Autoritärer Vater – Ängstliche, weinende, zerbrechliche Mutter: Zwei Seiten einer Medaille – der Kampf um die innere Deutungshoheit

Vorher hatte er nur die Schmerzen und Schwindel gespürt, ohne diese sich richtig erklären zu können, oder bekam von seinen Ärzten körperliche Ursachenerklärungen angeboten. Neben einer Auflockerung und Entspannung in der Massage erlebte er auch Momente eines Glücksgefühls, ein Licht der Freiheit, anschließend sofort ein Erschrecken und zum Schutz ein Festhalten am Gewohnten. Andererseits erlebte er bei Schnupfen, Husten und Erkältung im Husten einen Lachkrampf, wie ein „Nein“, ein schadenfreudiges, gehässiges Lachen. Einige wesentliche Faktoren des komplexen Geschehens sollen dargestellt werden, da sie so häufig und typisch sind und in variabler Form einen gravierenden Anteil im Krankheitsgeschehen ausmachen.

In seiner Kindheit hatte der depressive Schmerzkranke einen autoritären Vater, der bestimmte, was ist und wo es lang geht, dem sich alle unterzuordnen hatten, und eine ängstliche, zerbrechliche, weinende Mutter, der weh zu tun für ihn das schlimmste war. Für die Mutter waren Männer gewalttätige Säufer und Hurenböcke. Diese negativen und bedrohlichen Erfahrungen mit Männlichkeit hatten die Frauen der Familie in der Vorgeschichte gemacht. Ein solcher sollte ihr Sohn nicht werden! Bei den geringsten Anzeichen von Männlichkeit, die eines typischen Jungen, bekam sie Tränen in die Augen, vermittelte ihm ihre Schmerzen, und der Sohn bekam Schuldgefühle, seiner lieben Mutter weh zu tun. Also verzichtete er, ein typischer Junge zu sein, geriet dadurch allerdings bei den gleichaltrigen Jungens ins Hintertreffen, zog sich zurück und entwickelte Minderwertigkeitskomplexe, nicht mit den Anderen mithalten zu können.

Bei einem autoritären Vater weiß ein Kind wenigstens, wo es sich unterzuordnen hat oder wogegen es sich wehren, trotzen, sabotieren oder wo es unterlaufen kann. Aber die Tränen der Mutter und ihre Liebe üben eine wesentlich stärkere Macht aus und haben insofern die Deutungshoheit. Nun haben die Eltern selbst ihre strengen Moralregeln durchbrochen. Der Vater, ein Lehrer, hatte seine 17jährige Schülerin, die Mutter des Patienten, geschwängert und diese geheiratet, in den Augen der Familienmoral eine Schande. Der älteste Sohn war das Ergebnis und Sinnbild der Schande. Da vergangene Erfahrungen immer in die Zukunft hinein gesehen werden, sollte der Sohn diese Schande nicht wiederholen und sogar wieder gutmachen, indem er ein Sinnbild von Anständigkeit, Tugend und Moral darstellte und den Eltern keine Schande bereitete. Infolge der Verinnerlichung der Bilder wäre Männlichkeit auch für den Sohn eine Schande gewesen.

Im kulturtypischen Rollenverhalten suchte der Vater mit Macht und Kontrolle die Moral aufrecht zu erhalten, während die Mutter dies mit ihren eigenen Schmerzen tat, beziehungsweise diesen erlag und dies mit ihr geschah. Ihr Schmerz wurde zum Schmerz des Sohnes, sozusagen die inkorporierte Mutter. Die Hintergründe seines Schmerzes gehen jedoch noch weiter, nämlich der Zerrissenheit zwischen der Deutungshoheit des richtigen Lebensweges, der äußeren Macht und der noch stärkeren, tieferen Macht des Schmerzes, den er der Mutter vermeintlich antat. Mutter und Sohn sind ja überzeugt, daß der Schmerz vom Sohn ausgeht. Er wäre der Übeltäter, der der Mutter weh tut.

Weiterhin gerät der Sohn in eine innere Zerrissenheit zwischen den Eltern, seines eigenen männlichen Lebensweges und gegenüber seinen männlichen Altersgenossen. Auch gegenüber Frauen ist er kein richtiger Mann, nur ihr Freund und Berater, der sich wie bei der Mutter ihr Unglück anhört, zwar dadurch ihre Nähe gewinnt, aber auf eigene Partnerschaft, Familie, Nachkommen und Sexualität verzichtet. In der Wiedergutmachung für die Eltern ist er außerdem überfordert. Diese sitzt ihm wie eine Last im Nacken und liegt ihm auf den Schultern.

