Das große Fressen – Überleben auf der 75. Internationale Grüne Woche in Berlin

 

Die Förderung des Verkaufs von Agrarprodukten und die Eindämmung des einst damit betriebenen „wilden Handels“ sind die ursprüngliche Zielsetzung der Messe. Zumindest die „Verkaufsförderung“ auf der Messe hat geklappt. Aber den wilden Handel eindämmen? Der wilde Handel floriert auf der Grünen Woche. Wo die Wilden Händler wohnen (Ob sie es nach einem strapaziösen Woche-Wochentag oder noch besucherreicherem Woche-Wochenende nach Hause oder ins Hotel schaffen oder in der finnischen Trockensauna nächtigen?). „So lecker kriegen sie das sonst nie!“ So teuer auch nicht. „Wie das schmeckt!“ Den anderen, ich komme leider nicht zum Verkaufsstand durch. „Einen Kräuterlikör gefällig?“ Lieber zwei und kippen Sie die ruhig in den 1976er Riesling. Nach der ungarischen Paprika-Salami schmecke ich nichts mehr. Fuchsteufelswild wird so mancher Standbetreiber, wenn man das Wort „Probiertablett“ wörtlich nimmt und tatsächlich nur probiert, ohne zu kaufen. Belegen Sie vor Messebesuch einen Tanzkurs, um jedes Ausweichmanöver der Hostess mit dem Kostproben-Tablett geschickt zu parieren. Das Holländer-Edamer-Häppchen haben Sie sich verdient! Immerhin hat die Charlottenburger Witwe Ihnen schon das kostenlose Schwarzwälder-Schinken-Röllchen weggeschnappt. Wilder als die Händler sind die Besucher. Die Grüne Woche, an welche sich die Autorin besonders gut erinnert, liegt schon länger zurück. Damals war die kleine Schwester noch Grundschülerin. Selbstverständlich wurde ihr ermäßigter Eintritt von happigen 7 Euro bezahlt. Dennoch ein Tipp: instruieren sie Kinder an der Kasse sechs Finger hoch zuhalten (wirkt so kindlich-unschuldig), um sie umsonst rein zu schmuggeln. Fragen sie Gruppen, ob sie noch Aufstockung brauchen, da es die Gruppen-Karte erst ab 20 Personen gibt. Bitten Sie den attraktiven Kerl mit dem Kind, ihren Gatten zu spielen (Familienkarte!). Sonst müssen Sie 12 Euro Eintritt berappen. Hilft alles nichts, begnügen Sie sich mit der ab 14.00 Uhr gültigen „Happy-Hour-Karte“. Zur regulären Schlusszeit um 18.00 werden sie dennoch dankbar sein, heimgehen zu dürfen. Es sei denn, Sie kommen am langen Freitag oder am Wochenende. Dann müssen Sie zwei Stunden länger durchhalten.

Nur der erste Tag ist weiterhin ausschließlich Fachbesuchern vorbehalten. Begann die Grüne Woche als Fachmesse, auf der professionelle Landwirte Vieh und Feldfrucht inspizierte, gleicht sie mittlerweile mehr einer gewaltigen Fressmeile. Wie die Raupe Nimmersatt mampft sich ein Besucherstrom entlang der Verkaufsstände, gesäumt von Meter langen Butterkuchen und überdacht von Knackwürsten. Auf der einen Seite gähnt das bodenlose Saure-Gurken-Fass, auf der andern schnappen die Scheren des fangfrischen Hummers. Puterrot und kampflustig ist er vielen Messebesuchern nicht unähnlich. Wie sie wird er früher oder später kochen – in Wasser, nicht vor Wut ob der gierig drängelnden Menge (nur weil ich das Linzer-Schnittchen-Tablett geplündert habe, zähle ich noch lange nicht dazu!). Wollen Sie überleben, nehmen sie ein Kind mit. Andere werden Ihre vermeintliche Fürsorge bewundern. Überlassen Sie ihm die Führung. Es kann ungeschoren wie die Schäfchen in der Tierhalle auf Stühle klettern oder durch Beine wuseln, so dass Sie sich nicht verirren. Die scheußlichen Deko-Holzfässer, Plastikweinblätter und Holländischen Miniaturwindräder, die ihnen den Weg versperren, sind für das Kind ein abenteuerlicher Hindernis-Parcours. Räumt es die Probierhäppchen ab („Lina, deine Schwester/ Tante/ der Papa hätte so gerne…“), rufen Sie, wie süß das sei und betonen Sie die Wichtigkeit gesunder Ernährung, gerade für die Jüngsten. Und ist „Ernährungssicherung“ 2010 nicht eines der übergreifenden Themen der Internationalen Grünen Woche? Der/ die Kleine hat das eben verinnerlicht. Das Kind heult,weil es überfordert, gestresst, überdreht ist? Sie auch, aus den gleichen Gründen? In die Tierhallen! Erlebnis-Bauernhof Halle 3.2, Heimtiere Halle 1.2 oder die Tierhalle Halle 25. Hier sank man damals kurz vor Messeende entkräftet neben der Schwester nieder, die gelassen und putzmunter eine Kuh streichelte. „Die ist aber eine Liebe!“ Das war das brave Nutztier. Seelenruhe und leise Resignation über die menschliche Rastlosigkeit lagen in den genügsamen Kuhaugen. Die Händlerin am letzten offenen Stand bestreute das Softeis für die Schwester großzügig mit Zuckerperlen: „Das kost ´ nix. Komm Se nächstes Jahr wieder auf die Grüne?“ Wenn das Trauma überwunden ist, vielleicht.

Internationale Grüne Woche

Ort: Messegelände am Funkturm

Telefon: +49 (0)30 30 69 69 69
Fax: +49 (0)30 30 69 69 30
E-Mail: kartenservice@mb-capital-services.de

15.- 24. Januar, tägl. 10.00 – 18.00 Uhr

Sa. u. So.: 10.00 – 20.00 Uhr

Langer Freitag: 22. Januar von 10.00 – 20.00 Uhr

www.messe-berlin.de

www.gruenewoche.de

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