Das Ikaros-Syndrom – Höhenflug und Absturz des Märchenprinzen und Hoffnungsträgers Baron Karl-Theodor zu Guttenberg

Beides, da das simple "Entweder-Oder" beziehungsweise der Dualismus in der Gesellschaft und vor allem den Medien weit verbreitet ist, weniger eine komplexe und integrative Weltsicht. Im Lichte und nach den offiziellen Regeln der Wissenschaft ist er ein Betrüger, nach dem Grad der Verbreitung von Lügen, Betrug, Blendertum, Scheinheiligkeit, Korruption und Doppelmoral ist er ein Bauernopfer oder ein Märtyrer, der seinen Kopf für viele andere hinhalten muss. Gerade im Spitzenbereich in allen Teilen der Gesellschaft sind diese Verhaltensweisen weit verbreitet, da es dort um Erfolg, Status, aus dem Gewöhnlichen hervorzutreten und dies zu übertreffen, geht. Insofern ist zu Guttenberg kein Einzelfall. In dieser Welt werden vielfach der tolle Eindruck, das Image und das glanzvolle Äußere mit dem Inneren gleichgesetzt. An seiner prominenten Person sollen die ehernen Regeln und Normen der Wissenschaft und die Glaubwürdigkeit, die oft so wenig bestehen, wiederhergestellt werden. Abschreiben schon in der Schule und Plagiate finden sich überall. Dadurch werden sich Vorteile erhofft und oft genug errungen. Der Doktor- und Professorentitel kann auch zu dem äußeren Status und Schein gehören.

Im griechischen Mythos fliehen Dädalos und Ikaros aus dem kretischen Gefängnis, und der Sohn Ikaros schwingt sich gegen die Anweisungen seines Vaters im Übermut bis zur Sonne hoch, sein Wachs schmilzt, und er stürzt ab. Ein Sprichwort heisst:"Übermut tut selten gut". Das temperaturempfindliche Wachs bildet den Zusammenhalt seiner Schwingen, und somit ist das Emporschwingen in der Gesellschaft mit dem Absturz gefährdet. In der Überschrift habe ich nicht Ikarosflug, sondern bewusst Ikaros-Syndrom gewählt, da dies Verhalten nicht nur im alten Griechenland, sondern aktuell weit verbreitet ist und als Syndrom vielfältig bedingt ist. Nach dem Peter-Prinzip steigt jeder in der Hierarchie soweit auf, bis er seine Unfähigkeit beweist.

Wieso mag KT als Quereinsteiger in die Politik sich so nahtlos empor geschwungen haben, dass er abstürzen musste? Ein Mensch ist nicht ohne seinen biografischen Hintergrund zu sehen. In der Familie zu Guttenberg gab es offenbar einige Brüche, bei den Vorfahren die Opposition des Sohnes gegen den Vater, die Flucht der Mutter, und so ist zu vermuten, dass der Sohn die Ehre der Familie nach außen darstellen und wieder aufrichten musste. Dieser Familientagauftrag ist eine Art Gefängnis. Andererseits hat KT anscheinend aus dieser Familie vor allem von seinem Vater, dem Dirigenten, seine Eigenschaften übernommen und geerbt, die in einer verunsicherten Gesellschaft erstrebenswerte Tugenden darstellen: Elitebewusstsein, laute Töne, ein äußeres Auftreten der Entschlossenheit, Geradlinigkeit, Entscheidungsfreudigkeit und militärische Schneidigkeit. Deswegen erschien er als Verteidigungsminister ideal. Sein Habitus wurde zwar vielfach als Blendung oder Attitüde wahrgenommen, aber bei einem Großteil der Gesellschaft kam das gut an. Er schien alles zu haben, was ein Held braucht: Charisma, Verführungskraft, adeligen Stammbaum, Vermögen, eine schöne Frau und ein großes Amt.

