Baumgartens Carmen in der Komischen Oper – Höhepunkt im Berliner Opernjahr

Stella Doufexis – erotische Carmen und Bewegungswunder

Stella Doufexis (Carmen) unterstreicht als erotisches, voll Temperament strotzendes Vollweib von Anfang an, wie sie sich eine Beziehungskiste vorstellt: „Die Liebe ist ein Vagabund und kein Gesetz hat über sie die Macht. Und wenn du mich nicht liebst, ich lieb‘ dich, und wenn ich lieb‘, nimm dich in acht!“ Eine Drohung, die ihr zum Verhängnis werden wird – auch diese Carmen kann dem Tode nicht enteilen.

Oper mit politischem Hintergrund

Carmen ist auch eine politische Oper, diese Tatsache geht auch in Baumgartens Arbeit unter, seine Inszenierung konzentriert sich auf das Schicksal von Carmen und Don José (Timothy Richards), ihrem chancenlosen Soldaten-Verehrer, der dem Torero Escamillo (Günter Papendell) Platz machen muss.
Aber das Schicksal der Zigeuner im Süden Spaniens war und ist ein zwiespältiges, denn die spanische Gesellschaft schloss einerseits die Zigeuner aus ihrer Gesellschaft aus, verehrte aber deren junge Frauen, die den Flamenco im Blut hatten. Nicht wenige dieser Frauen sahen in ihrer Tanzkunst und ihrer Erotik die große Chance, aus ihrer sozialen Gefangenschaft auszubrechen, indem sie den Männern bis hinauf in die oberen Etagen die Köpfe verdrehten, nicht selten landeten sie auch in der Prostitution, vielen gelang aber auch der soziale Aufstieg.

Wieder überragend: Chor und Orchester

Stella Doufexis dominiert mit einer überragenden Stimme als emanzipierte Carmen die Komische Oper, ihre Mitspieler haben es schwer mitzuhalten, obwohl die Besetzung insgesamt durch ein hohes Niveau glänzen kann. Ein weiterer Höhepunkt und überragend wieder einmal der Chor der Komischen Oper – Leitung André Kellinghaus -, der zur Höchstform auflief: Sensationell! Nicht weniger überragend das Orchester unter Leitung von Yordan Kamdzhalov: ein musikalischer Hochgenuss!

Baumgarten hat sich mit seiner Carmen ein Denkmal gesetzt

Vor einem fantastischen Bühnenbild (Thilo Reuter), das den wirtschaftlichen Untergang Spaniens prophezeit, verlegte Sebastian Baumgarten (Regie) seine Carmen überragend in die heutige Zeit, was ihm mit Sicherheit in der Komischen Oper ein „Denkmal“ garantiert. Es war seine zumindest vorerst letzte Inszenierung: Nachdem sich auch Intendant Andreas Homoki verabschieden wird, will Baumgarten in Zürich weiterhin die Opernwelt rocken. Baumgartens Carmen dürfte ein heißer Anwärter auf die Inszenierung des Jahres sein und ist eine gigantische Herausforderung für Volker Schlöndorf, der im Sommer seine Carmen auf der Seebühne im Wannsee sterben lässt.

Fazit: Diese Carmen muss man gesehen haben, um nicht ein Highlight des Berliner Opernjahres zu versäumen.

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Carmen
Opera comique in vier Akten von Georges Bizet
Libretto: Henri Meilhac und Ludovic Halevy
Deutsche Textfassung: Bettina Bartz und Werner Hintze
Musikalische Leitung: Yordan Kamdzhalov – Inszenierung: Sebastian Baumgarten – Bühnenbild: Thilo Reuther – Kostüme: Ellen Hofmann – Bewegungstraining: Thomas Stäche – Dramaturgie: Ingo Gerlach – Chöre: Andre Kellinghaus – Video: Jan Speckenbach – Licht: Franck Evin
Besetzung: Stella Doufexis (Carmen) – Ina Kringelborn (Micaela) – Karolina Gumos (Mercedes) – Ariana Strahl (Frasquita) – Timothy Richards (Don José) – Günter Papendell (Escamillo) – Peter Renz (Dancairo) – Thomas Ebenstein (Remendado) – Ipca Ramanocic (Morales) – Jens Larsen (Zuniga) – Ana Menjibar (Manuela) – Rayko Schlee, Zamna Urista-Rojas (Gitarristen)
sowie die Chorsolisten und das Orchester der Komischen Oper Berlin.

Weitere Termine: 6./12./26./29. Dezember jeweils 19:30 Uhr, 18. Dezember 16:00 Uhr, 4./7./13./21./27. Januar 2012 jeweils 19:30 Uhr, 4. Juli 2012, 19:30 Uhr.

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