Der große Bahnskandal in Israel oder Merkel ist eine moralische Heldin, Netanjahu ist ein moralischer Feigling

Angela Merkel
Angela Merkel (CDU). © CDU

Tel Aviv, Israel (Weltexpress). Ich bin nicht der neidische Typ, aber ich beneide die Deutschen. Ich beneide sie um Angela Merkel.

Merkel tat etwas, das völlig gegen ihre politischen Interessen ist. Sie öffnete die Tore Deutschlands für fast eine Million Flüchtlinge, meistens Muslime, viele aus dem kriegszerrissenen, blutigen Syrien.

Kein Volk, nicht einmal ein Volk von Engeln oder Angelas, kann eine Million Ausländer ohne einige Befürchtungen absorbieren. Doch Merkel hat die Moral und den politischen Mut, das Risiko zu übernehmen.

Nun leidet sie an den Folgen.

Im Staat Mecklenburg-Vorpommern, einem der Komponenten der deutschen Bundesrepublik und Merkels eigenem Heimat-Staat, hat sie einen erschütternden Schlag erlebt. In den Wahlen des ganzen Bundesstaates ist ihre Partei auf Platz 3 gerutscht, nach der SPD und der sehr Rechten (AfD). Eine verheerende Niederlage, die bedeuten könnte, dass Merkel bei den nächsten Wahlen aller Bundesstaaten die Macht verliert.

Die Kanzlerin (mein PC besteht darauf, dass es solch ein Wort im Englischen nicht gibt). Ist keine dumme Person. Sie wusste, dass sie und ihre Partei für ihre Entscheidungen – die Flüchtlinge betreffend – einen hohen Preis zahlen mag. Sie tat es trotzdem.

Es stimmt, dass sie auch banale Gründe gehabt haben könnte. Deutschen sind ein gealtertes Volk. Keine Religion sagt ihm, mehr Kinder zu produzieren als sie es tun. Deutschland benötigt mehr Arbeiter. Es benötigt auch mehr Steuerzahler, so dass der Staat seinen alten Leuten großzügigere Renten zahlen kann.

Trotzdem würde kein normaler Politiker nach seinem (oder ihrem) Verstand so eine große Menge von menschlichem Elend herein lassen, und kein anderer Politiker in Europa tat dies. Um dies zu tun, braucht man einen sehr hohen Standard moralischer Überzeugung. Unter Politikern ist solch eine Art von hohem moralischem Standard nicht bekannt. Das ist tatsächlich sehr selten.

Wie die Deutschen sagen: Alle Achtung. Aller Respekt vor ihr.

Vor vielen Jahren las ich einen bemerkenswerten Satz an der Klagemauer in Köln. Nahe dem Eingang zum Kölner Dom, der großartigen Kathedrale von Köln, gab es eine große Plakatwand. Man wurde eingeladen seine Gedanken und Klagen auf ein Blatt Papier zu schreiben und anzuheften. Eine der Notizen lautete: „Wir wollten Arbeiter, fanden aber heraus, dass wir Menschen hereinholten.“

Dies geschieht jetzt in Deutschland wieder, als auch in anderen europäischen Ländern, die eine viel kleinere Anzahl herein ließen.

Deutschland hat keine Tradition von großen herrschenden Frauen, wie Elisabeth die erste von England, Maria Theresa von Österreich und Katharina die Große von Russland (die eine Deutsche war).

Angela Merkel, die Tochter eines christlichen Pastors, erscheint mir als mutige, moralische, hartnäckige Frau. Wenn ich einen Hut tragen würde – kein säkularer Israeli trägt einen – dann würde ich ihn abnehmen.

Aber dieses Zeichen der Anerkennung wird ausgeglichen durch meine Empörung, die ich für die Partei empfinde, die sie bei der Wahl in Mecklenburg-Vorpomern geschlagen hat.

Die AfD, die den zweiten Platz im Staat erreichte, ist genau die Art von Partei, die ich in jedem Land verabscheue: eine politisch weit rechts stehende, populistische und demagogische Partei.