Wie sehr der Schein in der Gesellschaft verbreitet ist, zeigt die Tatsache, dass viele sich beim Kauf von Luxusautos in Schulden stürzen, um ihren Status und Erfolg zu zeigen. Aber nicht nur bei uns, vor über 10 Jahren hatte ich einen Patienten, der mit einer Thailänderin verheiratet war. Diese hatte aus erster Ehe eine Tochter, die in einem Geldverleih arbeitete. Diese erzählte, dass in Thailand die Geldverleihe wie Pilze aus dem Boden sprießen, weil alle sich mit Gold behängen. Geld auf der Bank könne man ja nicht sehen. Bald darauf krachte die Wirtschaft in Südostasien zusammen – vielleicht deswegen, weil alle über ihre Verhältnisse lebten. Schein und Gold sind halt ein schlechtes Wachs für das Gegenteil. Im deutschen Märchen "Des Kaisers neue Kleider" entdeckt nur ein unvoreingenommenes Kind, dass der Kaiser nackt ist.

In der Realität ist Politik oft ein mühsames Geschäft. Es gilt, zwischen verschiedenen gegensätzlichen und widersprüchlichen Interessensgruppen zu vermitteln und einen Konsens zu finden, wobei oft mit harten Bandagen gekämpft wird. Entscheidungen benötigen Zeiträume und Abwägen der verschiedenen Gesichtspunkte. Stillstände und Rückschritte gehören dazu, und die Zukunft ist oft unabwägbar. Entscheidungen können sich als ungünstig herausstellen und werden dann von weiten Teilen der Bevölkerung als falsch hingestellt. Dabei wird oft das Ergebnis der Entscheidung als Maßstab genommen, das man vorher ja noch nicht wissen konnte, und nicht der Zeitpunkt, wo jemand unter einer Vielzahl von Gesichtspunkten nach bestem Wissen entschied. Diese Tatsachen werden von vielen aber nicht akzeptiert, sie erhoffen sich Klarheit und Eindeutigkeit und zwar für alle Zukunft. Dafür werden die Politiker gewählt. Eine Illusion wird gewählt, die viele Politiker in ihren Wahlversprechen zu vermitteln versuchen. Das konnte Baron zu Guttenberg besonders gut. Nach dem Peters-Prinzip wäre er bei der Bundeswehrreform wohl überfordert gewesen, hätte zu viel Gegenwind gespürt, und einem kurz entschlossenen Menschen hätte wohl der lange Atem gefehlt.

Offenbar hatte er eine schwierige Kindheit, deren Folge eine narzisstische Persönlichkeit sein kann. Dem Narzissten kann es gelingen, bei einem Kern der inneren Verletzung oder Traumatisierung als der Blender aufzutreten. Im Spiegel der Umwelt sucht er sein verwundetes Selbst zu korrigieren. KT’s Lebenslauf war schon geschönt, fortgesetzt in einem Doktortitel und in einer politischen Shootingstar-Karriere. Dies war aber nur möglich, weil sein Auftreten wie in einer Schloss-Schlüssel-Situation auf passende gesellschaftliche Mechanismen traf. Die FAZ-Autoren Eckhart Lohse und Markus Wehner haben ein Buch zum Phänomen zu Guttenberg geschrieben, dass manches verstehen lässt, ohne dass sie vorher die Realisierung in der Zukunft kannten.

Möglicherweise war der letzte Anlass zu seinem plötzlichen Rücktritt eine Unterschriftensammlung und die Empörung von meist jungen Akademikern, die nach wissenschaftlichen Kriterien in mühsamer, ehrlicher Kleinarbeit ihren Doktortitel erarbeiten. Nach dieser demütigenden Bloßstellung ihrer mühsamen Arbeit gilt es für sie, die Ehre der Wissenschaft, die Echtheit des Doktortitels und die symbolische Ordnung wiederherzustellen. An den Universitäten sind meist ein autoritäres Klima und eine strenge Hierarchie üblich. Der Student und wissenschaftliche Mitarbeiter muss sich an die Vorgaben halten und die Arbeit für den Professor machen, der sich dann oft mit den Erfolgen schmückt. Wer empor gestiegen ist, nutzt später seine Studenten nach diesen Regeln aus. In diesem Kontext ist ein Unterlaufen der Normen nahe liegend.

