Colins Baustelle am Brentanobad – Nackenschlag durch Last Minute Tor von Francesca Weber

Francesa Weber versenkt den Ball zum 2:2 Last Minute Tor, dabeistehend die Japanerin Kozue Ando (1. FFC Frankfurt). © Dietmar Tietzmann, Frankfurt

Befindlichkeiten

"Die Mädels stehen in Frankfurt seit Jahren unter Strom. Wir müssen so weit kommen, dass sie keine Angst haben, Punkte zu verlieren, müssen von ihnen den Druck nehmen“, erklärte Bell. Er legte seine schützende Hand auf seine Mannschaft und vermied jegliche Einzelkritik. Was der Engländer geflissentlich übersah, war die Tatsache, dass die Frankfurter Journaille unter einer hohen Erwartungshaltung ihrer sieggewohnten Leserschaft steht, nachdem sich beide Seiten, jahrelang verwöhnt in den Supererfolgsjahren des 1.FFC Frankfurt,  regelmäßig Textbausteine des allgegenwärtigen Pressesprechers, Managers und Investors Siegfried Dietrich einverleiben konnten, deren tieferer Grundgehalt – meist euphorisch-euphemistisch – für kritische Geister immer schon befremdlich übertrieben daherkamen.

Drucksituation

Nicht die gewohnten Sprüche des Managers, sondern Colin Bells neuartige Glockenschläge reizte die schreibende Gilde dagegen aufs Blut. Der langjährige Sportreporter Michael Löffler, Redaktionsmitglied der Frankfurter Neuen Presse (FNP), schrieb in ungewohnter Schärfe über die Befindlichkeit der saturierten Nationalspielerinnen und ihrer offensichtlichen Drucksituation: „”¦. dieser Druck ist normal für einen Top-Club. Wer beim 1. FFC Frankfurt spielt, weiß, dass da ähnlich den Männern des FC Bayern München nur Titel zählen. Dem müssen die Spielerinnen gewachsen sein. Wenn auf der einen Seite die Erfahrung aus 750 Länderspielen aufläuft, auf der anderen Seite ein Team mit zwei Länderspielen und einem Altersdurchschnitt von unter 20 Jahren, darf es nicht sein, dass der 80 Minuten lang dominierende Favorit nach dem Anschlusstreffer wie ein Häufchen Elend in sich zusammenfällt und anstatt aufs 3:1 zu drängen, die Bälle nur noch planlos weg drischt.  Aus diesem Holz wurde noch kein Meister geschnitzt.“

Am Spielfeldrand

Den Frankfurter Zeitungslesern muss es wie Schuppen von den Augen gefallen sein, als FR-Sportautor Frank Hellmann, sportiver Tausendsassa deutscher Redaktionsstuben, am Tag drauf in ähnliches kritisches Fahrwasser geriet. Seine Überschrift in der Frankfurter Rundschau „1. FFC Frankfurt – Wie ein Rentner im Schaukelstuhl“ zeigte tiefen Frust in seiner Schreibfeder. Hellmann sezierte den Cheftrainer auf folgende Weise: „Der Engländer hatte auf der Aschenbahn gleich reihenweise Tobsuchtsanfälle erlitten, die einen Vergleich mit seinem früheren Mentor Jürgen Klopp zulassen – nur mit dem einzigen Unterschied, dass der ehemalige Mainzer Zweitligaprofi glücklicherweise keine hässlichen Fratzen vor Unparteiischen schneidet. Aber seine Schimpfkanonaden waren deutlich zu vernehmen. „Scheißfußball!“, hieß es da. Oder auch: „Ihr versteckt euch!“ Hinterher gab der 52-Jährige offiziell zu Protokoll: „Wir haben die Neigung, Punkte zu verschenken, obwohl wir nichts zu verschenken haben.“ Der Laienprediger und Menschenkenner weiß längst, dass das zweite Unentschieden daheim auf ein Mentalitätsproblem hinweist. Warum lehnt sich das Team bei einer Führung zurück wie ein Rentner im Schaukelstuhl?“

Ungenaues Aufbauspiel

Bittere Worte – aber die Grundlagen, dass für das FFC-Trainerteam am Spielfeldrand auch dann noch Siege zu vermelden waren – selbst bei schlechtester körperlicher Performance der Heimmannschaft –  haben sich geändert.  Die „Junge Wilden Generation“ der Frauenfußball Neuzeit nach der WM 2011, die just in der Europameistersvorbereitung so stark nach vorne preschte, hat dabei nicht nur die deutsche Nationalmannschaft verändert, sondern die Spielstärke im Vereinsfußball insgesamt. Es reichen den  Nationalspielerinnen keine fünfundsiebzig  Minuten mehr, den Sack zu zumachen, neuerdings reicht das Kämpferherz der Liga bis 90 plus. Alleine die Schnelligkeit in der Spielweise hat sich berauschend gesteigert. Selbst erfahrene Pressefotografen, die früher beschaulich die Kamera anhoben und beschaulich einstellen konnten, beklagen mittlerweile die  ultraschnelle Aneinanderreihung der Aktionen. Die Tektonik der Vereine in der Frauenbundesliga hat sich in Richtung Gleichheit verschoben, die Abstände sind geringer geworden zwischen Ligaelite und Ligadurchschnitt. Die Begegnung von Bayer 04 Leverkusen gegen den 1.FFC Frankfurt –  die Partie wurde live auf Eurosport übertragen – begann für die Bayer-Frauen denkbar ungünstig. Gleich nach sieben Minuten köpfte Celia Sasic einen präzis getimten Freistoß von Melanie Behringer zur 1:0 Führung ein. Die Folge war Verunsicherung bei den Leverkusenerinnen, die sich jetzt ungenau mit  ihrem Aufbauspiel präsentierten.

