Der Mord an Yasser Arafat

Auf dem Rückweg von der Beerdigung traf ich zufällig Gamal Zahalka, ein Knesset-Mitglied von der national-arabischen Balad Partei, einen hoch qualifizierten Pharmazeut mit Doktortitel. Wir tauschten unsere Ansichten aus und kamen zu derselben Schlussfolgerung. 
Die Untersuchungsergebnisse der Schweizer Experten von letzter Woche bestätigten nur meine Überzeugung.
Zunächst eine simple Tatsache: Menschen sterben nicht ohne Grund.
Ein paar Wochen, bevor dies geschah, besuchte ich Arafat. Er schien durchaus bei guter Gesundheit zu sein. Als wir gingen, bemerkte ich zu Rachel, meiner Frau, er scheine mehr auf Draht und aufgeweckter zu sein als während unseres letzten Besuches.
Als er plötzlich sehr krank wurde, gab es keinen offensichtlichen Grund. Die Ärzte im französischen Militärhospital, zu dem er auf Drängen seiner Frau Suha gebracht wurde und wo er starb, fanden keine Erklärung für seinen Zustand. Sie fanden keine Krankheit. Absolut nichts. 
Was an sich sehr seltsam war: Arafat war der Führer seines Volkes, der de facto Oberhaupt eines Staates war, und man kann sicher sein, dass die französischen Ärzte keinen Stein auf dem andern ließen, um zu diagnostizieren. 
Da blieb nur Strahlung und Gift. Warum wurde kein Gift bei der Autopsie entdeckt? Die Antwort ist einfach: um ein Gift zu entdecken, muss man wissen, nach welchem man sucht. Die Giftliste ist fast unbegrenzt, und die Routinesuche ist auf eine kleine Zahl begrenzt.
Arafats Leiche wurde nicht nach radioaktivem Polonium untersucht.
Wer hatte die Gelegenheit, ihm das Gift zu verabreichen?
Praktisch jeder.

Während meiner vielen Besuche bei ihm, wunderte ich mich immer über die laschen Sicherheitsvorkehrungen.

Bei unserm ersten Treffen im belagerten Beirut wunderte ich mich über sein Vertrauen mir gegenüber. Zu jener Zeit war bekannt, dass Dutzende von Mossad-Agenten und Phalangisten-Spione die Stadt nach ihm durchkämmten. Er konnte nicht sicher sein, dass ich selbst ein verdeckter Mossad–Agent sein könnte oder dass mir einer folgte oder dass ich nicht irgendein Gerät mit mir trug, das den Ort verraten würde..
Später in Tunis war die Sicherheitskontrolle seiner Besucher flüchtig. Die Sicherheitsvorkehrungen des israelischen Ministerpräsidenten sind unermesslich strenger.
In der Mukata’a in Ramallah wurden keine Sicherheitsmaßnahmen hinzugefügt.
Ich hatte mehrmals mit ihm gegessen und wunderte mich wieder über seine Unbekümmertheit. Amerikanische und andere ausländische Gäste, die pro-palästinensische Aktivisten waren (oder so taten, als wären sie es), wurden von ihm frei eingeladen, saßen neben ihm und hätten ihm leicht Gift ins Essen streuen können. Arafat scherzte mit seinen Gästen und fütterte sie oft mit der eigenen Hand mit Fleischstückchen.
Gewisse Gifte benötigen keine Lebensmittel. Ein leichter physischer Kontakt genügt.
Doch dieser Mann war einer der bedrohtesten Personen auf der Welt. Er hatte viele Todfeinde; ein halbes Dutzend Geheimdienste waren auf seine Vernichtung aus. Wie konnte er nur so leichtsinnig sein?
Als ich mit ihm demonstrierte, erzählte er mir, er glaube, er stünde unter göttlichem Schutz.
Als er einmal in einer Privatmaschine von Tschad nach Libyen flog, verkündete der Pilot, dass das Benzin ausgegangen sei und sie mitten in der Wüste notlanden müssten. Arafats Leibwächter bedeckten ihn mit Kissen und bildeten einen Ring um ihn. Sie wurden alle getötet; aber er überlebte fast ohne einen Kratzer.
Seitdem wurde er sogar noch fatalistischer. Er war ein frommer Muslim – wenn auch ein unauffälliger. Er glaubte, dass Allah ihm die Aufgabe anvertraut habe: das palästinensische Volk zu befreien.
Wer also hat den Mord begangen?
Für mich kann es keinen wirklichen Zweifel geben.
Wenn auch viele ein Motiv hatten, so hatte nur eine Person die nötigen Mittel und einen tiefen und andauernden Hass gegen ihn: Ariel Sharon. 
Sharon war wütend, als Arafat ihm in Beirut durch die Finger entwischte. Hier war sein Opfer so nah und so fern. Der arabisch-amerikanische Diplomat Philip Habib brachte es fertig, dass man den PLO-Kämpfern samt Arafat erlaubte, sich ehrenhaft mit allen Waffen aus der Stadt zurückzuziehen. Ich lag auf dem Dach eines Hangars im Beiruter Hafen, als die Jeeps der PLO-Kämpfer mit fliegenden Fahnen zu den Schiffen eilten.
Ich konnte Arafat nicht sehen. Seine Männer versteckten ihn in ihrer Mitte.
Seitdem machte Sharon kein Hehl aus seiner Entscheidung, ihn zu töten. Und wenn er sich zu etwas entschlossen hatte, es zu tun, dann gab er niemals auf. Selbst bei viel kleineren Dingen, wenn sein Plan durchkreuzt wurde, kam er immer wieder auf ihn zurück, bis er Erfolg hatte.
Ich kannte Sharon gut. Ich kannte seine Entschlossenheit. Als ich zweimal das Gefühl hatte, dass sich Sharon seinem Ziel nähere, ging ich mit Rahel und einigen Kollegen in die Mukata’a, um als menschliche Schutzschilder zu dienen. Später befriedigte es uns, in den Zeitungen ein Interview mit Sharon zu lesen, in dem er sich beklagte, dass er nicht in der Lage gewesen sei, den geplanten Mord durchzuführen, weil „einige Israelis dort waren.“.
Die Liquidierung Arafats war mehr als eine persönliche Rache. Es war ein nationales Ziel.

