Der Film von Petra Seeger über das geflohene Judenkind aus Wien, den Nobelpreisträger Eric Kandel – Serie: Eric Kandel “Auf der Suche nach dem Gedächtnis” (Teil 1/3)

Eric Kandel in "Auf der Suche nach dem Gedächtnis".

Nicht kühle Fakten, sondern menschliche Wärme stehen im Zentrum des bewegenden Persönlichkeitsprofils, das nicht nur dem Privaten gilt, sondern den Hirn- und Lernforschungen in den Labors mit den Mitarbeitern. Für die anrührende Dokumentation kehrt der in Wien aufgewachsene Jude Kandel an die Orte zurück, welche Teil seiner Erinnerung sind. Wie im Buch beginnt auch im Film das Erinnern mit dem blauen ferngesteuerten Spielzeugauto, das er gerade von seinen Eltern zum neunten Geburtstag am 7. November 1938 geschenkt bekam Zwei Tage darauf wurde der Vater von den in Österreich nach dem Anschluß herrschenden Nazis verhaftet und die Familie aus ihrer Wohnung ausquartiert. Als sie Tage später zurückkehren dürfen, waren alle Wertsachen gestohlen, selbst das kleine Spielzeugauto. Andere wichtige Dinge aus der damaligen Zeit hat Kandel, der so lebhaft und rege berichtet und erklärt, über die Jahrzehnte vergessen. An das Auto erinnert er sich. Es sind Rätsel wie diese scheinbar irrationale Selektion von Erinnerungen, welche ihn zur Erforschung des Gedächtnisses anregten. 1939 kann Kandel mit seiner Familie in die USA flüchten. Portionsweise. Erst dürfen die Großeltern ausreisen, dann Eric mit seinem Bruder, dann die Eltern. Und das auch nur, weil Familienangehörige in den USA für sie bürgen und zahlen.

Als einer aus Tausenden von Bewerbern wird ihm ein Stipendium für die Harvard Universität bewilligt. Anders als die Mehrheit seiner Zeitgenossen beschäftigte er sich nicht mit den psychologischen und psychoanalytischen, sondern mit den biologischen Aspekten des Gedächtnisses. Dazu setzt er an den Nervenbahnen in den Gehirnregionen an, die für das Gedächtnis zuständig sind. Aber diese Orte muß man auch erst erforschen. Und dann fällt er die folgenschwere Entscheidung, nicht an den komplexen Hirnen von Tieren das Lernen und damit das Erinnern zu suchen, sondern nahm sich die Aplysia californica vor. Das ist eine Meeresschnecke, deren Nervenzellen breit und gut untersuchbar sind und die ihm entscheidende Erkenntnisse über synaptische Verbindungen zwischen Neuronen ermöglichten. Damals passiert alles gleichzeitig, weil das Gehirn Mittelpunkt der Forschungen der Welt wird. Für seine bahnbrechenden neurologischen Entdeckungen wurde ihm im Jahr 2000 der Medizin-Nobelpreis verliehen. Begleitet von der Kamera reist Kandel “Auf der Suche nach dem Gedächtnis“ nach Wien. Diese Suche ist im Film eine Suche, nicht nach der verlorenen, sondern der erlebten Zeit. Hier nimmt man an Kandels persönlichen Erinnerungen teil, lauscht den Anekdoten seines Lebens und der Einflußnahme des Erlebten auf seine Forschungslaufbahn. Doch vor der wissenschaftlichen Erkenntnis steht die der Menschlichkeit: Gefühle, ohne welche Erinnern und Gedenken bedeutungslos werden.

“Auf der Suche nach dem Gedächtnis” ist eine Zeitreise in die Vergangenheit Eric Kandels, dessen Kindheit in Wien und Jugendjahre in den USA wieder auferstehen und in der er gleichzeitig als der Besichtiger seines eigenen Lebens erscheint. Petra Seeler löst das Einspielen der Vergangenheit auf die Leinwand in einer üblichen Manier, indem sie in Schwarz-Weiß oder Sepia Kandels Erinnerungen nachspielen läßt. Eine von uns, den beiden schreibenden Kolleginnen, meinte, dieses Element sei nicht nötig, Eric Kandels Erzählungen, seine Blicke und Gesten seien beredter als die steifen Spielszenen. Die Sprache des Wissenschaftlers sei so frisch und lebhaft, das die nachgestellten Szenen eher als störende Unterbrechung des Erinnerungsflusses wirken. Gleichzeitig verhinderten sie das Bilden einer eigenen Vorstellung dieser erinnerten Vergangenheit durch den Zuschauer.

Die andere Kollegin legte Wert auf diese Szenen, weil Bilder von einem Ereignis immer eindrücklicher sind als die Worte über eine Erinnerung. Zudem muß man im Jahr 2009 einfach darauf hinweisen, daß die Realität für ein kleines jüdisches Kind im Wien von 1938 keine ist, die bundesdeutsche Bürger und erst recht nicht Amerikaner allein durch Worte nachempfinden können. Zu wenig ist das kulturelle Gedächtnis der Deutschen und Österreicher mit diesen Bildern gefüllt. Was heißt es, wenn zwei Buben am Wiener Westbahnhof über Paris in die weite Welt geschickt werden und die Eltern zurückbleiben. Allein das sind Bilder, deren psychische Dimension beim Betrachten der Abschiedsszene eine andere Tiefe gewinnen, als es die erinnernden Worte können.