Ich wurde in Deutschland geboren, heute vor 93 Jahren, als ein lächerlicher Demagoge einen Putsch in München zu machen versuchte. Er wurde von der Polizei und der Reichswehr niedergeschlagen. Die Leute, die Adolf Hitler folgten, waren damals dieselben wie die Mecklenburger und Vorpommerner, die jetzt politisch ganz rechts stehen.

Adolf Hitler kam schließlich an die Macht und begann einen Weltkrieg, der vielen Millionen das Leben kostete und Deutschland zerstörte (ganz abgesehen vom Holocaust). Ich war mir sicher, dass so etwas nie mehr in Deutschland geschehen kann. Überall sonst, sogar in Israel, aber nicht in Deutschland. Die Deutschen haben ihre Lektion gelernt. Niemals wieder.

Wie kann eine weit rechts stehende, rassistische, fremdenfeindliche Partei einen (wenn auch) bescheidenen Wahlsieg erringen? Selbst wenn man vermutet, dass Hitler und seine Nazis einzigartig waren, so ist dies ein sehr beunruhigendes Phänomen. Man muss keinen tief sitzenden jüdischen Komplex haben, um zu sehen, wie ein rotes Licht angeht? Ich gebe zu, verwundert zu sein und auch ein bisschen beunruhigt.

Ich habe das Hochkommen der Nazis während meiner Lebenszeit gesehen. Ich erwarte nicht, so etwas Ähnliches (selbst weit entfernt) während ich lebe, zu sehen.

Noch ist Angela Merkel an der Macht und sie scheint, entschieden ihren Sternen und ihrer Politik zu folgen.

Wie ich sagte, ich beneide ihr Volk.

Ich glaube nicht, dass jemand in der Welt Israel wegen Benjamin Netanjahu beneidet.

Tatsächlich könnte ich mir einen Politiker vorstellen, der genau das Gegenteil von Angela Merkel ist, dann würde es Benjamin Netanyahu sein.

Merkel ist eine moralische Heldin, Netanjahu ist ein moralischer Feigling.

Dies wurde in einer politischen Farce gezeigt, die Israel in den letzten paar Tagen erschüttert hat: der große Schabbat-Skandal der Bahn.

Israel ist offiziell ein „jüdischer und demokratischer Staat“. Nun nicht ganz jüdisch und nicht ganz demokratisch, doch das macht nichts.

Weil es ein jüdischer Staat ist, ist Israel das einzige Land auf der Welt, das an Schabbat – der von Sonnenuntergang am Freitag bis zum Erscheinen von drei Sternen am Samstagabend kein öffentliches Verkehrsmittel hat. (In Tel Aviv habe ich zu keiner Zeit seit meiner Kindheit Sterne gesehen.)

Warum? Zwischen den beiden Visionen der Zehn Gebote in der Bibel ist ein bemerkenswerter Unterschied.

In der ersten Version (Exodus 20) ist der Grund göttlich. „ Denn in sechs Tagen hat der Herr Himmel und Erde gemacht … und ruhte am 7. Tag.“

Aber in der 2. Version (Deuteronomium 5) ist der Grund rein sozial : „dass dein Sklave sich so ausruhen kann wie du. Und denke daran, als du Sklave im Land der Ägypter warst.“ (Im hebräischen Original steht „Sklave“, die Übersetzung sagt „Knecht“.

Die meisten von uns sind Atheisten und mögen den Schabbat auch – das Land ist ruhig, die meisten von uns können sich ausruhen und/oder sich amüsieren. Aber da gibt es noch den Rub, wie Hamlet, kein Jude, sagt. Wie kann eine arme Person, die keinen privaten Wagen hat, die Küste erreichen oder an den See Genezareth im Norden und an das Tote Meer im Osten, oder das Rote Meer weit im Süden kommen?

Er kann nicht. Er bleibt zu Hause und verflucht die Rabbiner.

