Amok – die mörderische Rache an den Blicken der Anderen – Der Amoklauf des Tim K. in Winnenden, eine Mischung von Grandiosität, Kränkung, Wut, Rache, Angst und tödlichem Überlebenskampf

Inzwischen ist bald ein Jahr vergangen, die Wogen abgeebbt. Für den Vater erfolgt ein Nachspiel, er muß sich voraussichtlich wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht verantworten, da er, obwohl ihm der Hass und die Mordideen seines Sohnes bekannt gewesen sein mussten, den Waffenschrank nicht verschlossen hatte. Einen Grund des Entsetzens sehe ich darin, dass die Durchbrechung des „Normalen“ einen Schock hervorruft, so, als ob wir alle in einer Idylle und Harmonie der Normalität lebten. Dabei sind die Folgen von staatlich legalisiertem Töten wie in Kriegen ungleich verhängnisvoller, gehören aber in dieser Situation in den Bereich des Normalen. Die Umstände, hier das staatliche Sanktionieren, sind also entscheidend. Außer der Tragik dieser Fälle interessiert mich vor allem, dass an Extremfällen alltägliche Hintergründe und Mechanismen zu verdeutlichen sind, die gesamtgesellschaftlich bei Konflikten und Krankheiten wesentlich verhängnisvoller sind.

Der erweiterte Suizid des Tim K. suchte möglichst viele in den Tod mit zu nehmen. Die Grandiosität kommt darin zum Ausdruck, daß er gottgleich über Leben und Tod anderer Menschen bestimmte. Dieser Mensch muss sich abgrundtief als Versager, minderwertig, dadurch gekränkt und gedemütigt gefühlt haben, und hat sich in seiner Seelenqual aus Angst vor seiner Bloßstellung alleine auf seinem Zimmer hinter seiner Spielsucht verborgen. Bei tiefer Demütigung entstehen eine narzisstische Wut und eine Spaltung, schwarz – weiß, gut – böse, er der Schwarze und Looser, die anderen die weißen Erfolgreichen. Deren Probleme, die Zwischenschattierungen, werden nicht mehr gesehen.

Die Spaltung verschärft die narzisstische Wut und fordert einen narzisstischen Ausgleich, nach dem Motto „ den Anderen soll es auch nicht besser ergehen als mir“, die Rache. Insofern stellt der Amok einen tödlichen narzisstischen Überlebenskampf dar. So paradox es klingt, das Überleben ist durch den Tod garantiert.

Der Fall des Amoklaufes des Lehrers Wagner von 1913 bietet in meinen Augen einen guten Zugang zum Verständnis der Hintergründe von Amokläufern, wenn er ihn auch nicht hinreichend erklärt. Mir selbst ist der Fall aus einem Artikel der Zeitschrift „Stern“ vor einigen Jahren über Amokläufer bekannt, blieb mir gut im Gedächtnis und gab mir zu denken, weil manche Hintergründe mir auch mit der Psychopathologie vieler Erkrankungen wie Angstkrankheiten und Depressionen verwandt erschienen und diese besser verständlich machen. Wegen Depressionen und sozialer Phobie wurde Tim K. vorher behandelt. Das soll jedoch nicht heißen, das Depressive amokgefährdet sind.