Den Unterschied zwischen Erzählen von Erinnerung und der Erinnerung mittels Bilder, kann man gut an den Eingangszenen des Films mit der Suche nach der Erinnerung seiner in Frankreich versteckten Frau Denise erkennen. Das ist zwar lustig anzuschauen, wie das damals von katholischen Schwestern versteckte kleine Judenmädchen als Erwachsene unter den Augen ihrer Familie – und der Kamera – recht orientierungslos den Tunnel sucht, der damals ihr Versteck war. Denn nicht nur die Erinnerung an den konkreten Ort kann täuschen, sondern auch die Tatsache, daß Gebäude abgerissen, neue erstellt, diese Erinnerung nicht mehr in Übereinstimmung mit heutiger Realität sein lassen. Der Filmemacherin Seeger ist auch gelungen, die Partnerschaft der beiden Kandels – Szenen dieser Ehe – in ihrer Qualität und Quantität uns vor Augen zu führen und damit auch, wie sehr ein gemeinsames Schicksal, das man gemeinsam nicht vergißt, aneinanderschmiedet. Dazu gehört auch das Judentum, das für Kandel nicht als Glauben definiert wird, sondern als seine traditionelle Kultur.

Die Kette der Erinnerungen, die man zuläßt, ist eine der faszinierendsten Gegebenheiten des Gedächtnisses. Sie ist eine der Komponenten, aus denen wächst, was kollektives Gedächtnis genannt wird, ein Bewusstsein für die Vergangenheit, das Überlieferte und Memorierte. In einer anrührenden Szene überwältig diese kollektive Erinnerung Kandel. Beim Besuch einer Synagoge zitiert er eine paar jiddische Sätze aus seiner Jugend, betrachtet die Räume und dann spricht er darüber, warum er weinen musste. Man sieht diesen Gefühlsausbruch nicht. Die Kamera lässt Kandel den intimen Augenblick für sich behalten. Manches muss in der persönlichen Erinnerung bewahrt werden, nicht in der einer Zuschauermenge. Er sei nicht traurig, sagt Kandel, nur bewegt. Augenblicke wie dieser vermitteln die Bedeutung der Erinnerung. Hier bewahrheitet sich die Aussage des Wissenschaftlers: “Wir sind wer wir sind, aufgrund dessen, was wir lernen und woran wir uns erinnern.” Darin ruht die Erkenntnis des Wertes selbst schmerzvoller Erinnerung. Sie können sich auch mit angenehmen Erinnerungen vermischen, etwa im Gedenken an einen Verstorbenen.

Viel lernt man nicht über die neurologischen Prozesse des Gedächtnisses, die immerhin ein Drittel des Films ausmachen Das heißt, man könnte es lernen, denn Eric Kandel erläutert in leicht verständlichen Worten die wesentlichen biologische Vorgänge für das Gedächtnis im Gehirn. Nur erinnert man sich kaum daran. Ganz versunken ist man in die Berichte und den Charme des Protagonisten. Der wissenschaftliche Hintergrund verblasst angesichts des interessanten Menschen, welchen man kennenlernt. Die Erinnerung verschönt das Leben, das Vergessen jedoch macht es erst erträglich. Honore de Balzacs Worte widersprechen nicht den Erkenntnissen des Wissenschaftlers, sondern fügen sich in das umfassende Konstrukt des Bewusstseins. In einem unendlichen Nebeneinander verliert das Einzelne seine Bedeutung. Die Kostbarkeit des Erlebten bestimmt nicht dessen Einfluss auf die Biografie, sondern die ihm beigemessenen Gefühle. Sie machen Assoziationen möglich und die Kette der Erinnerungen abrufbar.

Petra Seegers dokumentarische Leistung “Auf der Suche nach dem Gedächtnis“, ist die Erinnerung an Eric Kandel. Zu ihr wird das einfühlsame Werk neben seinen Forschungserrungenschaften beitragen. Im Mittelpunkt des Films steht das Individuum. Und als solches, geistreich, intelligent und nachdenklich, behält man Eric Kandel im Gedächtnis. Seine “Suche nach dem Gedächtnis” ist noch nicht beendet. Ihn ein Stück des Weges zu begleiten, ist ein unvergessliches Filmerlebnis.

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Titel: Auf der Such nach dem Gedächtnis

Genre: Dokumentation

Land/Jahr: Deutschland 2008

Kinostart: 25. Juni 2009

Regie und Drehbuch: Petra Seeger

Kamera: Robert Winkler

Verleih: W-Film

Laufzeit: Laufzeit: 94 Minuten

FSK: Ohne Altersbeschränkung

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