Nun müsste der autoritäre Vater ebenfalls unter seiner Schande, Schmerzen und den Ängsten um sich, dem Sohn und der Mutter leiden, während die Mutter mit ihren Schmerzen von der unteren Ebene aus Macht und Kontrolle stärker noch als der Vater ausübt. Beide tragen also diese beiden Seiten in sich wie die zwei Seiten einer Medaille, wobei im typischen Rollenverhalten diese Seiten auf zwei Personen verteilt sind und an einer Person jeweils nur eine Seite sichtbar ist. Diese Aufspaltung trägt der Sohn als innere Zerrissenheit in sich.

In dieser Weise von seiner Mutter vereinnahmt zu werden und sich selbst aufgeben zu müssen, erzeugt naturgemäß gegen die Mutter gerichtete Aggressionen. Das ist die menschliche Natur und in den Genen verankert. Zur Aufrecherhaltung der Liebe und Harmonie darf und kann er diese aber nicht herauslassen. Sie verbleiben in Seele und Körper als Autoaggressionen, seelisch als Depressionen und Ängste, körperlich als Verspannungen, Schmerzen und Schwindel. Hinzu kommt, da er die Realitäten und Befindlichkeiten der Mutter in sich trägt, die inkorporierte Mutter, richten sich die auf Zerstörung der Mutter ausgerichteten Aggressionen gegen diese innere Mutter, also gegen sich selbst. In sich hat er die Deutungshoheit verloren und ist zwischen den verschiedenen Fronten zerrissen.

Ein Mensch, der sich nach seinen verinnerlichten Normen richtet, hauptsächlich der inkorporierten Mutter, diese sind sein Gesetz, gerät in innere Wallung und Aggression, wenn andere sich nicht an diese Gesetze halten. Diese sind ja anders aufgewachsen und geprägt, verhalten sich also mehr oder weniger anders. In seinen Annahmen und Normen hat er sich häufig getäuscht und bleibt enttäuscht. Als Folge dieser Enttäuschungen äußern sich dann also die früheren Aggressionen auf das primäre Umfeld im späteren Leben als Aggressionen auf das Umfeld. Setzt er das Umfeld unter Druck, muß sich dieses wehren. Es entsteht ein Machtkampf um die Deutungshoheit des richtigen Verhaltens, oft eine Aufspaltung in richtig oder falsch. Um diese Zerstrittenheit zu vermeiden und die Harmonie zu erhalten, muß er die Aggressionen wiederum unterdrücken.

Ein Mensch der die Katastrophe, die Angst vor der Schande und, anderen weh zu tun, dabei sich als die Ursache sieht und dies über Generation hinweg, muß immer unter den Erwartungen neuer Katastrophen stehen. Sollte es ihm mal gut gehen, hat er früher oft genug Sätze gehört wie „das dicke Ende kommt noch, Bäume wachsen nicht in den Himmel oder, wenn der Vogel morgens singt, holt ihn abends die Katze“. Wohlergehen wird also mit Ängsten bestraft. Durch all diese Erwartungen verstärken sich noch seine inneren und muskulären Verspannungen.

Ein möglicher Trotz oder eine Opposition, um Selbstbestimmung und Freiheit wieder zu erlangen, wie gegen einen autoritären Vater, muß also schon auf einer tieferen Ebene stecken bleiben. Von Geburt an besteht zur Mutter, manchmal auch zu einem allein erziehenden Vater oder einer die Mutterrolle übernehmenden Großmutter, eine wesentlich größere Nähe. Allein durch die fehlende Distanz – man denke nur an den Spruch „es ist leichter ein Splitter im fremden als ein Balken im eigenen Auge zu sehen“ – ist es außerordentlich schwer wahrzunehmen, was so eine Mutter alles mit ihrem Kinde anstellt. Dass Gleiche gilt für die Mutter, sie hat es auch nicht anders kennen gelernt, ist nach ihren Realitäten geprägt und ihr fehlt die Distanz zu sich selbst und ihren Verhaltensweisen. Diese sind sozusagen Automatismen.