Wagner erschoss auf der Straße plötzlich und scheinbar grundlos ihm wildfremde Leute. Bei seinem Daueraufenthalt in der Psychiatrie wurde er von vielen Fachleuten aufgesucht, interviewt und hatte als gebildeter Mann selber Bücher geschrieben. Er konnte sich aber eins nie eingestehen, nämlich, das es sein Wahn war, dass ihm jeder seine Sodomie ansehen würde. In seiner Überzeugung musste die Straße also eine Bühne der abgrundtiefen und tödlichen Bloßstellung, Scham, Verachtung und Schande darstellen. Diese ihn verachtenden Blicke hat er offenbar in einem mörderischen Erregungssturm ausgelöscht. Seinen wahnhaften, vermeintlichen sozialen Tod vergalt er mit dem körperlichen Tod seiner beliebigen Opfer. Ich spinne den Faden fort. Wenn er sich den Wahn eingestanden hätte, wäre seine (Un)Tat sinnlos gewesen, und er hätte eine erneute Bloßstellung, Scham und Lächerlichkeit fürchten müssen. Das hätte sicherlich wie bei den meisten Amokläufern zum Suizid geführt. Durch die Nichtrealisierung des Wahns konnte er in seinem Weltbild seinen Sinn und sein Gerechtigkeitsempfinden und somit sein Leben aufrechterhalten. Bei ihm handelte es ich nicht wie bei vielen Amokläufern um einen erweiterten Suizid, wo der Täter noch möglichst viele wahllose Opfer in den Tod mitnimmt. Ähnlich stellen in Kriminalfilmen die Mörder oft die Rechtmäßigkeit (innerhalb ihres subjektiven Weltbildes) ihrer Taten dar.

Zum tieferen Verständnis führe ich einige eigene Gedanken und Erfahrungen an: Ich gehe zuerst zu einem illustrierenden Beispiel aus der griechischen Mythologie und Tragödie. In der Ödipussage blendete sich Ödipus nach Vatermord und Inzest selbst, nicht nur zur Selbstbestrafung, sondern auch um seine Schande in den Augen der Bürger von Theben nicht zu sehen, deswegen die Augen. Er fürchtete seine Selbstbewertung in den Augen anderer. Er konnte allerdings auch nicht mehr sehen, dass die Bürger durchaus Verzeihung und Verständnis zeigten und mehr die Tragik der Verkettung unglücklicher Umstände sahen. Ödipus muß wohl am fremden Königshof in der Überzeugung der abgrundtiefen Schande erzogen worden sein – deswegen die Verbreitung des Inzesttabus in fast allen Kulturen – in der allein Handlungen, aber Umstände und eine tragische Verkettung nichts galten.

Ich hatte einmal einen Patienten, der zweimal einen Bankraub in einem inneren Ausnahmezustand begangen hatte, vorher drogenabhängig und mit Hilfe seiner Ehefrau von den Drogen geheilt war. Jetzt war er in Gefahr, als das zweite Kind unterwegs war, wegen wiederholter Kleptomanie eingelocht zu werden, weswegen beide mich aufsuchten. Den Bankraub könnte man interpretieren, sich gewaltsam symbolisch durch Geld die vermisste Liebe zu rauben, die Kleptomanie durch die Konkurrenz des Kindes Zuwendung der Mutter und Ehefrau zu verlieren und sich Ersatz zu klauen. Wenn er in derartige Erregungszustände geriet und ihm seine Ehefrau dies ansah, versuchte sie ihm durch Fragen zu helfen, was mit ihm los sei. Einmal in höchster Not brach es in der Therapiestunde aus ihm heraus „”¦und dann bohrt und bohrt sie in mir herum, obwohl sie genau weiß, was mit mir los ist, und ich streite alles ab!“. Das Eindringen in einen Menschen und das Erkennen des Bösen, die Aufhebung der zwischenmenschlichen Grenzen und Bloßstellung der Geheimnisse, ist offenbar eins der schlimmsten zwischenmenschlichen Dinge und Erfahrungen. Mit allen Mitteln muß sich dagegen gewehrt werden. Der Patient hatte die Erfahrung verinnerlicht, wie in weiteren Gesprächen deutlich wurde, daß ihm seine Mutter alle seine Untaten ansehe, und diesen Vorgang auf seine Ehefrau übertragen. Frühere Erfahrungen prägen den späteren Wahrnehmungsentwurf.

