Da muss noch roter Pfeffer ran – Der Theatersommer Netzeband versucht sich in Commedia dell arte

Die Schauspieler sind junge Leute aus der Gegend, angelockt durch Anzeigen und Mundpropaganda. Sie kommen und gehen mit dem Beruf, mit dem Studium oder einer Arbeit im Westen. Der Kern begeisterter Laiendarsteller ist stets präsent. Hinzu gesellt der künstlerische Leiter Frank Matthus vier bis fünf Berufsschauspieler für tragende Rollen. Doch auch die agieren – im Schauspiel! – ohne die eigene Stimme. Das Markenzeichen des Netzebander Synchrontheaters: die Stimmen werden von Profis eingesprochen  (wie Corinna Harfouch/Teufel, Tom Quaas/Schulmeister und Johanna Spitzer/Baronesse). Die »Schauspieler« agieren zum Text vom Band, überhöht durch Masken von Johanna Maria Burkhart, welche die Darsteller zu großen Gesten zwingen, ihnen aber auch eine Theatralik verordnen, die der klassischen griechischen Tragödie entlehnt sein könnte. Dem Netzebander Publikum fällt es nicht schwer zu verstehen, was einem »wie ein Schuppen« von den Augen fällt.

Die diesjährige Stückwahl lässt ahnen, was drin wäre. Beim ersten großen Lacher erinnert man sich an den Witz aus DDR-Zeiten: Die sieben Zwerge sind ein Trio: keine Leute, keine Leute! In Frank Matthus‘ und Hermann Höckers Inszenierung von Christian Dietrich Grabbes Stück »Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung« schließt ein Adliger einen Pakt mit dem Teufel. Er muss (die Begründung lasse ich weg) 13 unschuldige Schneidergesellen totstechen, trifft jedoch nur sieben. Einer klärt ihn mit letzter Kraft auf: der Kulturetat wurde gekürzt. Das Geld reicht nur noch für sieben. 

Das ist eines von zwei Extempores, mit denen die Regisseure auf Anhieb den Nerv des Publikums treffen. Man ahnt, wozu Grabbes Klamotte aus dem Jahre 1822 auf dem Theater noch gut sein könnte. Grabbe, von Heinrich Heine als betrunkener Shakespeare betitelt und heute weitgehend unbekannt, spielte in seinem Stück auf Politiker, Literaten und Journalisten seiner Zeit an, wobei die Satire recht harmlos daherkam. 

Das könnte für im DDR-Theater geübte Leute ein gefundenes Fressen sein. Analogien bieten sich massenhaft an. Sie bleiben im wesentlichen ungenutzt. Wo Grabbe zum Beispiel auf die platten Erzählungen der Karoline Pichler oder auf die Poesien der Elise von Hohenhausen anspielt, könnten heute Elfriede Jelinek und Herta Müller schöne Zielscheiben abgeben. Oder Seitenhiebe auf Martin Walser, Günter Grass und  Christa Wolf drin sein. Bei Grabbe verspottet der Teufel die Französische Revolution als ein »Trauerspiel in vierzehn Jahren«. Hätten wir keine solche Revolution aufzuweisen? Und erst unsere Revolutionäre, von denen es einer fast zum Bundespräsidenten gebracht hätte! Und »der Grieche« – bei Grabbe topaktuell, im Begriff, sich von der türkischen Fremdherrschaft zu befreien – wen könnte er heute abschütteln? Ein paar Anspielungen auf europäische Währung und amerikanisches Papiergeld sind ganz nett, aber da muss noch roter Pfeffer ran. Auch etwas Rotstift wäre nicht schlecht (jetzt technisch – weil ohne Veränderung des Tonbandes – nicht mehr möglich). Sehr schade.

Nichtsdestoweniger wird Grabbes Stück wacker durchgespielt, auf eine Weise, die den Zuschauer  mit der Stückwahl versöhnt. Phantasie und Können der Schauspieler begeistern ohne Ausnahme. Park und Kirche sind der ideale Hintergrund für viel action.

Verständlich, dass Frank Matthus nach Macbeth und seiner Nibelungen-Trilogie seinem Publikum mal eine Komödie bieten wollte. Aber wenn Komödie, warum nicht Peter Hacks, Heiner Müller, Rudi Strahl oder Helmut Baierl? Da gäbe es was zu »interpretieren«, was der DDR-Bürger mit Lust und Entsetzen neu durchleben könnte, und auch dem Westler könnte ein Licht aufgehen. Der Netzebander Theatersommer wäre nicht nur ein Geheimtipp, sondern ein heißer Tipp. 

Im nächsten Jahr spielen sie Faust, von, ja, vom Geheimrat, den sie – den Faust – im Grabbe/Höcker schon mal als Schlafmittel (des Teufels) qualifiziert haben. Also auf im nächsten August zur Guten Nacht mit Goethe!

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Nächste Vorstellungen am 12., 13., 19., 20., 26. und 27. August,  20.30 Uhr, am 27. August mit Langer Nacht des Theaters mit gemeinsamem Frühstück. Kartentelefon: 033924 – 79936, Website: www.theatersommer-netzeband.de

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