So ist es kein Wunder, das Leben dieses Patienten ist in diesem Spannungsfeld ein einziger seelischer und körperlicher Schmerz. Aber in gewisser Weise hat er Glück, keine gravierenden körperlichen Veränderungen sind an ihm festzustellen, und er ist veranlasst, woanders zu suchen. Insofern hat derjenige Pech, bei dem sich etwa ein Bandscheibenvorfall oder eine Arthrose findet. Laut medizinischem Wissen ist das dann der Grund der Beschwerden. Nur, wenn man die Bevölkerung durchröntgt, finden sich Bandscheibenvorfälle auch bei Beschwerdefreien und massive Beschwerden bei relativ intakten Wirbelsäulen. Oder, ein Patient hatte eine massive Ischiassymptomatik und einen Bandscheibenvorfall, aber jeweils auf der falschen Seite. Man kann lediglich sagen, daß die Rückenbeschwerden bei Bandscheibenvorfällen häufiger sind. Also wird der Hauptgrund für die Beschwerden die innere Belastung und Zerrissenheit sein, und für den Organkranken setzt es schon einen hohen Wahrnehmungs- und Reifungsstand voraus, trotzdem nach inneren Belastungen zu suchen und zu versuchen, diese zu bewältigen.

Pech hat er, da sich kein ausreichend erklärbarer organischer Befund ergibt. Ein Kranker mit somatoformen Beschwerden, das heißt körperliche Beschwerden ohne ausreichende Körperveränderungen, gerät in Erklärungsnot. Er wird im naturwissenschaftlichen, mechanistischen Weltbild – wo etwas weh tut, muß etwas kaputt sein – nicht für ernst genommen, sei ein Simulant oder Hypochonder. Dieser Rechtfertigungs- oder Legitimationsdruck kann die Beschwerden allein durch die Beweislast verstärken. Der Kranke muß sich und den Ärzten durch die Verstärkung der Beschwerden beweisen, daß diese vorhanden sind, so daß dieses verbreitete Weltbild zur Verschlimmerung beiträgt. Jedoch sind alle psychischen und somatoformen Erkrankungen auf der Ebene der Feinregulationen im Gehirn auch organische Störungen.

So wie seine Eltern die rigiden Sexualnormen durchbrochen hatten, hat er dies vorübergehend getan, indem er als älterer Junge seine jüngere Schwester zu sexuellen Handlungen verführte, in seinen Augen missbrauchte. Er hatte vorübergehend mit einer strengen religiösen Phase reagiert und mit dem Priestertum geliebäugelt, ist aber diesen Weg nicht weiter gegangen. Dazu mag beigetragen haben, daß der Mutter das zurückgezogene Leben ihres Sohnes doch nicht normal erschien und sie ihn aufforderte, doch endlich unter die Mädchen zu gehen. Im Hintergrund dachte sie sicherlich an die erhofften Enkelkinder. Der Vater, der Lehrer, beschäftigte sich als Hobby mit der Ornithologie, den „Vögeln“, kein Wunder, bei der Lebenseinstellung seiner Ehefrau konnte er bis auf die Zeugungsakte wenig Mann sein.

Viele Priester haben einen vergleichbaren Hintergrund. Ihren Lebensweg versehen sie als Reaktion allerdings mit einer Aura der Heiligkeit und Gottgeweihtheit, beziehungsweise diese wird ihnen zugeschrieben und in einer Institution verkörpert. Aber auch im Alltag wird innere Familienzerstrittenheit oft mit der Aura von heiligen Familienfesten versehen, die etwa zu Weihnachten, Muttertag oder Mutters Geburtstag gefeiert werden. Unser Patient hat ebenfalls sein Dilemma mit einer Aura der Einzigartigkeit des guten, tüchtigen, fleißigen und wohlmeinenden Menschen versehen, lauter sozial hoch anerkannte Tugenden, was ihn durch diesen Sekundärgewinn lange hinderte, bei sich nachzuschauen, und die Therapie erheblich verlängerte.