Mir selbst als jugendlicher Pfadfinder ist es passiert, dass ein älterer Pfadfinderführer, Vater von zwei Söhnen in meinem Alter, behauptete, er würde mir ansehen, daß ich onaniere. Ich fand das unverschämt und stritt es ab, obwohl ich natürlich wie (fast) alle Jungens onanierte. Sicher hatte er gute Absichten, mich auf den richtigen Weg zu führen. Mein Selbstbild des äußeren Erscheinungsbildes war halbwegs gefestigt, daß ich überzeugt war, daß man mir nichts ansehen könne. Ich fand diese Behauptungen unverschämt und stritt auch deswegen ab. Wie oft mag ähnliches passieren? Viele Eltern sind überzeugt, ihren Kindern Böses anzusehen, etwa zu lügen, und ihre Kinder übernehmen diese Überzeugung, obwohl ihnen nichts anzusehen ist. Nur wenn sie die Überzeugung der Eltern übernehmen und daran glauben, zeigen sie diesen Glauben mit ihrem Erröten und Ertapptsein an. Schließlich lebt der Mensch nach dem, was er glaubt, was ist, seinen inneren Realitäten. Derartige Eltern müssen auch Wagner, Ödipus, der Bankräuber und wahrscheinlich Tim K. gehabt haben.

Über Videospiele und den Waffenzugang als Ursache des Amok machen sich viele oft vermeintliche Fachleute Gedanken, schreiben viel über deren Gefährlichkeit, und erheben politische Forderungen nach mehr Kontrolle und Verboten. Die meisten Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen können gut zwischen Spiel und Ernst unterscheiden. Nur bei sehr wenigen Schwerstgestörten geht das Differenzierungsvermögen zwischen Spiel und Realität verloren. Nach meinen Erfahrungen können gewalttätige Videospiele und die Herumballerei mit Waffen der symbolischen Aggressionsabfuhr und der symbolischen Aufrechterhaltung der Grandiosität zur Kompensation der Demütigungen dienen und somit die Gefährlichkeit reduzieren. Verbote und Kontrolle würden die letztlich unkontrollierbare Aggressivität eher steigern. Insofern halte ich Verbote für blinden Aktionismus – in einer grauenhaften Situation ist Ohmacht halt unerträglich, und es muß vermeintlich etwas gegen sie getan werden – und eher für kontraproduktiv, zumindest für zweifelhaft, da potentiellen Gewalttätern schon genügend verboten wurde. Auch deswegen sind sie so wütend.

Über die möglichen Nebenwirkungen von Medikamenten ist weniger in den Medien, aber in Zeitungs- und Forumskommentaren von Ärzten zu lesen. Aufhellende Antidepressiva sind aktivitäts- und antriebssteigernd, und diese Aktivität kann auch zum Suizid benutzt werden. Deswegen wird vor diesen Nebenwirkungen gewarnt. Denkbar ist auch, dass diese Aktivitätssteigerung nicht nur in einem autoaggressiven Akt gegen sich selbst genutzt wird, sondern sich auch nach außen als Mordimpulse entladen kann. Diese Tatsache als schreckliche Nebenwirkung würde die Antidepressiva in Verruf bringen. Möglicherweise würde trotz der ansonsten oft segensreichen Wirkungen nicht mehr, wie sonst üblich, die Hälfte der gekauften Arzneien weggeschmissen, sondern dies Teufelszeug wegen dieser zwar extrem seltenen gefürchteten Nebenwirkung nur noch in geringem Umfang gekauft. Das wäre im Angesicht der Umsatzrenner ein herber Schlag für die Pharmaindustrie. Diese ist tabu, solange nichts offensichtlich ist. Die Art der Vormedikation in der psychiatrischen Behandlung des Tim K. fällt wohlweislich in die ärztliche Schweigepflicht. Schließlich müssen Arbeitsplätze erhalten bleiben, und das Vertrauen in die Medizin darf nicht erschüttert werden. Dadurch entstehen die Macht und der politische Einfluss der Pharmaindustrie.

Für die Gesellschaft ist offenbar unerträglich, weil es Angst macht, was in einer anscheinend normalen Kindheit alles schief gehen kann, ohne die Gründe wahrzunehmen, sodass lieber aufhellende Antidepressiva oder bei hyperaktiven Kindern Aufputschmittel verabreicht werden

Ein noch größeres Tabu ist die Familie und deren Beziehungen untereinander, vor allem die Mutter-Sohn-Beziehung, wo alle doch nur das Beste wollen und nach ihrer subjektiven Wahrnehmung auch tun. Dort Faktoren anzuprangern, wäre im gesellschaftlichen Kontext infolge dieses unfassbaren Geschehens von tödlichen Schuldvorwürfen begleitet. Schließlich muß in einem tragischen Geschehen, an dem viele beteiligt sind, die Schuld irgendwo dingfest gemacht werden.