Für Israelis war Arafat die Verkörperung des palästinensischen Volkes, ein Objekt abgrundtiefen Hasses. Er wurde mehr gehasst als jedes andere menschliche Wesen, außer Adolf Hitler und Adolf Eichmann. Der Generationen lange Konflikt mit dem palästinensische Volk war durch diesen Mann personifiziert.

Es war Arafat, der die moderne nationale palästinensische Bewegung ins Leben gerufen hatte, deren oberstes Ziel es war, den zionistischen Traum zu vereiteln: das ganze Land zwischen Meer und Jordan zu besitzen. Er war es, der den bewaffneten Kampf (Terrorismus) führte, und als er sich zu einem friedlichen Abkommen wandte, den Staat Israel anerkannte und das Oslo Abkommen unterzeichnete, wurde er noch mehr gehasst. Frieden war an die Rückgabe von viel Gebieten an die Araber gebunden, und was könnte schlimmer sein?
Der Hass gegen Arafat hatte längst aufgehört, rational zu sein. Für viele war er eine totale physische Zurückweisung, eine tödliche Mischung von Hass, Aversion, Feindschaft, Mistrauen. Seit er in den 60ern auf der politischen Bühne auftauchte, waren Milliarden von Worten über ihn in Israel geschrieben worden. Ich habe wahrlich nie ein einziges positives Wort über ihn gesehen.
Während all dieser Jahre führte eine Armee bezahlter Propagandaschreiberlinge eine unnachgiebige Dämonisierungskampagne gegen seine Person. Jede vorstellbare Anklage wurde gegen ihn vorgebracht. Die Behauptung, dass er AIDS habe, was jetzt wieder in den israelischen verdeckten Propagandabemühungen steckt, sowie die Behauptung dass er Homosexuell sei, wurde schon damals erfunden, um alle homophoben Vorurteile gegen ihn zu mobilisieren. Es ist unnötig zu sagen, es wurde nie ein Beweis darüber vorgelegt. Die französischen Ärzte fanden keine Spur von AIDS.
Ist die israelische Regierung fähig, sich zu entscheiden, solch eine Tat auszuführen? Es ist eine bewiesene Tatsache, dass sie es ist. 
Im September 1997 wurde eine israelische Exekutionsgruppe nach Amman gesandt, um Chalid Mishal, den Hamas Führer, zu ermorden. Das gewählte Mittel Levofentanyl, war ein tödliches Gift, das auch keine Spuren hinterlässt und Wirkungen hervorruft, die wie ein Herzanfall aussehen. Es wurde durch eine leichte physische Berührung am Ohr ausgelöst.
Die Tat war vermasselt. Die Killer wurden von Passanten verfolgt; sie flohen in die israelische Botschaft, wo sie belagert wurden. König Hussein – allgemein ein israelischer Kollaborateur – war wütend. Er drohte damit, die Täter aufzuhängen, wenn nicht das lebensrettende Gegengift sofort geliefert würde. Der damalige Ministerpräsident Benjamin Netanjahu gab sofort nach und sandte den Mossad-Chef mit dem geforderten Gegengift nach Amann. Mishal wurde gerettet.
2010 wurde ein anderer Trupp mit einem Mordauftrag in ein Hotel nach Dubai gesandt: ein anderer Hamas-Mitarbeiter, Mahmoud al-Mabhouh, war diesmal das Ziel. Sie verpfuschten auch diesen Auftrag – obwohl es ihnen gelang, ihre Beute zu töten, indem sie sie erst mit einem geheimen Gift lähmten und dann erstickten. Auch dieses Gift hinterließ keine Spuren. Sie wurden aber von den Hotelkameras entdeckt und ihre Identität entschlüsselt.
Gott weiß, wie viele nicht vermasselte Morde auf diese Weise ausgeführt worden sind?

