Der kunstgeschichtliche Erbe auf der Suche nach sich selbst und nach seiner gesellschaftlichen Rolle – Serie: „Tübke. Die Retrospektive zum 80. Geburtstag“ im Museum der bildenden Künste in Leipzig (Teil 3/3)

Sizilianisches Familienbild in Marionettenkostümen.

Dabei wirken die Bilder voll und leer zugleich. Die Menschenmassen sind beeindruckend – und wieder einmal die Assoziation mit den mexikanischen Wandbildern – und enthalten das notwendige Personal des aufständischen Proletariats, der Insignien des Sozialismus, der politischen Führer, der dekadenten Gestrigen. Aber eine ungeheure geistige Leere schreit einem gerade angesichts der als horror vacui gefüllten Leinwand mit Menschenleibern entgegen. Hier auf jeden Fall zeigt sich Tübke nicht als Postmoderner, eine neue Etikette, die ihm Museumsdirektor Hans-Werner Schmidt und im Katalog Eckart Gillen umbinden. Sie stimmt auch sonst nicht. Denn seine malerischen Verfahren der Zitate der Altvorderen, sprich bedeutender Künstler, die er schätzt, – was vor ihm so viele Künstler taten, wie beispielsweise Picasso – wurde von den Postmodernen zwar auch als inhaltlich Aussage der Erschöpfung der Kunst auf die Spitze getrieben, aber nie hat man bei Tübke das Gefühl, der Rückbezug oder die Einverleibung der alten Maler solle mehr ausdrücken, als Anknüpfung und im gewissen Sinne ein Verfahren, sich selbst in zuvor schon bekannte Zusammenhänge zu stellen.

An dieser Stelle muß man erneut auf die Selbstbildnisse zu sprechen kommen, die hier vereinzelt zwischen seinen übrigen Werken hängen, deren Hängungsabsicht wir nicht ergründen konnten und die uns verwirrte. Im „Selbstbildnis in Samarkand“ von 1962 gleicht er einem reisenden Wandergesell und doch sieht ihm der ebenfalls dort gemalte, bodenständige und stolze „Viehzuchtbrigadier Bodlenkow“ fast ähnlich. Zum Heiligen geworden ist er im „Selbstbildnis auf bulgarischer Ikone“ von 1977. Ein starkes Stück, ein starkes Bild. Aber auch ein Sakrileg, wenn man um die Bedeutung von Ikonen weiß, die erst durch Bildnis und Beschriftung zur Andacht taugen. Tatsächlich hat Tübke eine bulgarische Christus-Pantokrator-Ikone im Stil des 13. Jahrhunderts mit seinem eigenen Gesicht übermalt, wobei er den Segensgestus beibehält und die Inschrift als Weltenherrscher und das aufgeschlagenen Johannesevangelium auch. Natürlich folgt als Assoziation das Dürerselbstporträt als Christus von 1500, aber dieses ist nur durch die Anlage des frontalen Bildes als christusähnlich wahrnehmbar, nicht durch die Benutzung der heiligen Zeichen.

Tübke malt sich zuvor als Narr, er malt sich als Harlekin, das immer wieder, er malt sich als Künstler, mal der Romantik, mal der Renaissance, mal beim Arbeiten mit der Palette, wo er von oben auf uns kleine Erdenbürger herabblickt, in geradezu manieristischer Malweise der gestreckten Leiber. Bei den über 300 Selbstbildnissen sind alle Möglichkeiten der Selbstdarstellung vorhanden, auch die des Bettlers und armseligen Gesellen. Zwischen Hoffart und Erniedrigung pendeln diese Bilder der Selbstvergewisserung und sind in jedem auch ein Ausdruck der malerischen Qualität des Werner Tübke. Zu den Selbstbildnissen rechnen wir auch „Familienbildnis in sizilianischen Marionettenkostümen“, ebenfalls von 1977. Hier ist es gar Kaiser Karl der Große, dessen Krone und Ornat sich Tübke anzieht. solche goldglänzenden Rüstungen sieht man bei van Eyck und den frühen Niederländern wie auch die Opulenz der Stoffe und Federn. Aber ganz und gar nicht spätmittelalterlich ist die Haltung der statisch Stehenden, die uns das kleine Begleitbuch als Kinder aus den jeweils vorhergehenden Ehen nahebringt, und auch die herangeeilte Ehefrau Brigitte hat etwas von einem Schutzengel oder einem Knappen, der stets zu Diensten ist. Und so nimmt man nur eine gewissen Starrheit dieser Familienaufstellung wahr, ein Schweben zwischen den Zeiten, eine Warteposition des Bildpersonals und wundert sich, bis man die dünnen Stäbe begreift, die von den Handgelenken nach oben geführt sind, wie richtige Marionettenpuppen eben, aber auch auf den Helmen sitzen. Ist das die Lenkung der Gehirne? Was diese Familie und damit Werner Tübke im Innersten zusammenhält, kann nur die Zusammenführung der lenkenden Stäbe oberhalb des Bildes deuten. Aber die ist nicht gemalt.

