Der Herzog von Nablus

Er sagte auch, er sei ganz zufrieden mit seiner augenblicklichen Situation.

Kein Wunder!

Die Westbank-Stadt Nablus liegt eingebettet im Tal zwischen zwei hohen Bergen, dem Ebal und dem Garizim. Der Garizim ist der berühmtere, weil er für das samaritanische Volk heilig ist, da es glaubt, Gott habe den Israeliten befohlen, seinen Tempel dort zu bauen. Für sie ist Jerusalem nur eine Anmaßung.

Der Berg Garizim, 881 m über dem Meeresspiegel, überragt das Zentrum von Nablus um 330 Meter. Er wird viele Male in der Bibel erwähnt. Dort hielt Jotham, der Sohn des Richters Gideon, seine berühmte Rede, in der er Politiker mit dem Dornstrauch vergleicht, der zu nichts nütze sei, der keine Früchte trage, nicht dufte, keinen Schatten spende, der darin übereinstimmt, der König der Bäume zu sein, nachdem sich alle anderen Bäume weigerten. Vielleicht stimmt Munib al-Masri mit der Moral dieser Fabel überein, die in vielen Ländern heute seltsam relevant erscheint.

Wenn man auf der Hauptstraße von Nablus entlang geht und seine Augen gen Himmel wendet, sieht man auf der Spitze des Berges ein imponierendes Gebäude mit einer Kuppel. Dies ist das Haus von Al-Masri.

Nun „Haus“ mag leicht untertrieben sein. Tatsächlich ist es die imponierendste Privatresidenz in Palästina und Israel, wenn nicht gar – wie behauptet wurde – von Marokko bis an die Grenze Indiens.

Die Al-Masri-Villa ist ein genauer Nachbau der Villa Capra, auch als Rotunda bekannt, ein einzigartiges architektonisches Meisterwerk, etwa 60km von Venedig entfernt. Wenn man vor dem Gebäude steht, glaubt man, seinen Augen nicht zu trauen. Tatsächlich weiß man gar nicht, wo die Vorderseite ist – weil es vier Vorderseiten hat, mit genau denselben Eingängen, Säulen und Stufen. Wenn man durch einen der Eingänge eintritt, kommt man in einen großen runden Empfangsraum, von dem alle Räume ausgehen. In der Mitte steht eine alte griechische Statue von Herkules. Über dieser dreistöckigen Halle wölbt sich die Kuppel.

Der marmorne Fußboden und das ganze Baumaterial kam aus dem Ausland. Ein italienischer Experte machte den Witz, der palästinensische Palast sehe viel besser aus als das Original, und der italienische Palazzo sei wie eine gelungene Kopie.

Das wäre schon mehr als genug – aber ist es nicht.

Alle Räume des Palastes sind voller Kunstwerke, die al-Masri während 40 Jahren gesammelt hat. Sie könnten ein eindrucksvolles Museum füllen. Gemälde von Renaissancemalern bis zur Moderne, Kaminfeuerstellen aus Versailles, klassische Tische und Stühle aus Spanien, Wandteppiche aus Flandern, Kerzenhalter aus Italien und noch vieles, vieles mehr. So ist es Raum um Raum.

Das sollte nun mehr als genug sein. Ist es aber nicht.

Als die Grabungen für die Grundmauern begannen, wurden drei kleine alte Töpferscherben entdeckt. Man hörte mit der Arbeit auf, und die archäologische Grabung begann. Das Ergebnis war atemberaubend: ein komplettes byzantinisches Kloster aus dem 4. Jahrhundert wurde entdeckt. Es steht dort mit all seinen Räumen, Kapellen und Ställen, umgeben von kräftigen Säulen, auf denen der ganze moderne Bau ruht. Ein Gebäude auf dem anderen.

Genug? Nicht ganz. Der Palast ist umgeben von einem riesigen Gut, Gewächshäusern, Olivenhainen, einem Teich und was noch ”¦Aber nun genug davon.

