Protestbewegung. Einer der schwersten Fehler der reformistischen Führung war der, alles außer der “Stimmabgabe” zu ignorieren. Forderungen, die sich auf diese demokratischen Rechte beziehen, sollten in den gegenwärtigen Kampf einbezogen werden, um die Teilnahme eines größeren Teil der Gesellschaft zu errmöglichen.

Drittens: eine zentrale Bewegung, die gegenwärtig vor Wut überkocht, ist die Bewegung der Arbeiterklasse – eine Bewegung, die für ihr einfaches Überleben angesichts der neoliberalen Politik der Massenentlassungen kämpft. Es gab wenig oder keine Bemühungen, die Protestbewegung nach den Wahlen mit den landesweiten Protesten der Arbeiterklasse zu verbinden, die in den letzten beiden Monaten eskaliert sind. Physische und materielle Unterstützung für die protestierenden und streikenden Arbeiter ist lebenswichtig – und zwar jetzt. Es war die Kombination von massiven Straßendemonstrationen und einem Generalstreik, der dem Schah das Genick brach. Die Radikalen innerhalb der Protestbewegung sollten auf einen Generalstreik zielen, indem sie die heute zersplitterten Kämpfe der Arbeiterklasse unterstützen und vertiefen.

Viertens bedeutet die massive Arbeitslosigkeit im Land auch, dass es eine große Masse von Armen gibt, solcher, die am Rand der Gesellschaft in den zahllosen Elendsvierteln rund um die wichtigsten Städte leben. Die Inflation übt auf diese Millionen einen größeren Druck aus als auf irgend eine andere Gruppe, und wachsende Arbeitslosigkeit vergrößert ihre Zahl ständig. Diese Menschen organisieren sich im Wesentlichen auf Nachbarschaftsebene und waren in den vergangenen Jahren dauernd in Kämpfe mit dem Staat über ihren Anteil am Leben verwickelt. Bei ihrem Kampf geht es vorallem um den Konsumptionskorb, um die Vermeidung von Steuern, darum, Dienstleistungen wie Elektrizität, kostenlose Wasserversorgung, Straßen etc. zu erhalten. Ihre Hauptkampfform findet in den Straßen statt (10). Ihre ständigen tagtäglichen Kämpfe für das Überleben müssen mit der allgemeinen Bewegung für Demokratie verbunden werden. Diese Menschen haben in der Revolution von 1979 eine wichtige Rolle gespielt. Das können sie wieder tun.

Fünftens ist die Waffe zivilen Ungehorsams nicht wirklich eingesetzt worden. In einem Staat, der verzweifelt um Legitimität ringt, ist das eine sehr wirksame Waffe. Eine universelle Kampagne, für Wasser, Strom und keine Gemeindesteuer nicht mehr zu zahlen, wird den Staat sehr schwächen. Auch das kann auf lokaler Ebene ebenso wie landesweit organisiert werden und ist eine wichtige Schule der Selbstorganisierung.

Der Einsatz von Massendemonstrationen auf den Straßen muss rationalisiert werden. Zu erwarten, das Millionen jeden Tag herauskommen, um zu marschieren, zeigt eine Armut der Taktik. Die Leute werden das nur tun, wenn jeder Tag mehr Menschen auf die Straße bringt als am Tag zuvor. Wenn nicht, dann liefert man die mutigsten und radikalsten der Protestierenden der Festnahme oder Schlimmerem aus. Die erfolgreiche Demonstration am Al-Quds-Tag (Freitag, den 8. September) hat gezeigt, dass, wenn diese Taktik weise eingesetzt wird, das Regime keine massive Unterdrückung der Demonstrierenden durchführen kann. Die Zeit, die Leute auf die Straße zu rufen, ist wenn zu erwarten ist, dass sie dort von ihren eigenen unabhängigen Parolen überschäumend sein werden.