In meinen Augen ist bei einer rigiden normativen Moral der einzige Ausweg von Freiheit und Selbstbestimmung die Doppelmoral. Gleichzeitig bleibt in ihr die Moral erhalten. Sie findet sich in allen gesellschaftlichen Bereichen, ob in Politik, Wirtschaft, Ehepaarsituation, deswegen das Rotlichtmilieu, Sport oder in der Religion. Die Doppelmoral in der Kirche und an Eliteschulen beim sexuellen Missbrauch beherrschte kürzlich die Schlagzeilen. An den Universitäten ist es nicht anders. Der Professoren- und der Doktortitel haben hohes gesellschaftliches Ansehen, teilweise als bare Münze ausgezahlt, so dass für manche jedes Mittel recht ist. Die Doppelmoral hat in einer Art Subkultur ebenso normativen Charakter, so dass es für viele völlig üblich und normal erscheint, Ideenklau ohne Kennzeichnung zu betreiben oder für Spitzensportler zu dopen. Deswegen hat sich KT auch wohl nicht viel dabei gedacht, den Großteil seiner Doktorarbeit abzuschreiben oder sogar einen Ghostwriter zu beauftragen. Sein Vertrauen in den Ghostwriter war anscheinend so groß oder seine Zeit zu gering, dass er diesen nicht mal überprüfte, ebenso das Vertrauen seines Doktorvaters, der Prüfungskommission und der Universität in das Aushängeschild und indirekten Sponsors, auf dem Wege über die Rhön AG, für die Universität. Durch diesen Status war er unantastbar, konnte auch nicht damit rechnen aufzufallen, hatte aber das Pech, dass ihm ein Jurist zufällig auf die Schliche kam, die Sache publik machte und die Affäre ins Rollen brachte. Das wenig widerstandsfähige Wachs seiner Flügel, das einer vermutlich narzisstischen Persönlichkeit, schmolz in der Hitze des Gefechtes.

Zurück zur Schloss-Schlüssel-Situation. Ich führe zuerst das Schloss an, da der Schlüssel nur hinein gesteckt werden muss. Da die meisten Politiker nicht so grandios erscheinen und ihre Politik für viele nicht das Gelbe vom Ei ist, viele in der Bevölkerung in einer als schwierig empfundenen Situation leben, warten sie auf einen Hoffnungsträger und Erlöser. Den Erlösungswunsch schien KT zu erfüllen. In deutschen Märchen ist es der Märchenprinz. Im christlichen Mythos, für viele eine Religion und Grundlage unserer christlichen Kultur, ist dieser Sachverhalt in der Erlösung durch Jesus Christus aus dem irdischen Jammertal beschrieben. Als Mensch, der von sich behauptet „ich bin der Weg und die Wahrheit", wurde Jesus gekreuzigt, als Rechthaber im Widerspruch zu anderen Rechthabern, in den Augen mancher zu recht, da der Absolutismus und Totalitarismus viel Unglück über die Welt bringt – deswegen ja die Demokratie, die Herrschaft und der Konsens der Vielfalt.

Als irdisches Jammertal kann man sich die Zunahme von Angstkrankheiten, Depressionen, psychosomatischen Erkrankungen und chronischen Erkrankungen vorstellen, denen die Medizin ziemlich machtlos gegenübersteht. Angst erfordert Sicherheit und Entschlossenheit, und die Sicherheit schien KT zu verkörpern. Da die Sicherheit in den Unwägbarkeiten des Lebens nur eine Illusion ist, muss sie enttäuscht werden. Und diese Enttäuschung macht sich an einer kleinen Stelle fest, die an sich im Rahmen der großen Politik unerheblich ist, wie im Mythos bei Jung-Siegfried und Achill. Aber ein Mensch ist in verschiedenen Bereichen wie in Politik und Wissenschaft derselbe Mensch und wird deswegen insgesamt unglaubwürdig, ähnlich wie Siegfried und Achill nicht unverletzlich sein können. Deswegen ist die Aussage von Angela Merkel, sie habe einen Politiker und nicht einen Wissenschaftler angestellt, ziemlich daneben und diente wohl mehr der Erhaltung ihres Politikstars und der Wählerstimmen.