Ich traf al-Masri, einen schlanken großen Gentleman vor etwa zwanzig Jahren bei einem meiner Besuche bei Yasser Arafat in Tunis. Al-Masri gehörte zum inneren Kreis des PLO-Führers und kehrte mit ihm nach Palästina zurück.

Zuvor hatte er als jordanischer Kabinettminister gewirkt und war angeklagt worden, Arafat und anderen Fatahführern während des blutigen „Schwarzen September“ 1970 zur Flucht aus Jordanien geholfen zu haben.

Zwischen all den Kunstwerken sind die Wände voll mit Hunderten von Fotos des Besitzers mit seiner amerikanischen Frau, seinen Söhnen und Töchtern und in Gesellschaft mit weltbekannten Persönlichkeiten. Unter ihnen fällt Arafat besonders auf. Al-Masri bewundert ihn.

Seit jenem flüchtigen Treffen in Tunis achtete ich auf seine seltenen Äußerungen. Jedes Wort, das er über den israelisch-palästinensischen Konflikt sagte, hätte auch von mir sein können und umgekehrt. Unsere Ideen über die Lösung sind sehr ähnlich.

Bemerkenswert ist, dass er – trotz einer Tragödie in der Familie – ein Mann des Friedens blieb. Am Nakba-Tag vor einigen Monaten schloss sich sein Enkel, der an der amerikanischen Universität in Beirut studierte, den Demonstranten an, die zum nördlichen Grenzzaun Israels kamen. Israelische Soldaten eröffneten das Feuer, und der Enkel wurde von einer Kugel – einem verbotenen Dum-dum-Geschoss – getroffen. Es verletzte die Wirbelsäule, die Leber und die Nieren. Der junge Mann wird nun in den US medizinisch behandelt.

Seit sein Palazzo fertig ist, beschäftigt sich al-Masri mit seinen weitläufigen Geschäften und vielen philantropischen Tätigkeiten. Er investiert besonders in die Universitäten von Nablus, Ost-Jerusalem und Beirut. Trotzdem bleibt er eine leidenschaftlich politische Person.

Er nannte den Palast „Palästina-Haus“ und behauptet, es sei der Hauptzweck des Hausbaus an dieser Stelle, das Gebiet für das palästinensische Volk zu bewahren. Indem er auf der Spitze des Berges baute, hat er die Errichtung einer israelischen Siedlung dort verhindert. Nablus ist sowieso schon von einer Reihe jüdischer Siedlungen umgeben – und einige neigen zu den extremsten neo-faschistischen Tendenzen. In einem von ihnen wohnt der Rabbiner, dessen Buch unter gewissen Umständen das Töten von nicht-jüdischen Kindern befürwortet. Von diesen Siedlungen kommen die jüdischen Anstifter von Pogromen, die regelmäßig die umgebenden Moscheen anzünden. Hier kann man wirklich von einer Villa im Dschungel reden.

Die Al-Masri-Familie ist eine der angesehensten Familien im Land. Auch wenn der Name „der Ägypter“ bedeutet, kommt sie ursprünglich aus dem Hedjas, der heute in Saudi-Arabien liegt. Jahrhunderte lang lebte die Familie in Hebron und Jerusalem und die letzten zwei Jahrhunderte in Nablus (Nablus ist die arabische Form für Neapolis, die Stadt, die von Kaiser Vespasian vor etwa 1940 Jahren gegründet wurde, nachdem er die jüdische Stadt Sichem oder Shechem zerstört hatte ).

Wenn dies England wäre, dann wäre Munib al-Masri ein Lord, wenn nicht gar der Herzog von Nablus.

Meinen ersten Kontakt mit der Familie hatte ich wenige Tage nach dem 1967er-Krieg. In jener Zeit glaubten nur wenige Leute, dass Israel die neu besetzten Gebiete länger als ein paar Wochen halten könne. Die Haupttendenz war, die Westbank an den jordanischen König zurückzugeben. In der Knesset versuchte ich, die Regierung zu überzeugen, die Palästinenser stattdessen in die Lage zu versetzen, einen eigenen Staat aufzubauen.