Überhaupt Italien, das zieht sich durch die Ausstellung, wie sehr ihn seit dem ersten Besuch dieses Land fasziniert und auf seine Malweise direkt Einfluß ausübt. Der „Sizilianische Großgrundbesitzer mit Marionetten von 1972“ ist ein schönes Bild, weil von den Farben und Formen her dem Auge wohl getan wird, aber der Sinn? Ist das Rot Hoffnung oder Blut. Wer bringt die Marionetten zum Tanzen und die Keramikköpfe auf der Brüstung vor dieser Traumlandschaft, wollen sie uns etwas mitteilen, daß sie beispielsweise abgeschlagene Köpfe seien und ihre Leiber unter der Brüstung liegen, die schöne Landschaft also vor Leichen stinkt, oder sind sie reine Dekoration, wie das ganze Bild wirkt, das man sich gut in der Villa eines sizilianischen Großgrundsbesitzers über dem Sofa, das natürlich eine barocke, mit Gold und Brokatstoffen gepolsterte Sitzanlage ist, vorstellen kann?

Die manieristischen Anklänge sieht man auch bei den Menschenleibern von Ostia aus dem Jahr 1973, deren Menschenleibergetümmel an Rosso Fiorentino erinnern und dann wieder auch die Assoziation Dalí­ beim gedrechselten Schwarzbärtigen hervorruft. Bei „Zwei Frauen in Venedig“ von 1977 ahnt man Mantegna und oft ist Carpaccio ganz nahe. Aber das bringt nichts, die Assoziationen so zu betonen, denn Tübke kann sich aller Stile und Silhouetten bedienen. Die Frage bleibt, was er damit ausdrücken möchte, wenn die spätmittelalterlich anmutenden Schlachtenbilder „Vision des Harlekins“ I von 1978 und II zehn Jahre später uns keine Veränderung der Welt mitteilen. Oder doch? Nur wenige Bilder gibt es dann nach 1989, darunter eine Reihe der Entwürfe zu einer Oper am Rhein, wobei uns „Mein Personal vor Sonnenuntergang“ von 1993 besonders gefiel. Man fragt sich am Schluß verwundert, warum eigentlich Werner Tübke nie den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten hat? Schon das Bauernkriegspanorama in Bad Frankenhausen legt das nahe. Zu spät für den Preis, aber nicht zu spät, sich nach Leipzig zu begeben und diesen großen deutschen Maler zu erkunden.

Ausstellung:

bis 13. September 2009, anschließend ab 30. September bis 3. Januar 2010 in Berlin im Kunstforum der Berliner Volksbank, leicht reduziert, wie der Katalog verrät.

Katalog:

Tübke. Die Retrospektive zum 80. Geburtstag, hrsg. von Hans-Werner Schmidt, E.A.Seemann Verlag. Man kann sich gut vorstellen, daß Besucher völlig ohne die Absicht, den Katalog unterm Arm mit nach Hause zu nehmen, gekommen sind. Aber die vielen Verrätselungen von Bildern und Hängung legen nahe, es genauer wissen zu wollen. Zudem zeigt der Band im Katalogabbildungsteil eine chronologische, von der Ausstellung abweichende Folge, die sehr hilfreich ist. Mit vielen essayistischen und schlichten Erinnerungsbeiträgen wird der Maler von vielen Seiten beleuchtet. Eduard Beaucamp ist auch dabei, der in der alten Bundesrepublik nicht nachließ, für die kunstgeschichtliche Bedeutung dieser DDR-Maler zu streiten und dessen Mahnerrolle durch die neue Bundesrepublik noch längst nicht erschöpft ist. Leider.

www.tuebke.org

www.mdbk.de

Reiseliteratur:

Tobias Gohlis, DuMont Reistaschenbuch Leipzig, 2006

Marco Polo, Leipzig, 2006

Mit freundlicher Unterstützung des Leipzig Tourismus und der Universität Leipzig sowie des Hotels Mercure am Johannisplatz

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