In einer rigiden, heiligen, körper- und sexualfeindlichen Moral ist oft der einzige Weg der Freiheit und Selbstbestimmung die Doppelmoral, nicht nur in den Kirchen und Sekten, sondern auch etwa im Dopingspitzensport, im Gesundheitswesen, in Politik und im Finanzwesen. Der Aufdeckende gilt sogar als Nestbeschmutzer. Im letzten Jahr wurden diese kirchlichen und reformpädagogischen Verhältnisse nach langer Vertuschung, um den Schutz der heiligen Institutionen zu gewährleisten und die Macht über die Seelen zu erhalten, und nach langer Duldung aufgedeckt. Geduldet wurde über Jahrhunderte, da offenbar die latente Einsicht und der Konsens herrschte, daß Asexualität unmenschlich ist und die unterdrückte Sexualität irgendwo ihre wenn auch für alle Seiten tragischen eigenen Wege geht. Es gab und gibt sogar Phasen in der Geschichte, wo die Doppelmoral zum Standart gehörte und noch gehört.

Wie anfangs erwähnt, hatte der Patient Glücksmomente der Freiheit, wohl auch durch die eröffneten Möglichkeiten in der Therapie, die ihm Angst bereiteten, und er zum Schutz vor den Ängsten in seine alten, gewohnten Verspannungen und Schmerzen zurück kehrte. In der Gewohnheit und ihrem Schmerz findet er Sicherheit, weiß, wo er dran ist, während ihm die Offenheit und Unsicherheit, von Kindesbeinen an nur geprägt in der Angst, Angst vor dem Neuen und Unbekannten bereitet. Die Beschwerden stellen insofern auch eine Form des Konservatismus dar. Über den Konservatismus und dessen heilige Werte hat Roland Koch gerade ein Buch geschrieben.

Andererseits nahm er vor allem im Husten ein schadenfreudiges, gehässiges Lachen wahr. Äußerer Anlass war Mutters Geburtstag, wo er wie selbstverständlich seine gute, fürsorgliche Mutter zu ehren und seinen Pflichten nach zu kommen hatte. Das Bild der guten Mutter und ihm als guten Sohn erlebt er wie eine Erpressung. Er huste ihr eins, sei ja krank geschrieben. Wenn es ihm nicht gut gehe, dürfe es ihr auch nicht gut gehen. Dass die Dinge einfach so geschehen sind, rufe Hilflosigkeit hervor. Es muss doch etwas getan werden, der Schuldige gesucht und dieser bestraft werden. Aber im Falle der Strafe, Rache und Schadenfreude habe er Angst, sie zu verlieren. Dieser innere Widerspruch von Liebe und Harmonie und Hass und Rache blockiere ihn.

Die Macht der Mütter kann ein kleines Beispiel verdeutlichen: Anfang der achtziger Jahre hatte ich mehrere Patienten, die aus der damaligen DDR geflohen waren, natürlich aus politischen Gründen. Zwei waren bei einem Fluchtversuch erwischt worden und hatten im Gefängnis gesessen. Bei der Erhebung der Familienvorgeschichte wurde schnell klar, sie waren vor ihren Müttern geflohen. Das nützte ihnen jedoch wenig. Als Rentnerinnen konnten diese einen Besuchs- und Ausreiseantrag stellen. Bei einem Medizinstudenten lag die Mutter in seiner engen Studentenbude wieder neben ihm im Bett. Einen Anderen traf ich in der Nähe mit beiden Eltern.

Der Leser mag sehen, Psychotherapie ist insofern kein leichtes Unterfangen, da der Therapeut in die Schusslinie der verschiedenen Deutungshoheiten gerät. Viele Menschen können nicht zwischen Sichtweisen und Deutungen und der Realität unterscheiden. Das, was sie sehen, ist für sie die Wirklichkeit, etwa allein die sichtbare Seite einer Medaille. Weil die Wahrheit auch interessengeleitet ist, gerät der Tiefenpsychologe in das Konfliktfeld unterschiedlicher Interessensgruppen, etwa der Pharmaindustrie, der diagnostizierenden und behandelnden Medizintechnik, die etwa beim MRT bis in die kleinsten Gewebeveränderungen schauen kann, den operierenden Fächern – allein die Rückenoperationen haben pro Jahr zweistellige Zuwachsraten zu verzeichnen – und könnte diesen die Profite wegnehmen. All diese Zusammenhänge aufzudecken, so interessant und wahrnehmungserweiternd sie auch sind, gelten als Nestbeschmutzung einer reinen, evidenzbasierten Medizin. Alice Miller schrieb ein Buch „Du sollst nicht merken“.

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