Der Gefangene – Unerbittlich: Florian Schewes Drama „Lebendkontrolle“ bei Berlinale Perspektive Deutsches Kino

„Lebendkontrolle“ ist hart, oft unausgeglichen, manchmal fast überzogen. Dennoch wohnt seinen intensiven Szenen und der rauen Ästhetik emotionale Kraft inne. Schewes Werk ist brutal wie dessen Hauptfigur Mark. Gerdy Zint, der mit seinem authentischen Spiel bereits in Christian Klandts Drama „Weltstadt“ überzeugte, spielt den Sträfling, der für eine Gewalttat eine mehrjährige Haftstrafe absitzen muss. Dass es ein Gewaltverbrechen war, wird nie direkt gesagt. Aber man spürt es an der unbändigen Wut, welche in Mark kocht. Beinah scheint er zu lauern, zu warten auf einen Grund zum Zuschlagen. Doch jetzt will er es ruhig angehen. Seine Freundin Jessica besucht ihn noch immer. Vielleicht kann da etwas sein, wenn Mark entlassen wird. Er bekommt Ausgang. Jessica besuchen, was sonst. Und alles geht schief. Marks Zellengefährte Boxer bittet ihn, seiner Tochter einen Geldbetrag zu bringen. Boxer war einmal Boxer und ist noch brutaler als Mark. In der Enge der Zelle fällt sein gewichtiger Schatten auf Mark, wie eine düstere Ahnung davon, was Mark eines Tages sein könnte. Mark stimmt Boxers Bitte zu, holt von dessen altem Bekannten den Geldbetrag und geht zur Wohnung von Boxers Tochter. Und alles geht schief.

Schewes Kurzfilm trifft wie ein Faustschlag. Unangenehm, brutal, direkt. Es gibt keine positiven Figuren, an denen man sich festhalten könnte. Boxer ist kein väterlicher Freund und sicher kein guter Vater, auch wenn er sich das Bild seiner Tochter tätowieren lässt. Sei es jene Tochter, Mark oder Jessica – niemand scheint in „Lebendkontrolle“ zu tieferen Gefühlen fähig. Mark ist gewalttätig, fast inhuman und gleichzeitig umgeben von einer ebenso gewalttätigen, verrohten Welt. Die emotionale Verwahrlosung des Einzelnen und dessen Umfeldes bedingen einander. Die hohe Qualität von „Lebendkontrolle“ erkennt man schwer auf den ersten Blick. Es ist ein irritierender Film, denn das Mitgefühl, welches man für den Hauptcharakter bereit hält, wird von der Filmfigur erstickt. Mark verdient kein Mitleid, auch wenn die Verzweiflung, welche ihn schliesslich fast übermannt, echt ist. Gefühle für andere kennt er nicht. Boxer tut er keinen gefallen, sondern zeigt ihm die Loyalität eines Mithäftlings. Auch Jessica ist für ihn nur ein Objekt. Obwohl ein Groswsteil der Handlung sich ausserhalb der Gefängnismauern abspielt, ist „Lebendkontrolle“ ein Gefängnisfilm. Marks eigentliches Gefängnis ist seine Wut. Den Zerstörungsdrang gegen alles um ihn herum wird er auch in Freiheit weiter verspüren, vielleicht sogar heftiger als zuvor.

„Lebendkontrolle“ ist der Knastbegriff für einen Kontrollgang der Vollzugbeamten zur Überprüfung der physischen Unversehrtheit der Häftlinge. Marks körperliche Verletzungen werden heilen. Seelisch ist er zerstört. Seine Erlebnisse während des Ausgangs haben ihn jeden halt genommen. Ein endgültiger Beweis dafür, dass Mark dem Leben draußen nicht gewachsen ist. Wahrscheinlich war er es niemals. Nicht, weil er zu weich ist, sondern zu hart. Es ist nicht angenehm, dieser Härte zuzusehen, aber lohnenswert.

Titel: Lebendkontrolle

Berlinale Perspektive Deutsches Kino

Land/Jahr: Deutschland 2009

Genre: Drama

Regie: Florian Schewe

Drehbuch: Florian Schewe, David Möhring

Darsteller: Gerdy Zint, Eddy Kante, Rosalie Thomass, Franziska Jünger

Laufzeit: 30 Minuten

Bewertung: ***

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