Mehr Spielanteile

Frankfurt beherrschte von Anfang an das Spiel, generierte Chancen, die zu aber nichts führten, brachte außer langen Bällen nach vorne nichts zustande. Auffällig engagiert war die technisch versierte Frankfurterin Fatmire Bajramaj, die sich nicht zu schade war auch mal zu grätschen.
Die beste Gelegenheit für Leverkusen ließ Europameisterin Isabelle Linden aus, als deren Schuss aus gut 20 Metern gefährlich abgefälscht wurde,  deshalb nicht ins Tor, aber dafür  auf das Frankfurter Tornetz flog (17.). Als sich Torfrau Lisa Schmitz und Kathrin Hendrich nach einer Bajramaj-Flanke gegenseitig matt setzten, verpasste es Celia Sasic per Seitfallrückzieher zu erhöhen und knallte den Ball in die höhere Etage. (29.).  Die körperliche Beanspruchung einer englischen Woche sowie die knappe Zeitsequenz zwischen Donnerstagtermin und Samstagtermin von 48 Stunden war wohl ein Grund dafür, dass beide Mannschaften mit uneingeschränkter Mattigkeit ins Spiel gegangen waren. Nach dem Pausengang wechselte Cheftrainer Thomas Obliers bei Leverkusen die offensive Mittelfeldspielerin Francesca Weber für Nina Claassen ein. Folglich stellte Obliers sein Teenager-Team um. Kathrin Hendrich rückte für Claassen in die Innenverteidigung. Rebecca Knaak spielte nun auf der zentralen Sechs, die nach der Pause ins Spiel gekommene Francesca Weber zusammen mit Turid Knaak davor. Mittels der Umstellung erkämpften sich die Gäste mehr Spielanteile, die junge Leverkusener Mannschaft kontrollierte phasenweise das Spiel, das fast mit ausschließlich Nationalspielerinnen gespickte Frankfurter Team beschränkte sich auf lange Befreiungsschläge. Mitten in dieser  überlegenen Spielphase ließ sich Bayer 04 doch noch mal ein zweites Mal überrumpeln. Die gerade eingewechselte japanische Nationalspielerin Kozue Ando hob den Ball vor der  linken Grundlinie vor die Füße von Dzsenifer Maroszan, die den von Kathrin Hendrich leicht abgefälschten Ball aus zwölf Metern locker ins lange Eck einschieben konnte (65.).

Anschlusstreffer

Die Leverkusener Abwehr hatte in dieser Situation den Ball im Aus gesehen und nicht schnell genug reagiert. Doch die Bayer 04-Frauen gaben nicht auf. Sie bekamen Oberwasser, kritisch für Bayer wurde es, als Frankfurts Neuzugang Peggy Kuznik eine gute Kopfballchance zum 3:0 vergab (69.). Cheftrainer Thomas Obliers zeigte mit den Einwechslungen der Junioren-Nationalspielerinnen Ramona Petzelberger (71.) und Venus El-Kassem (76.) eine gute Hand, tatsächlich brachten die Spielerinnen nochmals Schwung in die Mannschaft. In der 80. Minute setzte Turid Knaak Isabelle Linden in Szene, die  zwanzig Meter vor dem Tor den Ball sehenswert zum 1:2-Anschlusstreffer aus seitlicher Position ins lange Eck drosch. Jetzt warf Bayer 04 alles nach vorne und wurde tatsächlich in der letzten Minute noch für ihren Einsatz belohnt. Frankfurt bekam den Ball nicht aus der eigenen Hälfte. Die zwei angezeigten Nachspielminuten waren praktisch um. Sekunden vor den Abpfiff bekam Leverkusen einen Freistoß kurz hinter der Mittellinie zugesprochen. Der lange hohe Ball von Carolin Simon kam am Elfmeterpunkt herunter. Frankfurts Abwehr verließ sich in dem Augenblick darauf, dass Torfrau Desirée Schumann herauskommen würde. Sie tat erst einen irritierenden Schritt vor, dachte wiederum, die Vorderleute werden klären, tat daraufhin einen Schritt zurück und klebte förmlich auf der Torlinie. Francesca Weber nutzte die fehlende Absprache der FFC-Abwehr und platzierte den Ball zum umjubelten 2:2-Ausgleich (90. +2). ins Tor.