Die Protestbewegung wurde internationalisiert, aber leider ist ein großer Teil ihres “Kundenkreises”, die Linke und die fortschrittlichen Kräfte im Ausland, mit einem simplistischen Dritte Welt-“Antiimperialismus” ohne Klasseninhalt im Sumpf versunken. Es ist wirklich lächerlich, die Unterstützung für eine Regime zu beobachten, dessen Präsident mit einem Geist kommuniziert, der vor 1100 Jahren starb, dessen Regime Arbeiter als Teil einer neoliberalen Privatisierungspolitik zu Millionen entlässt, dessen Sicherheitskräfte friedliche Demonstranten niederschießen. Artikel auf Artikel zeigt den jämmerlichen Mangel an Ideen, die desaströse Vorstellung, dass der Feind meines Feindes mein Freund ist. Im Iran gibt es einen Spruch: “Wir haben wenig Hoffnung auf Hilfe von Euch. Aber hört doch wenigsten auf, uns zu schaden.” (11). Die iranische Linke im Ausland hat eine klare Pflicht, einigen ihrer GenossInnen die Wahrheiten über den Iran zu beizubringen, ihnen aus ihrem theoretischen Gespinst herauszuhelfen und ihre aktive Unterstützung für eine prinzipienfeste Opposition zu erlangen.

* * *

Anmerkungen:

(1) Während eines vom Fernsehen übertragenen Besuchs Ahmadinejads bei einer Familie behauptete er, dass ihn während seiner Rede vor der UNO-Vollversammlung ein Heiligenschein umgeben habe. Er hat wiederholt gesagt, dass er in direktem Kontakt mit dem 12. Imam der Schiiten, dem im 10. Jahrhundert entrückten Imam Mahdi, dessen Wiederkehr den Tag des jüngsten Gerichts ankündigen werden, stehe.

(2) In Artikel 5 der Verfassung der IRI heißt es dazu wie folgt: “In der Islamischen Republik Iran steht während der Abwesenheit des entrückten 12. Imam [wali al-asr] – möge Gott, dass er baldigst kommt – der Führungsauftrag [imamat] und die Führungsbefugnis [welayat-e-amr] in den Angelegenheiten der islamischen Gemeinschaft [ummah] dem gerechten [`adil], gottesfürchtigen [muttaqi] über die Erfordernisse der Zeit informierten, tapferen, zur Führung befähigten Rechtsgelehrten zu, der von der Mehrheit der Bevölkerung als islamischer Führer anerkannt und bestätigt wurde. Falls kein islamischer Rechtsgelehrter eine solche Mehrheit findet, übernimmt ein Führungsrat islamischer Rechtsgelehrter, welche die obigen Voraussetzungen erfüllen, gemäß Grundsatz 107 die Führung.”

(3) Ardeshir Mehrdad and Mehdi Kia: Regime crisis and the new conservatives, Weekly Worker September 8, 2005 und http://www.iran-bulletin.org/IB-MEF-3/presidentialelections_edited.htm

(4) Das Regime hat zum Schluss zugegeben, dass es bis zu drei Milionen gefälschte Stimmen gegeben habe – nicht genug, um seinen Sicherheitsspielraum für einen “Sieg” durcheinanderzubringen.

(5) Man glaubt, dass eine Jungfrau direkt in den Himmel kommen wird, was auch immer ihre “Sünden” gewesen sein mögen.

(6) Artikel 2 der Verfassung: “Die Islamische Republik ist eine Ordnung, die auf folgenden Glaubenssätzen beruht: 1. Die Einzigkeit Gottes (es gibt keinen Gott außer Gott), seine alleinige Entscheidungsbefugnis und Gesetzgebung sowie die Notwendigkeit der Hingabe unter seinen Willen.”

(7) http://www.iranhrdc.org/httpdocs/English/pdfs/PressReleases/2009/Statement%20on%20execution%20of%20Zamani.pdf

(8) Den Teilnehmern wurde gesagt, sie sollten schweigend marschieren, um sich im Rahmen des angeblichen Verfassungs”rechts” auf friedliche Proteste zu halten.

(9) S. Yassamine Mather http://www.cpgb.org.uk/worker/782/misogynist.php

(10) s. Asef Bayat. Street politics. Columbia University Press, New York 1997

(11) Ma ra ze kheire to omidi nist, shar maresan

Übersetzung: A. Holberg

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