Anhand von KT sieht sich die Wissenschaft in ihren Fälschungen ertappt. Nicht nur in der Wissenschaft wird gelogen, betrogen, korrumpiert, herrscht Doppelmoral, was an einer einzelnen Person, gerade weil er ein Hoffnungsträger bei der Flucht aus dem Gefängnis war, festgemacht und an ihm bestraft wird. Insofern ist er ein Bauernopfer und Märtyrer. An ihm soll die Ehre, die Wissenschaftsgläubigkeit und der Höhenflug der Wissenschaft, einem anderen Hoffnungsträger, mit Ehre und Titeln verbunden, wiederhergestellt werden. Symbolisch wird die nicht vorhandene Ordnung erneuert, damit alle so weitermachen können wie bisher. Schließlich beinhaltet die strenge Moral auch die Doppelmoral. Der Glaube an die Wissenschaft und das Image sollen erhalten bleiben. Andererseits und deswegen herrscht eine Wissenschaftsfeindlichkeit, vor allem bei Menschen, die bei ihrem hohen Glauben an die Wissenschaft enttäuscht wurden und denen diese wenig helfen konnte, ähnlich wie wenn sie von Gott enttäuscht wurden.

In all diesen Erwartungen und Hoffnungen ist ein einzelner Mensch überfordert und überfrachtet. Auch müssen sie nicht seine eigenen Lebensziele sein, sondern er übernimmt fremdes, verliert dadurch sich selbst und seinen eigenen Lebensweg. Bei einer gelungenen Kindheit trägt die Übernahme anderer und die Identifizierung mit diesen zu einer selbstakzeptierten Persönlichkeit bei, die Verfälschungen gar nicht nötig hat.. Seine Tragik ist zusätzlich, dass KT durch Erfolg, Ruhm und Ehre noch in diesem Lebensweg, einem falschen Weg und falschen Selbst, gefördert wird. Ein Narzisst erscheint durch dieses falsche Selbst unglaubwürdig. Er ist ja nicht echt, ist nicht sein eigene Herr, sondern sich selbst fremd. Diese Weichen wurden schon in der Kindheit gestellt, einem Schicksal, das er mit vielen Menschen teilt. Deswegen werden diese ungeliebten und gehassten Selbstanteile von diesen vielen Menschen auf ihn projiziert und an ihm bekämpft. Er ist Hoffnungsträger und Sündenbock zugleich und die Nation an seiner Person gespalten.

Ich möchte nicht in seiner Haut stecken. KT bemühte sich in seinem Lebensweg, alle hoch gestochenen, elitären Erwartungen zu erfüllen, und was ist der Dank? Ähnlich ergeht es vielen Kranken, deswegen sind sie erkrankt. Alle schlagen auf ihn ein bis auf die, die ihn weiter aus politischen oder inneren persönlichen Gründen als Hoffnungsträger benötigen. Unterstellen möchte ich Jesus Christus, dass er unter diesen Lebensbedingungen keine Lust mehr hatte weiterzuleben und an seinem Tod mitwirkte. KT wird auch keine Lust mehr haben, bei soviel Gegenwind weiterzumachen und ist zurückgetreten. Manch Depressiver, der versucht, alle Erwartungen zu erfüllen, wählt den Selbstmord und erhofft sich dadurch ein neues Glück, die Wiederauferstehung. Na ja, nicht jeder Leser wird diese tiefenpsychologischen Erkenntnisse, es sind ja nur Auszüge und meine Perspektiven, verstehen und teilen. Man mag weiter nach dem Äußeren urteilen, dieses für den Kern und das Innere halten und auf den Erlöser warten.

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