Lange Gesichter

Während die Leverkusenerinnen zu Recht jubelten, sah man bei den Gastgebern lange Gesichter. "Wir sind alle zu Recht sauer auf uns selbst. Dass wir derart abbauen, unser Selbstvertrauen verlieren, das darf uns nicht passieren“, fasste FFC Neuzugang Europameisterin Celia Sasic die Stimmung zusammen. Der 1. FFC Frankfurt hat eine sichergeglaubte 2:0-Führung noch aus der Hand gegeben. Viel schlimmer noch als die Tatsache, dass Rekordmeister 1. FFC Frankfurt zum zweiten Mal in Folge einen Heimsieg aus der Hand gab und sich gegen einen Außenseiter mit einem Unentschieden begnügen musste, war die Art und Weise. Die Parallelen zu dem mageren Unentschieden gegen die SGS Essen waren unverkennbar. Wäre es das erste Mal, könnte man es als ein unerhebliches Malheur abtun. Doch dies ist ein Phänomen, das sich nun seit Jahren wiederholt. „Es stellt sich seit geraumer Zeit immer wieder die Frage, weshalb FFC-Spielerinnen im DFB-Trikot gegen Norwegen, USA, Schweden oder Brasilien spielfreudig und selbstbewusst agieren können und im Verein gegen Essen, Jena oder Leverkusen nicht?“, so der kritische FNP-Kommentar von Sportreporter Michael Löffler.

Alte Verhaltensmuster

„Heute hat jeder gesehen, welche Energie in dieser Truppe steckt. Ich bin sehr stolz auf meine Mannschaft und freue mich, dass sie sich für ihren großen Einsatz belohnen konnte", sagte Bayer Cheftrainer Thomas Obliers. „Wir sind überglücklich über den Punktgewinn. Entscheidend war, dass wir bis zum Schluss an uns geglaubt haben", sagte Last-Minute Torschützin Francesca Weber. Die Frankfurter Zuschauer warten weiterhin auf den ersten Heimsieg, die  rheinische Werkself bleibt neben den großen Namen aus Wolfsburg, Potsdam, München und Frankfurt weiterhin ungeschlagen. Den 1.FFC Frankfurt plagen Versagensängste. FFC-Vereinsvorstand Bodo Adler  ist nach nur vier Spieltagen in der Frauen-Bundesliga um die Erfahrung reicher gerworden, dass auch ein neuer Cheftrainer seinem Starensemble nicht alte Verhaltensmuster austreiben kann. Erlaubt sei hier die Frage: Inwieweit kann das Frankfurter Trainerteam auf die Arbeitsergebnisse der erfolgreichen Bundestrainerin Silvia Neid zurückgreifen, gibt es taktische Unterschiede zwischen Bundestrainerin Neid und  Cheftrainer Colin Bell, die die Mannschaft fehlleiten oder verwirren?  Bestand zwischen den ehemaligen FFC-Vereinstrainern und dem DFB  bisher eine informelle Tabuzone, die aufgebrochen werden sollte? Inwieweit besteht akuter Handlungsbedarf vor und nach dem Länderspiel gegen Kroatien in der Frankfurter Volksbank Arena? Was kann Colin Bell auf seiner scheinbar großen Baustelle am Brentanobad ins Positive verändern? Der auf der Tribüne sitzende anwesende  Frankfurter Ex-Cheftrainer Sven Kahlert hüllte sich in Schweigen.

So spielten sie:

1.FFC Frankfurt: 1-Desirée Schumann – 23-Bianca Schmidt,  25-Saskia Bartusiak, 27-Peggy Kuznik, 12-Meike Weber (21-Ana-Maria Crnogorcevic, 83.) – 19-Fatmire Bajramaj (24-Asuna Tanaka, 88.), 7-Melanie Behringer – 18-Kerstin Garefrekes, 10-Dzsenifer Marozsan, 11-Simone Laudehr (14-Kozue Ando, 61.) –  9-Celia Sasic – Trainer Colin Bell

Bayer 04 Leverkusen: 1-Lisa Schmitz – 9-Merle Barth, 2-Nina Claassen (46. 21-Francesca Weber, 46.), 5-Marisa Ewers, 30-Carolin Simon –  10-Turid Knaak, 4-Kathrin Hendrich, 15-Rebecca Knaak (8-Ramona Petzelberger, 71.) – 7-Isabel Kerschowski, 23-Isabelle Linden, 11-Theresa Panfil (18-Venus El Kassem, 76.) – Trainer: Thomas Obliers

Tore: 1:0 Sasic (7.), 2:0 Marozsan (65.), 2:1 Linden (80.), 2:2 Weber (90.)

Schiedsrichterin: Marija Kurtes (Düsseldorf), Zuschauer: 1.240

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