Der irre Prophet

Wenn die israelische Linke nicht in der Lage ist, eine ernst zu nehmende politische Kraft zu schaffen, die Israel auf den Weg zu Frieden und zu sozialer Gerechtigkeit bringt, kann es nur sich selbst die Schuld geben.

Wir haben keinen blutdürstigen Diktator, den wir für verantwortlich halten können. Kein verrückter Tyrann wird seiner Luftwaffe den Befehl geben, uns zu bombardieren, wenn wir seine Absetzung fordern.

Eine Geschichte war hier einmal im Umlauf: Ariel Sharon – damals General in der Armee – versammelte das Offizierskorps und sagte zu ihm: „Kameraden, heute nacht werden wir einen Staatsstreich machen!“ alle versammelten Offiziere brachen in lautes Gelächter aus.

Demokratie ist wie Luft – man spürt sie nur, wenn sie nicht da ist. Nur eine Person, die am Ersticken ist, weiß, wie wichtig sie ist.

Der Taxifahrer, der so frei über das Hinauswerfen von Netanyahu sprach, fürchtete sich nicht, dass ich ein Agent der Geheimpolizei sein könnte und in den frühen Morgenstunden ein Klopfen an seiner Tür geben wird. Ich schreibe, was immer mir in den Sinn kommt und habe keine mich begleitenden Leibwächter. Und wenn wir uns entscheiden würden, uns auf dem Platz zu versammeln, würde uns keiner daran hindern, ja, die Polizei würde uns sogar beschützen.

(Ich spreche natürlich über Israel in seinen rechtmäßigen Grenzen. Nichts davon ist in den besetzten Gebieten gültig.)

Wir leben in einer Demokratie, atmen Demokratie, ohne dessen recht bewusst zu sein. Für uns ist es natürlich und selbstverständlich. Deshalb geben Leute bei allgemeinen Meinungsumfragen dumme Antworten, und aus den Umfragen werden dramatische Schlussfolgerungen gezogen, dass die Mehrheit der israelischen Bürger die Demokratie verachtet und bereit ist, sie aufzugeben. Die meisten der Befragten haben nie unter einem Regime gelebt, in dem eine Frau fürchten muss, dass ihr Mann nicht von der Arbeit nach Hause kommen wird, weil er über den obersten Führer einen Witz gemacht hatte, und dass ihr Sohn verschwinden könnte, weil er Graffiti an eine Wand gemalt hatte.

Die Knessetmitglieder, die bei demokratischen Wahlen gewählt wurden, verbringen ihre Zeit mit einem Spiel: wer kann die grauenhaftesten rassistischen Gesetzesvorlagen entwerfen? Sie ähneln Kindern, die Fliegen die Flügel ausreißen, ohne zu verstehen, was sie tun.

Für all diejenigen habe ich einen Rat: seht, was in Libyen geschieht.

Während der ganzen Woche habe ich jeden Augenblick, den ich erübrigen konnte, Al Jazeera gesehen.

Ein Wort über den Sender: ausgezeichnet.

Er braucht keinen Vergleich mit irgendeiner TV-Station scheuen, einschließlich der BBC und CNN. Ganz zu schweigen von unseren eigenen Stationen, die ein trübes Gebräu aus Propaganda, Information und Unterhaltung bieten.

Viel ist schon über die Rolle gesagt worden, die die sozialen Netzwerke bei den Ereignissen spielten, wie Facebook und Twitter, die jetzt die arabische Welt auf den Kopf stellen. Aber was den Einfluss betrifft, werden sie von Al Jazeera übertrumpft. Während des letzten Jahrzehnts hat der Sender die arabische Welt verändert, dass sie nicht wieder zu erkennen ist. Während der letzten zwei Wochen hat er Wunder vollbracht.

Die Ereignisse in Tunesien, Ägypten, Libyen und in den anderen Ländern auf israelischen, amerikanischen oder deutschen Sendern zu sehen, ist wie ein Kuss durch ein Taschentuch. Diese Ereignisse auf Al Jazeera zu sehen, ist, das Richtige zu fühlen.

Mein ganzes Leben als Erwachsener habe ich engagierten Journalismus befürwortet. Ich versuchte, Generationen von Journalisten zu lehren, nicht berichtende Roboter zu werden, sondern Menschen mit Gewissen, die ihre Mission darin sehen, die menschlichen Grundwerte zu bringen. Al Jazeera tut genau dies – und wie!

Während dieser letzten Wochen waren viele Millionen Araber von diesem Fernsehsender abhängig, um herauszufinden, was in ihren eigenen Ländern, ja, in ihren Städten geschieht – was auf dem Habib Bourguiba-Boulevard in Tunis, was auf dem Tahrir-Platz in Kairo und in den Straßen von Bengasi und Tripoli geschieht.

Ich weiß, dass viele Israelis diese Worte als ketzerisch ansehen, und zwar wegen Al Jazeeras unerschütterlicher Unterstützung der palästinensischen Sache. Der Sender wird hier als Erzfeind angesehen, nicht weniger als Osama Bin Laden oder Mahmoud Ahmadinejad. Aber man muss einfach seine Sendungen ansehen, um zu verstehen, was in der arabischen Welt, einschließlich der besetzten palästinensischen Gebiete, vor sich geht.