Israel ist natürlich nicht allein auf diesem Feld. Zuvor wurde ein russischer Spion, Alexander Litvinenko, schlecht beraten und missfiel Wladimir Putin. Er wurde mit demselben radioaktiven Polonium vergiftet wie Arafat, aber bevor er starb, entdeckte ein aufmerksamer Arzt das Gift. Zuvor wurde ein bulgarischer Dissident vergiftet, indem er mit einem winzigen Pellet berührt wurde, das von einem Regenschirm abgefeuert wurde.

Warum tötete Sharon Arafat nicht früher? Schließlich waren die palästinensischen Führer sehr lang in seinem Ramallah-Compound belagert. Ich selbst sah, wie israelische Soldaten nur wenige Meter von seinem Büro entfernt waren. 
Die Antwort ist politisch. Die USA fürchteten, dass wenn Israel als derjenige angesehen wird, der den PLO-Chef, – für Millionen in der ganzen arabischen Welt als Held betrachtet,- getötet wird, die Region gegen die US-Bush-Regierung explodieren würde. George Bush junior verbot dies. Die Antwort war, dies in einer Weise zu tun, dass es nicht auf Israel hinweisen würde. 
Dies war übrigens für Sharon ganz normal. Ein paar Wochen vor der Invasion in den Libanon 1982 erzählte er dem US-Außenminister Alexander Haig von seinem Plan. Haig verbot es ihm – wenn es nicht eine glaubwürdige Provokation geben würde. Siehe da, ein niederträchtiger Mordversuch wurde auf das Leben von Israels Botschafter in London gemacht. Die Provokation war unerträglich, und der Krieg begann. 
Aus demselben Grund leugnete die Netanjahu-Regierung jetzt energisch eine Beteiligung an der Ermordung von Arafat. Statt mit Prahlerei über den erfolgreichen Mord behauptet unsere Propagandamaschine, dass die Schweizer Experten inkompetent seien oder gelogen hätten (Wahrscheinlich sind sie alle Antisemiten) und dass die Schlussfolgerungen falsch seien. Ein geachteter israelischer Professor kam mit der Erklärung, alles sei Unsinn. Selbst die alte Geschichte über AIDS wird wieder erzählt.
Sharon in seinem endlosen Koma kann nicht reagieren. Aber seine alten Assistenten sind erfahrene Lügner und wiederholen ihre verlogenen Geschichten.
Für mich ist der Mord an Arafat ein Verbrechen an Israel.

Arafat war der Mann, der bereit war, Frieden zu machen, und in der Lage war, alle Teile des palästinensischen Volkes dahin zu bekommen, ihn zu akzeptieren. Er legte auch die Termine fest: einen palästinensischen Staat mit Grenzen auf der Grünen Linie mit seiner Hauptstadt Ost-Jerusalem.

Dies ist genau, was sein Mord verhindern sollte.

Anmerkungen:

Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Unter www.uri-avnery.de erfolgte nach Eigenangaben am 21.11.2013 die Erstveröffentlichung. Alle Reche beim Autor.
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