Trotzdem halte ich im Sinne eines Tabubruchs den Finger auf die frühkindlichen Beziehungen. Einige Faktoren, wie der tödliche Blick der Anderen als Erziehungs- und Prägefolge, sind bereits erwähnt. Sicher, als soziales Wesen lebt der Mensch nicht nur in und durch sich selbst, sondern er lebt essentiell in und durch die Augen anderer. Deswegen sind Ruhm, Ehre, Image, Status und der gute Eindruck so wichtig. Die soziale Ausgrenzung kann bis zum Vodoo-Tod führen. In den Köpfen vieler Eltern gelten oft nur ihre Ängste, Sorgen und als Folge und Reaktionsbildung ihre Normen und Kontrollen, diese Sorgen zu verhindern, oft über Generationen hinweg, sozusagen weiter vererbt. Das Kind hat blind und sofort zu gehorchen bis zum vorauseilenden Gehorsam, umso mehr, je größere Gefahren zu verhindern sind. Selbstbestimmung und Entfaltung des Kindes sind tabu, das Böse und bedrohlich, im Alltag „”¦was sollen die Leute, Nachbarn sagen!?“. Der Blick der Mutter und Eltern, deren Miene und Gestik vermitteln die Kontrolle, vor allem, wenn das Böse in das Kind hinein gesehen wird. Deswegen malen Schizophrene in ihren Bildern vor allem das über alles herrschende, kontrollierende Auge.

Ihre eigene Befindlichkeit machen die großen Eltern zur Verantwortung des kleinen Kindes. Sätze wie „Wie kannst du mir das antun!?“ oder „Du bereitest mir nur Sorgen, Kummer und Ärger!“ sind verbreitet. Sie machen sich selbst zur Schuld des Kindes. Diese Schuld kann so tödlich sein, daß sie einem Seelenmord gleicht, abhängig davon, wie viel Raum dem Kind an Anerkennung und Entfaltung geblieben ist. Das Verhalten der Eltern ist in ihren Augen Fürsorge und Erziehung zu einem anständigen Menschen und in ihren Augen völlig normal. Deswegen können Tim K.’s Eltern zu recht sagen „Wir waren eine völlig normale Familie!“.

Das Kind gerät in ein Dilemma. Einerseits gehen die elterlichen Sorgen und Ängste in es über, andererseits muss es zur Aufrechterhaltung seiner Selbstbestimmung sich dagegen wehren, umso mehr, je weniger auf es eingegangen wird. Es trotzt also gegen seine eigenen verinnerlichten Ängste an und gerät in innere Zerrissenheit. Ein Kind, auf dessen Bedürfnisse eingegangen wurde, geht auch auf andere ein. Heftige Kämpfe um Sieg und Niederlage, vor allem im sogenannten Trotzalter, können sich abspielen. Das Kind erlebt sich als narzisstisch gekränkt, gedemütigt, neigt auch oft genug zu Krankheiten, vor allem, wenn es sich ausgelacht und der Lächerlichkeit preisgegeben fühlt.

Narzisstische Kränkungen, Demütigungen und die Ängste vor diesen sind regelmäßig von Gegenbildern wie Grandiosität, Stärke, Macht und Unverwundbarkeit begleitet, je tiefer die Kränkungen umso stärker die Grandiosität, bis zu einer göttlichen Bestimmung über Leben und Tod. Die Grandiosität dient der Angstbannung. Die Grandiositätsbilder verstärken in einem tragischen Kreislauf die Kränkung. – Bei Minderwertigkeit liegen schließlich auch Größenbilder zugrunde. Ansonsten gäbe es nichts Minderwertiges. –

Diese führen zu einem Rachefeldzug, etwa „”¦denen zeige ich es!“ Infolge der schon im Erziehungsprozess und im späteren Umfeld erlebten tödlichen Kränkungen und Demütigungen dienen Mord und Amok dem narzisstischen Ausgleich, also dem narzisstischen Überleben. Es mag paradox klingen, aber Amok zielt auf das Überleben des tödlich Getroffenen. Tim K. ist es gelungen, grandios seine Eltern, seine Familie, die ganze Stadt, sogar das Volk ins Mark zu treffen, so wie er sich selbst ins Mark getroffen fühlte – eine grandiose Form von Mord und Selbstmord zugleich.