Wenn Al Jazeera über einen Krieg oder eine Revolution in der arabischen Welt berichtet, dann berichtet er richtig. Nicht nur eine Stunde oder zwei, sondern 24 Stunden lang, rund um die Uhr. Die Bilder prägen sich einem ein, die Zeugenaussagen wecken Emotionen, der Einfluss auf den arabischen Betrachter ist fast hypnotisch.

Muammar Gaddafi wurde bei Al Jazeera gezeigt, wie er wirklich ist. Ein irrer Größenwahnsinniger, der jede Verbindung zur Realität verloren hat. Nicht in kurzen Nachrichten-ausschnitten, sondern in stundenlangen Sendungen, in denen seine weitschweifigen Reden immer wieder gezeigt werden: mit Hinzufügungen von Dutzenden von Zeugnissen und Meinungen von Libyern aller Gesellschaftsgruppen – von den Luftwaffenoffizieren, die sich nach Malta abgesetzt haben, bis zu gewöhnlichen Bürgern, die in Tripolis bombardiert wurden.

Zu Beginn seiner Rede erinnert mich Gaddafi (tatsächlich wird sein Name Qasafi ausgesprochen, daher der Slogan Ya Qasafi, Ya Qasafi, oh Lügner) an Nicolas Ceaucescu und seine berühmte letzte Rede auf dem Balkon, die von den Massen unterbrochen wurde. Aber als die Rede weiterging, erinnerte mich Gaddafi mehr noch an Adolf Hitler in seinen letzten Tagen, als er mit seinen übrig gebliebenen Generälen vor der Landkarte stand und Armeen bewegte, die gar nicht mehr existierten, während die Rote Armee nur noch ein paar hundert Meter vor dem Bunker stand.

Wenn Gaddafi keine Mordaktionen gegen sein eigenes Volk planen würde, könnte es nur grotesk oder traurig sein. So war es nur monströs.

Während er sprach, übernahmen Rebellen die Kontrolle der Städte, deren Namen noch im Gedächtnis der Israelis meiner Generation sind. Im 2. Weltkrieg waren diese Orte die Schauplätze der britischen, deutschen und italienischen Armeen, die sie eroberten und verloren – mal so, mal so. Wir folgten ängstlich diesen Bewegungen; denn eine britische Niederlage hätte die Wehrmacht in unser Land gebracht mit Adolf Eichmann im Gefolge. Namen wie Bengasi, Tobruk und Derna hallen noch in meinen Ohren nach – um so mehr, als mein Bruder dort als Soldat in einem britischen Kommando kämpfte, bevor er in die äthiopische Kampagne versetzt wurde, wo er sein Leben verlor.

Bevor Gaddafi seinen Verstand völlig verlor, sprach er einen Gedanken aus, der wahnsinnig klingt, der uns aber nachdenklich machen sollte.

Unter dem Einfluss des Sieges der gewaltfreien Massen in Ägypten und bevor ihn das Erdbeben auch erreichte, schlug er vor, die Massen palästinensischer Flüchtlinge auf Schiffe zu nehmen und sie an die Küste Israels zu senden.

Ich würde Binyamin Netanyahu raten, diese Möglichkeit sehr ernst zu nehmen. Was wird geschehen, wenn Massen von Palästinensern von der Erfahrung ihrer Brüder in einem halben Dutzend arabischer Länder lernen und beschließen, dass der „bewaffnete Kampf“ nirgendwo hinführt und dass sie stattdessen die Taktik einer gewaltfreien Massenaktion übernehmen sollten?

Was würde geschehen, wenn Hunderttausende Palästinenser eines Tages an die Trennungsmauer kommen und sie niederreißen würden? Was, wenn eine viertel Million palästinensischer Flüchtlinge im Libanon sich an unserer nördlichen Grenze versammeln würde? Was, wenn sich Massen am Manara-Platz in Ramallah und am Rathausplatz in Nablus sich versammelten und sich gegen israelische Truppen stellen? All das vor den laufenden Kameras von Al-Jazeera, begleitet von Facebook und Twitter – während die ganze Welt mit angehaltenem Atem zusieht?

Bis jetzt war die Antwort einfach: wenn notwendig, werden wir scharfe Munition, Kampfhubschrauber und Panzerkanonen benützen. Dann wird der Spuk beendet sein..

Aber jetzt hat auch die palästinensische Jugend gesehen, dass es möglich ist, scharfem Schießen zu trotzen, dass Gaddafis Kampfflugzeuge dem Aufstand kein Ende gesetzt wird, dass der Perlenplatz in Bahrain sich nicht leert, wenn die Soldaten des Königs das Feuer eröffnen. Diese Lektion wird nicht vergessen werden.

Vielleicht wird dies nicht morgen geschehen oder übermorgen. Aber es wird gewiss geschehen – wenn wir nicht Frieden schließen, solange wir es noch können.

Anmerkungen:

Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Erstveröffentlicht wurde der Beitrag unter www.uri-avnery.de am 26.02.2011. Alle Rechte beim Autor.

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