Zu diesem Zweck machte ich die Runde bei den lokalen palästinensischen Führern, meistens den Oberhäuptern von Großfamilien. Einer von ihnen war Hikmet al-Masri, Munibs Onkel. Ich stellte ihnen allen vertraulich dieselbe Frage: wenn Sie die Wahl hätten, nach Jordanien zurückzukehren oder einen eigenen palästinensischen Staat zu gründen, was würden Sie vorziehen? Ihre einstimmige Antwort lautete: natürlich Palästina.

Während einer Knesset-Debatte machte ich diese Tatsache bekannt, die vom Verteidigungsminister, Moshe Dayan zornig geleugnet wurde. In einer der folgenden Debatten, dieses Mal mit dem Ministerpräsidenten Levy Eshkol, sagte ich, Dayan lüge bewusst.

Eshkol verteidigte seinen Minister heftig. Aber da er nun mal so eine Person war wie er war, sandte er mir am nächsten Tag einen seiner Chefberater und ließ mich fragen, welchen Beweis ich hätte. Das vom Berater gemachte Protokoll dieses Gespräches belegt: „Es gibt keinen Unterschied zwischen der Information des Abgeordneten Avnery und meiner eigenen. Er stimmt mit mir aber auch darin überein, dass ein palästinensischer Staat ohne Ost-Jerusalem nicht möglich ist. Da die Regierung Israels entschieden hat, Ost-Jerusalem zu annektieren, ist der Vorschlag des Abgeordneten Avnery unmöglich zu realisieren.“

Als ich dies Munib al-Masri letzte Woche erzählte, schüttelte er traurig den Kopf.

Wie ist es möglich, fragte er mich später, dass die Israelis nichts über die Palästinenser wissen, während die Palästinenser so viel über die Israelis wissen?

Dies kann nicht geleugnet werden. Die israelischen Schulkinder lernen praktisch nichts über den Islam, nichts über den Koran, nichts über die ruhmreiche arabische Geschichte.

Vor vielen Jahren brachte ich bei einer Knesset-Debatte über Bildung die Idee vor, dass jeder Schüler in Israel nicht nur die Geschichte seines Volkes – die jüdische bzw. die arabische – lernen sollte, sondern auch die Geschichte des Landes von der Antike bis heute, über die Kanaaniter, Phönizier, Israeliten, Samaritaner, Perser, Griechen, Römer, Byzantiner, Araber, Philister, Kreuzfahrer, Mamelucken, Türken, Palästinenser, Briten, Israelis als eine Möglichkeit, um zu sehen, was uns eint. Dies amüsierte den Bildungsminister so sehr, dass er mich seitdem „Mameluck“ nannte.

Wenn ein junger Israeli mit 18 Jahren zur Armee kommt, „weiß“ er nur, dass der Islam eine barbarische, anti-semitische Religion ist, und dass die Araber ihn ohne einen Grund töten wollen.

Vielleicht ist das natürlich. Ein unterdrücktes Volk will über seinen Unterdrücker mehr wissen, aber der Besatzer hat nicht den Wunsch, über die Besetzten mehr zu wissen als den Bereich des militärischen Geheimdienstes. Um so mehr als ein Besatzer dazu tendiert, die besetzte Bevölkerung als minderwertige Rasse anzusehen, um die Besatzung gegenüber der Welt und sich selbst zu rechtfertigen.

Jeder Konflikt schafft Mistrauen, Vorurteile, Hass und Dämonisierung. Wenn dieser über Generationen hinweg geht wie dieser hier, muss all dies multipliziert werden. Um Frieden zu machen, muss dies überwunden werden. Deshalb sind Menschen wie Munib al-Masri so wichtig. Ich wünschte, dass jeder Israeli in der Lage wäre, Palästinenser wie ihn zu treffen.

Ich wünsche mir auch, dass er der palästinensische Ministerpräsident wird, der einem Kabinett der Volksversöhnung zwischen den palästinensischen Fraktionen vorsitzt, die am Ende zu einer Versöhnung zwischen unsern beiden Völkern führen wird.

Anmerkungen:

Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Alle Rechte beim Autor.

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