In diesem uneinfühlsamen Klima der Rücksichtslosigkeit für die Bedürfnisse und Entfaltung eines Kindes, den damit verbundenen Kränkungen und Demütigungen, lernt ein Kind naturgemäß auch keine Rücksichtsnahme auf andere. Ähnlich, wie es terrorisiert wurde, kann es andere terrorisieren. Einmal so geprägt, erleben der Heranwachsende und Erwachsene diese narzisstischen Kränkungen auch im weiteren Umfeld, etwa an der Schule oder am Arbeitsplatz, fühlen sich gedemütigt, ausgegrenzt und ungerecht behandelt und können in seltenen Fällen ihre tödliche narzisstische Wut nach außen entwickeln und ausleben. Wann nun der Umschlag von der Autoaggression wie in Depression, psychosomatischen Beschwerden und wohl organischen Erkrankungen– schließlich spielen auch dort unterdrückte Aggressionen eine tragende Rolle, und Tim K. wurde zuerst psychiatrisch behandelt – erfolgt, ist wohl meist schwerlich nachvollziehbar und bleibt rätselhaft, ein Geheimnis des Menschen, das wohl nie vollständig gelüftet werden kann, zumindest nicht von einer ausschließlich naturwissenschaftlich orientierten Forschung, die die gewachsene Persönlichkeit, die Umweltbeziehungen und Vorgeschichte negiert..

Zu der sozialen Kontrolle innerhalb der Familie kommt in Dörfern, Stadtteilen und kleineren Städten oft noch die soziale Kontrolle des weiteren Umfeldes hinzu. Nach den üblichen Maßstäben und den verbreiteten Werten haben das Kind und der Heranwachsende zu funktionieren, in einem Schaffe-Schaffe-Ländle – für Tim nach dem Vorbild des Vaters, eines sozialen Aufsteigers, der ansonsten deswegen vermutlich wenig Zeit für seinen Sohn und seine Frau hatte – Fleiß, Ordnung, Sauberkeit und Leistung zu erbringen, damit alles normal ist.

Ebenso gehört es für einen Jungen dazu, sich als Mann bei den Mädchen zu beweisen. Dort sah er sich wohl zusätzlich gedemütigt. Vielleicht und/oder als Rache, stellvertretend für die Mutter und die beneidete jüngere Schwester, schoss er deswegen hauptsächlich auf Mädchen. Der Vater war wohl innerlich viel zu weit entfernt, um sich an den Männern zu rächen.

Wie oben angekündigt, bieten in meinen Augen derartige Extremfälle einen guten Zugang zu einem gesellschaftlichen Geschehen, in dem sich in geringerem Maße parallele Konflikte widerspiegeln. Diese führen oft zu Erkrankungen, wie das Wort Kränkung besagt.

Früher machte ich Gruppentherapien. Dabei ist es mir dreimal passiert, daß angstkranke Frauen sagten „Ich versteh’ das nicht, ich bin so unsicher und ängstlich, und alle sagen mir, ich bin so sicher und souverän!“. Ich konnte ihnen normalerweise auch nichts ansehen, zu selbstbewusst traten sie auf und standen sozusagen ihren Mann im Beruf. Auf meine Frage hin „Was ist, wenn man es ihnen ansieht?“, kam regelmäßig im identischen Wortlaut die Antwort „Um Gottes willen, dann wäre ich völlig unten durch, das würde ausgenutzt!“ Die Angstkrankheit beinhaltet also, in einer Art kleinem Wahn zu leben, jeder sieht dem Kranken das Schlimmste an. Andere Angstkranke bestätigen mir, dass es sich bei ihnen ähnlich verhalte.