Die Rabbiner sind in der Regierungskoalition. Die politisch Rechte hat ohne sie nicht genug Stimmen. Noch hat die Linke genug Stimmen. Also müssen sie bestechen. Deshalb gibt es kein Transportmittel. Das Abkommen gründet sich auf etwas, das sich Status Quo nennt, nicht im biblischen Hebräisch, sondern auf Lateinisch. Es bedeutet: „Der Staat, der“, abgekürzt für den Staat, der vorher (vor dem Krieg existierte).“ In unserm Fall: die Situation, wie sie angeblich vor der Gründung Israels bestand.

Das Gesetz sagt, dass Juden am Schabbat nicht arbeiten sollen, erlaubt aber dem Minister für Arbeit gewissen Jobs auszunehmen, falls sie absolut notwendig für eine moderne Gesellschaft sind – Wasser, Strom, Reparaturen, an Eisenbahnen und Ähnliches zählen dazu. Die orthodoxen Parteien sind für einen vernünftigen Preis (Geld für ihre Schulen, in denen nichts als heilige Texte gelehrt werden) damit einverstanden.

Plötzlich geschah etwas Schreckliches. Es scheint, dass die ganze Zeit die Staatsbahn-Behörden an Schabbat wichtige Reparaturen durchführten. Die Rabbiner drohten damit, die Regierung zu stürzen. So gab Netanjahu am Freitag letzter Woche 10 Minuten vor Schabbat-Beginn nach und befahl , dass alle Arbeit an der Bahn sofort gestoppt werden.

Das verursachte Chaos. Der Verkehr wurde am Sonntag auch angehalten, um für notwendige Reparaturen an einem Werktag zu erlauben. Tohuwabohu.

Es muss bemerkt werden, dass die Eisenbahn in Israel keine große Rolle spielt.

Öffentlicher Transport wird hauptsächlich von Bussen ausgeführt. Die erste Eisenbahn wurde von den Türken gebaut, um die Pilgerfahrt nach Mekka zu erleichtern. Die Briten fügten währen des 2. Weltkrieges noch einiges hinzu, um ihre Truppen leichter nach Ägypten zu transportieren.

Die Linie von Haifa nach Damaskus wurde ein Ziel für viele Scherze. Eine Dame ruft dem Lokomotivführer zu: „Eine Kuh folgt uns!“, auf dass der Mann ruhig erwidert: „ Machen Sie sich keine Sorgen. Sie wird uns nicht überholen.“

Jetzt haben wir einen neuen Verkehrsminister, voller Ehrgeiz, der den Bahn-Dienst modernisieren möchte. Er deutet auch an, dass er schließlich wünscht, Netanjahu zu folgen. Netanjahu liebt solche Leute nicht, die ihm folgen wollen – nicht jetzt, nicht in entfernter Zukunft, niemals. Also nahm er diese Gelegenheit wahr, um den Minister zu sabotieren.

Die Krise erreichte das Oberste Gericht, das entschied, dass der Ministerpräsident keinen Kompetenzbereich hat, um die Bahn still zu legen. Nur der Arbeitsminister hat das Recht Genehmigungen für Schabbat-Arbeit auszustellen oder diese zu streichen. So konnte Netanjahu einen tiefen Atemzug nehmen – es ist nicht mehr seine Verantwortung. Lass die Minister für Transport und Arbeit unter einander streiten. Je mehr – desto besser.

Während dieser Woche folgte jeder dem Drama – werden die Bahnreparationen an Schabbat wieder aufgenommen oder nicht. Werden die armen Soldaten, denen erlaubt war, am Schabbat zu Hause zu bleiben, werden sie die Bahn benützen, um am Sonntag zurück zu ihrer Basis zu kommen?

Komisch, als ich Soldat war, war ich nie in Eile, um zu meinem Lager zu gelangen.

Es mag nun sein, wie es ist, Netanjahu hat noch einmal gezeigt, wie ein opportunistischer Politiker ohne viel Rückgrat, sich leicht dem Druck bei geringen Problemen beugt, um sich überhaupt nicht mit großen Problemen abzugeben.

Leider. Er ist keine Angela Merkel.

Anmerkung:

Vorstehender Beitrag von Uri Avnery wurde ins Deutsche von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Unter www.uri-avnery.de erfolgte im September 2016 die Erstveröffentlichung. Alle Rechte beim Autor.

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