Deswegen müssen Angstkranke alles tun und enormen Aufwand betreiben, keine Schwächen zu zeigen, keinen Fehler zu machen, alle Erwartungen zu erfüllen, allen alles recht zu machen, dafür zu sorgen, dass keiner an ihnen etwas auszusetzen hat. Jedoch richten sie sich nicht nach den Anderen, sondern nach ihren eigenen verinnerlichten Bildern von den anderen, also nach sich selbst in den anderen. Die Aufrechterhaltung des Images, des guten Rufes und Eindruckes ist das Wichtigste und das Gegenteil wird gefürchtet. Das häufigste Wort bei Angstkranken ist „normal“ und ihre größte Angst ist, nicht normal zu sein, wobei sie selbst ihre Ängste als nicht normal erleben und, wie oben angeführt, ihre Bloßstellung fürchten. Die Angst wird also durch die gesellschaftlichen Maßstäbe der Normalität aufrechterhalten.

Angstinhalte können sein, etwa bei einer Frau, wenn sie sich erotisch attraktiv zurecht macht, andere könnten denken, sie sei flittchenhaft, beim Schwindel auf der Straße, andere denken, man sei betrunken, beim Schwitzen, andere denken, man habe Angst und Probleme, beim Körpergeruch, man sei unreinlich und eine Schlampe. Viele Angstkranke wissen sogar, was andere über sie denken. Ein Blick genügt. Sie sehen nicht, dass sie denken und glauben, was die anderen denken. Infolge der Ängste treten die Symptome oft erst auf, und in einem tragischen Kreislauf bestätigen sie sich, also etwa, Schwitzen aus der Angst vor dem Schwitzen, Erröten durch den Glauben des Ertapptseins und etwas Böses im Schilde zu führen, Schwindel im Angesicht des Spießrutenlaufes.

Angsterkrankungen sind das tägliche Brot einer jeden Arztpraxis. Da die Angst oft automatisch verdrängt wird, tritt meist mehr die körperliche Seite der Angst als Schwitzen, Magen-Darmstörungen, Herz- oder Lungenbeschwerden, Verspannungen und Schmerzen im Kopf oder Rücken, Blasenbeschwerden und vieles mehr in Erscheinung und über diese Beschwerden wird beim Arzt geklagt.

Der Grad dieser narzisstischen Wut und die zukünftige Form des Auslebens beziehungsweise der Entladung nach innen oder nach außen in Mord und Amok ist wohl in den seltensten Fällen in einer Art Frühwarnsystem zu erfassen, obwohl heftig danach gesucht wird. Zukünftige Amoktäter sind in ihrem Vorleben meist unauffällig und angepasst. Sie sind ja zum Funktionieren und zur Normalität erzogen. Androhungen werden selten ernst genommen, da die meisten Menschen Mordphantasien von sich selbst her kennen, und Sätze wie ”¦“den oder die würde ich am liebsten umbringen!“ weit verbreitet sind. Sie können auch der Aggressionsabfuhr und –minderung dienen. Das Frühwarnsystem würde nur zu einer vermehrten Kontrolle, eventuell einem ungerechtfertigten Kesseltreiben und zu einer Steigerung der Demütigung und narzisstischen Wut führen.

Besser wäre es, den Eltern in ihren Sorgen zu helfen, etwa als Beratungseinsätze auf Geburtsstationen, innerhalb der Familie, in Kindergärten durch Elternkurse. Bis zur Schule ist der Aufbau des Urvertrauens meist schon gelaufen. Aber das kostet, kurzfristig gesehen, Geld, wobei langfristig die Nachfolgekosten, etwa als Krankheiten und gesellschaftliches Versagen, um ein vielfaches höher sind. Aber an den Krankheiten verdient die immer mehr kommerzialisierte Medizinindustrie. Dass das Gesundheitswesen zunehmend Profitinteressen und der Technik ausgeliefert ist, wenig Raum für die heilende menschliche Begegnung bietet, halte ich für eine weitere Tragödie.

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